Iwan Wasow
Die Bulgarin und andere Novellen
Iwan Wasow

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Paul Fertig.

Alle in Hissaria kannten ihn.

Er ging neuankommenden Gästen bis zu dem alten römischen Festungstor entgegen und begrüßte sie freudig mit Sprüngen und lustigen Witzen. Er belustigte sie auch nachher, so gut er konnte.

Darum kannten alle Paul Fertig, mochten ihn gut leiden und gaben ihm Trinkgeld.

Paul Fertig war ein achtzehn- oder zwanzigjähriger Jüngling. Er war schwachsinnig, halb verrückt, unschädlich, immer im Schuß, oftmals witzig und stets vergnügt. Sein abgerissener Anzug und sein ganzes Aussehen erweckten Mitleid.

In seinem ungewaschenen, schmalen Gesicht glänzten zwei große, schwarze Augen, in denen beständig der Ausdruck einer durch nichts begründeten Freude lag. Er war vergnügt ohne alle Ursache, zu Scherzen aufgelegt, stets bereit, etwas Eigenartiges, Unerwartetes, Dummes oder sehr Tiefes zu sagen; stets bereit zu allen Dienstleistungen, mochten sie sein, welcher Art sie wollten, stets aufmerksam, wenn man seiner bedurfte, stets bei der Hand, um eine Überraschung zu bereiten und zum Lachen zu bringen – ward er bald der Liebling der in Hissaria weilenden Badegäste. Sein knabenhaftes Geschwätz, seine wunderlichen Plaudereien, die oft eine beißende Ironie bargen, belustigten und gingen von Mund zu Mund, belebten die Zusammenkünfte und Unterhaltungen ...

Ein besonderer Gegenstand seiner Anzüglichkeiten waren junge und schöne Damen. Für die »leichtsinnige« Damenwelt war Paul besonders gefährlich ... Er witterte und beförderte ans Tageslicht alle zärtlichen Idyllen, die sich in Hissaria abspielten und Geheimnis bleiben sollten, und die seine dummdreiste, lange Zunge zur Beute ahnungsfähiger Geister machte.

Paul Fertig stammte aus dem kleinen Städtchen S..., wo er nur die Mutter, ein im tiefsten Elend lebendes Weib, das ihn dem Schicksal überlassen, besaß. Er hatte auch einen Bruder, der indessen verschollen war.

Übrigens lebte Paul Fertig von den Trinkgeldern, die er für seine Sprünge und für die Belustigung der Badegäste erhielt. Er trug ihnen die Badewäsche, ging zu Fuß nach Karlow, um Besorgungen zu machen, begrüßte die Neuankommenden und verabschiedete die Abreisenden ... er lief, bediente, sang, schlug Purzelbäume, stand auf dem Kopf, und Nickelmünzen, halbe Frankstücke und oft auch Franken fielen in seine Mütze.

Paul Fertig besaß die besondere Gabe, den Gang des Zuges nachzuahmen. Nachdem er »Fertig« gerufen hatte (zu rumelischen Zeiten gebrauchten die Kondukteure diesen deutschen Ausdruck), pfiff er durch die Finger und setzte sich in Bewegung, zuerst langsam, dann immer schneller, wobei er die Laute »Schuch-schuch, schuch-schuch«, die das Schnauben der Lokomotive nachmachen sollten, ausstieß. Alsdann wurde der Lauf und das Schnauben allmählich geringer, und der Zug langte auf der Station an ...

Kein Wagen mit Badegästen verließ Hissaria ohne Verabschiedung durch Paul, der im Augenblick, da sich die Pferde in Bewegung setzten, die Mütze den Abfahrenden hinhielt und seinen Lieblingsruf »Fertig« schrie.

Dies zur Erklärung, warum man Paul »Fertig« nannte.

Indessen, trotz der nie aufhörenden Trinkgelder, ging Paul immer abgerissen, barfüßig, hungrig und gab keinen Heller aus. Sein zerrissener Anzug war erbettelt, und den Hunger stillte er mit spärlichen Abfällen von fremden Tischen. Er schlief am Ende des Dorfes in einer Hütte, die aus Pfählen, Brettern, Blechstücken und Maisstauden hergerichtet war. Manchmal nächtigte er auch unter den Ladentüren, in einen zerrissenen Kittel eingehüllt, ohne Bedürfnisse, ohne Sorgen, abgemagert, schmutzig, zufrieden wie ein zynischer Philosoph.

