Iwan Wasow
Die Bulgarin und andere Novellen
Iwan Wasow

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Diado Jozo schaut ...

Wenn wir unserer Väter, unserer Großväter und Verwandten gedenken, die in die andere Welt hinübergegangen sind, vor der Befreiung unseres Vaterlandes, bevor die süßen Strahlen der Freiheit vor ihren Augen aufgeflammt, dann geht es uns oft durch den Sinn: wie groß wohl ihr Erstaunen und ihre Freude wäre, wenn sie durch irgendein Wunder vom ewigen Schlaf in ihren Gräbern erwachen, von dort aus auf die Erde zurückkehren und um sich schauen würden ... Wie betäubt würden sie sein von all dem, was ihnen im Leben unbekannt war und unwahrscheinlich vorgekommen sein würde. Wie fremd müßten sie sich nun darin fühlen!

Indessen sie werden nicht von den Toten auferstehen, diese unseligen Seelen unserer Verwandten, sie werden nicht auferstehen, um sich an den Wundern der Freiheit zu erfreuen, auf die wir mit unseren Augen gleichgültig blicken, und die sie nicht einmal zu ahnen wagten in ihren kühnsten Träumen ...

Nein! sie werden nicht auferstehen ... Keiner der Unsrigen ist ja von den Toten auferstanden.

Und dennoch gab es einen Menschen, der am Vorabend des Befreiungskrieges gestorben war und der auferstand ... nein ... der aber das Staunen des von neuem zum Leben Erwachenden empfinden konnte, der das befreite Bulgarien schaute, ohne die Enttäuschungen zu fühlen, die unser Anteil sind, die wir leben und sehen ...

Dieser Mensch war ein vierundachtzigjähriger Greis, Diado Jozo.

Er lebte in einem Gebirgsdorf, das aus ungefähr zwanzig Hütten bestand, die in der stillen Schlucht der Stara Planina oberhalb der Isker-KlissuraDie Stara Planina, oder der nordwestliche Teil des Balkangebirges; die Isker-Klissura heißt die Stromenge des Isker durch den Balkan; sie hat eine Länge von ungefähr siebzig Kilometern. Anmerk. der Übersetzerin. nisteten.

Dieser Diado Jozo, ein einfacher, aber geistig entwickelter Mensch, hatte das harte Leben eines Sklaven hinter sich, ein Leben voller Lasten, Schrecklichkeiten und Hoffnungslosigkeiten. Er hatte das Unglück, im sechsundvierzigsten Lebensjahre im heimatlichen Dorf plötzlich das Augenlicht zu verlieren, kurz vor dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges.

Er blieb am Leben, doch er starb bei Lebzeiten für die Welt, mit dem ungestillten, heimlichen Verlangen, das »Bulgarische«, wie er das freie Bulgarien nannte, zu sehen.

In seiner Seele lebten Bilder aus der dunkeln Vergangenheit. In seinem alten und doch frischen Gedächtnis wogten ganze Schwärme von Erinnerungen aus dem Sklavenleben, schreckliche und böse Erinnerungen. In seinen Gedanken sah er deutlich das, was er einst mit seinen Augen geschaut; in der Dunkelheit, die ihn umgab, sah er klar und deutlich die roten Fesse, Turbane, die Knuten ... wüste Türken mit wilden Gesichtern ... eine lange sklavische Nacht, ohne einen Schimmer von Freude und Hoffnung ... In ihr war er geboren, in ihr starb er.


In diese damals unzugängliche Balkan-Wüste gelangte der Widerhall des Krieges nur schwach. Die Kämpfe waren fast beendet, ohne daß er sich in der weltfernen Isker-Klissura durch das Echo des Kanonendonners bemerkbar gemacht.

Bulgarien ward befreit. Und auch Diado Jozo wurde frei ... man sagte es ihm damals.

Doch er war blind, er sah diese Freiheit nicht, er konnte sie auch nicht empfinden.

Die Freiheit lag für ihn in den Worten: Die Türken sind nicht mehr da! ...

Und er fühlte es, daß sie nicht mehr da waren.

Doch es verlangte ihn, das »Bulgarische« zu sehen, damit sich seine Seele erfreue.