Man wunderte sich über seine Sparsamkeit und sein Zigeunerleben. Manche dachten, daß er das Geld irgendwo einnähe oder in der Erde vergrabe – doch waren das nur Vermutungen ... Für alle war es jedoch ein Rätsel, wo er es hintat ...

Oftmals fragte man ihn danach.

»Fertig! ... was machst du mit dem Geld? ... Hebst du es für deine zukünftige Frau auf? ... Wo steckst du's denn hin?«

»Dorthin! zum Herrgott schicke ich die Napoleons ... Juchhe! es lebe das Schweizer Königreich! ... Fertig!«

Der Name Schweiz bildete für ihn den ganzen Vorrat seiner Kenntnisse der alt- und neuweltlichen Geographie. In seinem Kopfe war dieser Name eng verbunden mit dem Begriff alles dessen, was schön, edel und gelehrt ist in der Welt.

Wenn irgendein schönes Mädchen oder eine schöne Dame vorbeiging, rief er: »Eine echte Schweizerin! ... Ach, ach, wie schön sie sind! ...«, was das Gesicht der Vorübergehenden erröten machte.

Auch ich hatte die Ehre, bei Paul gern gesehen zu sein, weshalb er auch mich einen Schweizer nannte. Er gab mir diesen Titel, wenn er – an mir vorübergehend – die Mütze hinhielt ...

Doch oftmals, wenn er uns mit seinen Dummheiten und Torheiten belustigte, erfaßte mich das Gefühl unwillkürlicher Trauer. Dieser zwanzigjährige Junge, ein Narr, von der Natur geistig vernachlässigt, der Spott aller Faulenzer und Nichtsnutze, stand vor mir da wie ein schmerzliches, ungelöstes Rätsel, wie ein Vorwurf gegen die Heiterkeit, die das allergrößte Unglück, das die menschliche Seele treffen kann, hervorrief. Und diese arme, kranke Seele Pauls hatte ihr Gleichgewicht für immer verloren, da sie der Stütze, die der Verstand gibt, beraubt war, beraubt aller Lichtstrahlen, in Dunkel getaucht ... sie war nur fähig, zu lachen und Gelächter hervorzurufen, das nicht einmal dem Mitleid erlaubte, sich zu offenbaren.

Fühlte er sich glücklich oder unglücklich? ...

Lebten in der Tiefe dieser Seele außer der unbewußten Neigung zu groben Scherzen, außer niedrigen Anzeichen tierischer Habsucht, lebten in ihr höhere, menschliche Gefühle? ... Das war nicht zu erraten. Wahrscheinlich waren sie nicht vorhanden. War er sich der Lage, in der er sich befand, bewußt? ... Litt er darunter? ... Denn dies Bewußtsein schien dazusein. Aber er war ja immer vergnügt und heiter! Er war immer lustig und zu ewigen Narreteien und Possenreißereien verdammt, verdammt, dem Gelächter und der Spottsucht der Menschen Nahrung zu geben, und das alles, um ein Trinkgeld zu verdienen, von dem er nicht einmal Gebrauch machte ...

Es ereignete sich indessen etwas, was ein helles Licht auf diese rätselhafte Seele warf und Paul in meinen Augen hob.

Einmal stand ich in der Tür eines Kaffeehauses und rauchte einen Papyros. Ich hatte die Augen auf altertümliche Mauern gerichtet, die am Himmel durch die Zeit zerrissene Umrisse hinzeichneten, und von denen der Geist vergangener Zeitalter und ergrauten Altertums auf mich herabwehte.

Plötzlich hörte ich die lustige, lachende Stimme Pauls.

»Wen suchst du, Paul?«

»Dich, aber ich sehe mich um, ob sich hier nicht noch ein zweiter befindet ...«

»Warum?«

»Damit's keinen Dummkopf hier gibt ...«

»Fürchte dich nicht! ... Hier sind nur zwei Schweizer, du und ich ...« sagte ich lächelnd.

Paul fing an, in der inneren Brusttasche des abgerissenen Rockes etwas zu suchen.

»Kannst du à la francaà la franca = mit lateinischen Buchstaben, in diesem Fall französisch. Anmerk. der Übersetzerin. schreiben?« ... und er streckte mir einen grauen Briefumschlag ohne Aufschrift entgegen.