An seinen schlichten Nachbarn, den Bauern, in ihren Gesprächen, ihren Gedanken, in den Kümmernissen des täglichen Lebens empfand er nichts besonders Neues. Immer dieselben Leute, dieselben Leidenschaften, derselbe Haß, dasselbe Elend wie früher. Er hörte in diesem weltentlegenen Erdwinkel denselben Lärm und Zank in der Schenke, denselben Dorfklatsch, dieselben Kämpfe mit den Bedürfnissen und der Natur.

»Wo ist denn das ›Bulgarische‹?« fragte er erstaunt, wenn er im Schatten der grünen, schiefgewachsenen Eichen saß und verträumt, mit leblosen Blicken in die Ferne schaute.

Wenn er das Augenlicht hätte wie ein Adler, würde er hinfliegen, um zu schauen, wie die neue Welt aussieht.

Das muß man sagen, jetzt sollte ich Augen haben! ... dachte er mit Bitterkeit.

Das freie Bulgarien zu sehen, war ein Wunsch, der ihn nie verließ. Dieser Gedanke schob alle anderen in den Hintergrund. Der Wirrwarr des Lebens, das ihn umgab, ließ ihn gleichgültig, er nahm keinen Anteil an ihm ... alles darin war so wenig bedeutend, so nichtig und gewöhnlich!

Er fürchtete zu sterben, bevor er verstehen würde, was das »Bulgarische« ist, und mehr noch fürchtete er, vor Altersschwäche die Vernunft zu verlieren, bevor er dieses wunderbare Etwas kennen gelernt hätte ...


Einmal – im fünften Jahre nach der Befreiung – verbreitete sich im Dorf – wer weiß auf welche Art – die Nachricht, daß der Vorsteher der Okolija kommen sollte.

Die Nachricht brachte Leben in das Dorf.

Auch das arme Herz Diado Jozos schlug stärker, seine Seele wiegte sich in einem süßen Rausche, wie er ihn bis dahin nie gekannt ...

Jetzt sollte er schon wirklich das »Bulgarische« sehen, er sollte diesen Vorsteher kennen lernen! ...

Er fragte nach allen Seiten hin, um sich einen Begriff zu machen, was das für ein großer Mann sei. Weltgewandtere Bauern sagten ihm, der Vorsteher sei etwa wie der Kaimakam, wie der Pascha.Pascha, unter anderen in der Türkei Titel der Mutessarive, das heißt Gouverneure zweiter Klasse. Anmerk. der Übersetzerin.

»Aber ein bulgarischer Pascha?« fragte er, atemlos vor Erregung.

»Ein bulgarischer, was für einer denn sonst? ...« antwortete man ihm.

»Ist das ein Unsriger? ... ein Bulgare?« fragte er wieder erstaunt.

»Möchtest du, daß es ein Türke sei, Diado Jozo?« entgegnen ihm teilnahmsvoll die Bauern, die schon längst Kreisvorsteher und noch anders größere Männer in Wratza, ihrer Kreisstadt – denn keiner von ihnen war bisher in Sofia gewesen – gesehen haben.

Doch Diado Jozo begnügt sich mit dieser Antwort nicht. Er fragt noch, wie der Vorsteher gekleidet sei ... wie er gehe ... ob er einen Säbel trage? ...

Man antwortet ihm: »Ja, er trägt einen Säbel.«

Und er seufzt vor Freude.

Ich werde ihn sehen, sobald er kommt ... denkt sein alter, zitternder Kopf.


Der Vorsteher kam und stieg bei Denko ab.

Denkos Hütte war sozusagen die anständigste im Dorf. Sie war einstöckig, mit Ton bestrichen, hatte kleine Fenster, von denen eins sogar mit Vorhängen versehen war ... eine kleine, schmale Treppe führte von außen hinein. Diese Hütte war vom Dorf für den Empfang des hohen Gastes bestimmt.

Auch Diado Jozo eilte nach Denkos Hütte, klopfte mit dem Stock an das geflochtene Tor und rief: »Denko, ist der Gast hier?«

Als Denko ihn sah, umwölkte sich seine Stirn.