»Was ist das für ein Brief?«

»Nach dem Schweizer Königreiche. Fertig!« und er vollführte einen Sprung.

Er reichte mir den Umschlag.

»Schreibe hier à la franca den Namen meines Bruders«

»Gut, aber wohin soll der Brief gehen?«

»Nach dem Schweizer Königreiche. Der lahme Matin hat ihn inwendig geschrieben, aber außen kann er es nicht ... Ein Krautkopf!«

»Ah! ... nach der Schweiz? ... Ist dein Bruder dort? ...« fragte ich, und plötzlich wurde es mir klar, warum die Schweiz so hoch in Pauls armem Gehirn stand.

»In welcher Stadt?« fragte ich weiter.

»Schreib Freiburg!«

Ich erfüllte seinen Wunsch und schrieb die Adresse in französischer Sprache. Es wunderte mich, wie Paul sich dieselbe so gut merken und sie so gut aussprechen konnte.

»Ach! ... Du bist ein echter Schweizer ...« lobte er mich.

»Was macht dein Bruder dort?«

»Na ... er lernt in der Schule ...«

»Was lernt er denn?«

»Doktor ...«

»Das ist sehr gut.«

»In diesem Jahre wird er Doktor und kommt dann zurück, um die Menschen gesund zu machen. Jeden Kranken wird er kurieren ...«

Darauf schlug er zwei Purzelbäume, erfaßte den Brief und wollte gehen.

»Warte ... wohin läufst du?«

Er wies auf das gegenüberliegende Kaffeehaus. Auf einer Veranda saßen einige Damen und Herren.

»Ich muß hin, den Zug nach Philippopel abgehen zu lassen. Fertig!« Und sein bleiches Antlitz lächelte glücklich, und in seinen Augen glänzte freudige Ungeduld.

»Was schickst du deinem Bruder? ... Grüße?«

»Grüße! Aber Grüße allein taugen nichts ...«

»Und wer hilft deinem Bruder?«

»He?«

»Hat dein Bruder Geld?«

»Ach, woher denn!«

»Er hat vielleicht ein Stipendium bekommen?«

»Was ist das?«

»Gibt ihm der Staat Geld?«

»Der liebe Gott!«

»Wieso denn der liebe Gott?«

»Nicht der liebe Gott ... aber es ist so, als ob ...!«

Ich sah ihn erstaunt an, und er rief: »Fertig!«

»Paul, warum antwortest du nicht vernünftig ... warum stellst du dich so dumm?« schalt ich ihn.

»Habe ich es dir nicht gesagt? ... Fertig ... Fertig ... Fertig! ... Schuch-schuch, schuch-schuch!«

Und er lief zu der gegenübersitzenden Gesellschaft.

Abends traf ich mit dem Kaufmann Matin, einem Verwandten Pauls, zusammen. Ich fragte ihn, ob ich das verdrehte Gerede Pauls richtig verstanden habe. Zuerst wollte Matin nicht mit der Sprache heraus, schließlich gab er mir Aufklärung.

»Er wird böse sein, denn er hat mir aufgetragen, das Geheimnis zu bewahren, um seinem Bruder keine Schande zu machen, aber Ihnen werde ich's sagen. Um die Wahrheit zu gestehen, unterhält er den Bruder schon seit zwei Jahren von der Bettelei, wie Sie sehen ... Der ältere Bruder hatte anfänglich Geld gehabt, aber es hat sich erschöpft, und er hätte das Studieren unterbrechen müssen ... Als Paul das erfuhr, sagte er: ›So darf es nicht sein! ... er muß vollenden, was er angefangen! ...‹ Er gibt keinen Heller aus, alles schickt er hin. Er plagt sich, springt von früh bis spät, und alles nur darum, um aus dem Bruder einen Menschen zu machen ... Brüderliche Liebe, Herr! Ein Narr, aber weit gewissenhafter als jene, die das vollkommene Bewußtsein ihrer Pflichten haben ...«

Diese Worte Matins wurden übertäubt von lautem Bravoklatschen und Gelächter, das aus dem anliegenden Kaffeehause drang, wo Paul tolle Purzelbäume schlug und auf den Händen, die nackten Füße nach oben, herumging ...


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