»Er ist hier, Diado Jozo. Warum kommst du her? ... Der Vorsteher ist müde ... laß ihn jetzt in Ruhe.«

»Aber sage ihm doch, er möge nur für einen Augenblick herauskommen!« erwidert der Greis und stößt mit seinem Stock auf dem Hof herum, denn er strebt der Treppe zu, die zu dem niederen Stockwerk führt.

»Warum bist du so eigensinnig? ... Für wen und wozu suchst du den Vorsteher?« fragt der Hauswirt.

»Für niemanden ... für mich selber ... nur so ... Sage ihm, Diado Jozo, der Blinde will ihn sehen ...«

»Ihn sehen?« lächelt Denko bitter und sagt: »Du wirst ihn so sehen, wie du dein Gesicht im Brunnen stehst.«

Aber der Greis beharrt bei seinem Willen. Er stößt mit dem Stock schon auf der ersten Treppenstufe herum, und sein alter Kopf zittert.

Der Bauer ging zum Vorsteher, um ihn zu benachrichtigen, daß ein blinder und kindischer Greis ihn sprechen möchte.

»In welcher Angelegenheit?« fragt der Vorsteher.

Und als ihm Denko berichtet hat, fügt er hinzu: »Um mich zu sehen? ... Ein Blinder, sagst du?«

»Er ist blind seit fünf, sechs Jahren ...«

Und er erzählt, wie Diado Jozo unerwartet das Augenlicht verloren habe, gerade als die »Brüderchen« kamen.

»Er war ein ziemlich vernünftiger und gescheiter Mensch ...« setzt Denko hinzu – »aber die Hand Gottes hat ihn getroffen, und wer weiß aus welchem Grund ... Jetzt schaut er, aber sieht nicht ... Es ist so, als wäre er tot ... Warum Gott ihn nicht zu sich nimmt? ... Es ist gut, daß er ein kleines Vermögen hat ... eine Wirtschaft, Vieh ... so pflegen ihn der Sohn, die Schwiegertochter. Und sie pflegen ihn gut.«

Das ist sonderbar ... dachte der Vorsteher. »Er mag kommen. Nein ... warte ... ich gehe selbst ...«

Und er ging in den Flur und die Treppe hinab.

An den Fußtritten erkannte es Diado Jozo: er ist es, der bulgarische Pascha.

Der Beamte erblickte vor sich einen weißbärtigen Greis von gesundem Aussehen und kräftigem, dunklem Gesicht, in einem abgerissenen Besramnik. Diado Jozo zitterte an allen Gliedern. In ehrerbietiger Haltung stand er da, das weißhaarige Haupt gebeugt.

»Was willst du denn, Diado?« fragte der Vorsteher.

Der Greis hob das Haupt und richtete seine toten, unbeweglichen Augen auf den Sprechenden. Nur die Muskeln seines kräftigen Angesichts erzitterten nervös.

»Seid Ihr es, Euer Liebden?«

»Ich bin es, Diado...«

»Der Pascha?«

»Er selbst ...« sagte der Vorsteher und lächelte.

Der Greis näherte sich ihm, steckte die Mütze unter den linken Arm, nahm den Arm des Vorstehers, befühlte den Tuchärmel, berührte die messingenen Knöpfe auf der Brust, die Achselbänder, die silbernen Epauletten, er hob sich sogar auf den Fußspitzen und küßte sie.

»Gott! ... ich habe gesehen!« sagte der Greis, indem er sich bekreuzte und mit dem Ärmel die Tränen wegwischte, die in seinen abgestorbenen Augen blitzten.

Dann verbeugte er sich tief und sagte: »Jetzt verzeih mir, Söhnchen, daß ich dich bemüht habe ...«

Und indem er mit seinem Stock den Weg suchte, entfernte er sich, ohne den Kopf zu bedecken.


Dann kamen für ihn einförmige Tage ohne Licht, ein ewiges Dunkel, in dem der einzige helle Strahl dieses momentane Sehen war: der bulgarische Vorsteher ... der Pascha!

Dem Greis schien es, als hätte er nach fünf Jahren für einen einzigen Augenblick wieder die Sehkraft erlangt und das »Bulgarische« erblickt ... ein Schimmer des »Bulgarischen« ... und das hatte ihn völlig überzeugt, daß die Türken nicht mehr da waren.

Außer diesem Ereignis blieb alles beim alten: wie früher traf er in der Schenke dieselben Bauern, hörte denselben Zank und denselben Klatsch. Das Leben um ihn rauschte wie ehedem, mit dem gleichen Zwang, mit den gleichen Mühen, kleinen Kämpfen, an denen er keinen Anteil nahm ... sie waren fremd für ihn, er war ihnen fremd!

Eine einzige Freude aber blieb ihm und versüßte sein blindes Dasein: die Gewißheit, daß Bulgarien frei war. Und wenn er manchmal Betrachtungen anstellte über die Gehässigkeiten und gegenseitigen Verfolgungen im Ort, verwunderte er sich, daß sich die Leute das Leben vergiften, während sie sich vielmehr freuen und glücklich fühlen sollten, daß das »Bulgarische« frei ist! ... Wo sie nur die Augen haben? ... Selig sollten sie sein! ...

Man sollte meinen, sie seien blind und ich sehend ... dachte er.

Und er pflegte unter den Eichen zu sitzen, zu horchen, wie in der Tiefe der Isker rauscht, und dachte, daß der Isker, der aus so weiter Ferne herkommt, weit größere Dinge gesehen hat als er, und daran erfreute er sich ...

So verging die Zeit.

Eines Tages fing das Herz Diado Jozos unter dem Einfluß einer neuen Rührung stärker an zu schlagen. Zum Osterurlaub kam ein Kavallerist, der einzige Soldat des Dorfes.

»Wie ist er gekommen? ... In militärischer Kleidung?« fragt Diado Jozo, und Erregung bebt in seiner Stimme.

»In Uniform ...« antwortet man ihm.

»Mit einem Säbel?«

»Du wirst schon hören, Diado Jozo, wie er mit ihm klirrt!«

Der Greis eilt zu dem Sohne Nikolas.

»He, Soldat! ... bist du hier?«

»Und was willst du, Jozo?« fragt der alte Kola

»He, wo ist der Krieger? ... Ich will ihn sehen!«

Kola rief seinen Sohn, damit Diado Jozo ihn sehe, und lächelte befriedigt.

Der Krieger kam.

Der Greis erkannte ihn am Säbel, der auf den Steinen klirrten. Er näherte sich ihm und drückte die Hand, die ihm der Soldat fröhlich reichte. Alsdann befühlte er den dicken Mantel, die Knöpfe, die Soldatenmütze, erfaßte den Säbel und küßte ihn.

Er richtete auf den jungen Burschen die leblosen Augen in dem staunenden Gesicht, über die zwei Tränen rollten.

»So haben wir jetzt bulgarisches Militär?« fragte er, im Glücksgefühl erzitternd.

»Wir haben es, Diado Jozo ... Soldaten und Kapitäne und unseren Fürsten ...« antwortet der Soldat stolz.

»Und wird er nicht einmal herkommen?«

»Wer? . .. der Fürst?«

Und der Soldat und Kola lachen über die Einfältigkeit Diado Jozos.

Und Diado fragt eine ganze Stunde lang nach dem bulgarischen Palais in Sofia, nach den bulgarischen Geschützen und nach allem ... Und wie er die Wunder vernimmt, die ihm der Krieger erzählt, ist es ihm, als ginge in den Tiefen seiner Seele eine Sonne auf und beleuchte alles rings um ihn ... als sähe er grüne Berge und nackte Gipfel ... Adler auf denselben rastend und die ganze wunderbar schöne Welt!

Ach! jetzt brauchte ich meine Augen!. .. denkt der Greis zornig.

leer

Lange Zeit hindurch lebte Diado Jozo unter diesen neuen Eindrücken.

Nach dem abgelegenen Dörfchen kam niemand von draußen, aus dem neuen Bulgarien, um einen neuen

Strom edler Erregungen in seine Seele zu gießen. Keine Offenbarung, die den Alten, wenn auch nur von weitem, über das überschäumende Leben Bulgariens belehrt hätte, unterbrach das einförmige Vegetieren des Ortes.

Die politischen Ereignisse, die einander folgten und ganz Bulgarien bis in die tiefsten Tiefen erschütterten, verliefen ohne Widerhall im Dörfchen zu wecken. Zeitungen gelangten nicht in die wenigen armen Hütten, und selbst, wenn sie dahin gelangt wären, hätten sich keine Leser gefunden ... Einen Lehrer gab es hier nicht, denn es gab keine Schule, es gab keinen Popen, da es keine Kirche gab, und es gab keinen Ortsvorsteher, weil es keine Gemeinde gab. Der Winter mit seinem Schnee und Kot brachte für ganze sieben Monate die sowieso schon erschwerte Verbindung mit der Welt gänzlich ins Stocken ... Selbst der serbische Krieg, in dem der einzige Soldat des Ortes gefallen war, ließ sich doch nur schwach merken. Es gelangten wohl dunkle und unklare Gerüchte in das Dorf, daß irgendwo, dort ... hinter den Bergen etwas geschähe, aber was – niemand wußte es.

Die Tage Diado Jozos schlichen in Unkenntnis der Weltereignisse dahin, in der ungestörten Ruhe seines Dörfchens.

Langsam bemächtigte sich seiner eine Teilnahmslosigkeit gegen alles, was ihn umgab, er verfiel in einen allerdings ungefährlichen Zustand, der ihn jedoch an die Grenze brachte, wo der Greis kindisch wird. Ganze Stunden, ja ganze Tage lang pflegte er im Schatten der Eichen zu sitzen, in Gedanken versunken; die leblosen Augen ziellos vor sich hin gerichtet, horchte er auf das dumpfe Brausen des Isker.

Es sah so aus, als könne nichts mehr aus der Außenwelt zu ihm gelangen, das imstande wäre, seine Seele diesem langsamen und stillen Hinsterben zu entreißen.

Indessen, noch einmal sollte er zum Leben erwachen ...

Es verbreitete sich die Kunde, daß man über die Iskerschlucht die Eisenbahn leiten wolle. Die Ingenieure hatten schon mit den Messungen angefangen.

Diese Nachricht gelangte auch zu Diado Jozos Ohren, und wie mit einem Hammer zerschlug sie seine geistige Lethargie.

In den Tiefen seines Gedächtnisses erwachte es wie eine traumhafte Erinnerung: einst, einst hatte er von einem Bauern aus Wratza, dem Tschorbadschija Mano, gehört, daß die Herren, die reichen, und die französischen Feldmesser sagten, eine Eisenbahn lasse sich nicht über diese Schlucht leiten ... dazu brauchte man Millionen und aber Millionen, und auch die wären hinausgeworfen.

»Wie? ... Eine bulgarische Eisenbahn?«

Er wollte es nicht glauben.

Eine Eisenbahn über diese Schlucht, durch diese steilen Berge, wo das Pferd nicht einmal Platz findet, die Hufe aufzusetzen, durch die Felsen, wo die wilde Ziege mit Mühe auf den Abhängen Fuß faßt? ...

»Ein großer Staat hatte es nicht vermocht ... sollten wir ...?«

Doch eines Tages brachte man ihm die Nachricht, daß die Arbeiten an der Schienenlegung über die Schlucht bereits angefangen hätten. Die Bauern hatten bei dem Bau Beschäftigung gefunden und gingen täglich hinab an den Isker.

Der Greis staunte ...

Irgendwo müssen sich also noch gelehrte Ingenieure gefunden haben... Die Welt ist groß ... »Sind es auch Franzosen?«

Man sagte ihm, es seien Bulgaren.Tatsächlich wurde der Plan dieser Eisenbahn von Ausländern und besonders Franzosen entworfen und der Bau von ihnen geleitet. Nur die Beaufsichtigung der Arbeiten wurde durch bulgarische Ingenieure geführt. Der Patriotismus des Verfassers verlangte eine andere Darstellung. Anmerk. der Übersetzerin.]

Der Greis staunte immer mehr.

»Wie? ... Die Unsrigen? ... Bulgarische Ingenieure? ... Dort, wo die Herren und die gelehrten Franzosen behaupten, es wäre unmöglich... So haben wir gelehrter Männer ... wir? ... Und woher diese Millionen, diese Tausende von Millionen, von denen Tschorbadschija Mano gesprochen?«

Jetzt stellte sich ihm das »Bulgarische« als etwas Großes, Mächtiges, Unfaßbares dar. Sein armer Geist konnte diese Größe nicht ermessen. Bisher beschränkten sich die Sinnbilder des »Bulgarischen« auf die Epauletten des Kreisvorstehers und den Säbel des Kriegers, die er berührt und geküßt hatte.

Und seine Seele entbrannte in Stolz; die bulgarische Hand durchschneidet Berge, der bulgarische Geist ersinnt Werke, die die ganze Welt in Staunen und Bewunderung versetzen werden?!...

Und als er den ersten Donner der Felsen, die von den Minen in den Abgrund gesprengt wurden, vernahm, wischte er sich die Tränen aus den Augen.

Seit jener Zeit war sein Lieblingsaufenthalt auf einem Felsen, der fünfzig Schritte von seiner Wirtschaft über dem tiefen Tal des Iser hing. Hier hallte der Schall der Arbeiten übermächtig wider.

Von früh bis spät stand er auf jenem Felsen, vertieft in das Anhören der Rufe, Befehle, des Pochens, der Schläge der Keilhauen gegen den Erdboden, das Rollen der Wagen, versunken in den verwirrenden Lärm der großen Arbeiten dieses Riesenwerkes.

Die Eisenbahn ward vollendet und in Betrieb gesetzt. Mit Herzklopfen vernahm Diado Jozo den ersten Pfiff der Lokomotive und das Krachen der Räder auf den Schienen.

Es pfiff und krachte die »bulgarische Eisenbahn«.

Diado war wie neubelebt, wie neugeboren.

Sobald die Stunde, in welcher der Zug durchging, sich näherte, ging er regelmäßig auf den Felsen, um das Pfeifen der Lokomotive zu hören, und um zu »schauen«, wie die bulgarische Eisenbahn durch die Schlucht sauste.

Die Eisenbahn verband sich in seinen Gedanken mit dem freien Bulgarien. Ihr Gedonner sprach ihm deutlich von den neuen »bulgarischen« Zeiten.

Nichts im Dorfe sprach ihm davon, nichts reizte ihn sonst, nur der Pfiff der Lokomotive weckte und belebte ihn.

Sobald die Zeit des Pfeifens kam, verließ er alles und ging auf den Felsen, um zu »schauen« ...

Die Reisenden, die an die Fenster gelehnt die malerischen Bilder des Durchbruches bewunderten, bemerkten mit Erstaunen einen Greis, der, auf einem Felsen stehend, seine Mütze gegen sie schwenkte.

Die Bauern waren daran gewöhnt, den Alten alltäglich auf dem Felsen zu sehen, und sagten gutmütig: »Diado Jozo schaut ...«

Dieser bei Lebzeiten für die Welt gestorbene Mensch stand von den Toten auf nur bei dem Herannahen des Zuges und hatte eine kindliche Freude an seinem Brausen. Die Eisenbahn war es schließlich allein, die für ihn das freie Bulgarien darstellte ... Da er nie im Leben mit eigenen Augen einen Eisenbahnzug gesehen, stellte sich seine Einbildungskraft ihn etwa als einen beflügelten Drachen vor, dessen Rachen Feuer speit, der heult, schreit, mit unfaßbarer Kraft und Schnelligkeit durch die Berge saust und die Macht, den Ruhm, den Fortschritt Bulgariens verkündet.

Oftmals fragte irgendein neuer Zugführer, weshalb er immer zu derselben Stunde einen Greis auf dem Felsen sehe, der gegen den durcheilenden Zug die Mütze schwenke – fragte auf der nächsten Station die in den Wagen der dritten Klasse steigenden Bauern: »Was ist das für ein Mensch, der dort auf dem Felsen die Mütze schwenkt? ... Ist es ein Verrückter?«

Und die Bauern antworten gewöhnlich: »Durchaus nicht ... Es ist Diado Jozo, der schaut ...«


Eines Abends kehrte Jozo nicht nach Hause zurück.

Sofort am frühen Morgen des folgenden Tages ging sein Sohn aus ihn suchen; er wandte sich geradeswegs nach den Felsen. Er dachte, der Greis wäre in den Abgrund gestürzt.

Doch er fand ihn tot mit der Mütze in der Hand.

Jozo starb, indem er das freie Bulgarien grüßte ...

Ende.


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