Iwan Wasow
Die Bulgarin und andere Novellen
Iwan Wasow

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In den Pirynen.

Schön sind unsere Pirynischen Gebirge.Der Pirynische Balkan im nördlichen Mazedonien, bulgarisch: Piryn-Planina, türkisch: Iryn-Piryn. Wie hoch die das ganze Jahr mit Schnee bedeckten Gipfel, wie grün die Täler, wie schaurig die Kiefernwälder, wie wunderbar die mannigfachen Schönheiten!

Im Sommer sind die weiten Almen angefüllt mit wollhaarigen Herden, fette Kühe erfüllen die Luft mit ihrem Gebrüll ... weidende Pferde mit glänzenden Mähnen wiehern, und in der Ferne läßt sich die Pfeife des Schäfers vernehmen, belebt mit ihrem Widerhall die Abgründe und die verlorenen Lichtungen, erheitert die Berge ...

Klare, kühle Bäche stürzen von steilen Felsabhängen, winden sich durch duftende Täler und rauschen so süß, so sanft, als ob sie sängen ...

Wenn du dort hinaufsteigst auf den schneeigen Gipfel, der hoch im Himmel steckt, wirst du weit und breit Berge und Täler, die Ströme Struma und Wardar,Flüsse in der Türkei, die ins Ägäische Meer münden. Struma (Karasu), der alte Strymon, entspringt auf dem Lülüngebirge, westlich von Sofia; Wardar kommt vom Schar Dagh (Skardus), einem Gebirgsstocke der westlichen Balkanhalbinsel. Anmerk. der Übersetzerin. die schöne mazedonische Landschaft und gen Süden hinter Berggipfeln das Weiße Meer erblicken, und hebst du die Augen in die Höh' – wirst du Gott sehen! ...

Wunderbar sind diese Pirynen samt ihren Wüsten!

Wir besuchen sie zur Winterszeit, da in ihnen Schneestürme und schreckliche Orkane herrschen, die wie die Hölle heulen und auf die Pfade und in die Schluchten tiefe Schneewehen schleudern.

Sie ähneln alsdann einem Königreich von Gräbern. Und hungrige, raubgierige Wölfe schleichen auf dem weißen Schnee dahin, nur ihre Augen glänzen in der Dunkelheit.

Wehe dem Reisenden, der des Nachts zur Zeit eines solchen Sturmgewitters irreginge! ...


Es war in einer solchen Nacht – am Vorabend von Christi Geburt, in dem Gebirgsdorfe R. In der Hütte des DiadoAus Achtung vor dem hohen Alter geben die Bulgaren jedem grauhaarigen Mann den Titel »Diado«. Dieses bedeutet etwa »Greis« oder »Großvater«, »Alter«. Da die beiden ersten Worte nicht passen, das dritte im Deutschen oftmals nichts mit Ehrfurcht zu tun hat, wird die bulgarische Benennung beibehalten. Anmerk. der Übersetzerin. Laska erwartete die Familie in großer Ungeduld die Rückkehr Klims. Klim, der Sohn des alten Laska, war des Morgens nach Mielnik gegangen, um Weihnachtsgeschenke für die Mutter, für seine junge Frau und das zweijährige Kind zu kaufen. Er sollte allerspätestens im Zwielicht wiederkommen, und mittlerweile war es dunkel geworden, die Nacht legte sich über die Erde, und noch war er nicht da ...

Wie drohend und schrecklich der Orkan rast! ... Er schlägt an die Fenster, rüttelt an den Türen und wirft das Strohdach auseinander ...

Man sollte meinen, Räuber hätten die Hütte angefallen und wollten mit Gewalt in sie eindringen.

Und den Hausbewohnern erstirbt das Herz in Angst und Unruhe. Bei jedem Schlag ans Fenster horcht die junge Frau auf, ob es nicht Klim ist, der heimkommt ...

Aber nein ... Klim kommt nicht, nur der Sturm wütet ... Und, o Gott! wie finster es ist ...

Das Kind, das sie in der Nähe des Herdes, auf dem das festtägliche Mahl kocht, niedergelegt hat, weint, erschreckt durch den rasenden Wind.

»Still, Kindchen ... still ... Väterchen wird kommen und dir Spielsachen mitbringen ...«

Das Kind beruhigt sich bei diesen Worten und richtet seine beglückten, wenn auch in Tränen schwimmenden Äuglein auf die Mutter und fragt: »Väterchen? ... Spielen?«

»Spielen ... spielen ... Ja, du wirst spielen, Gatschko ... Väterchen kommt ...«

Sie zeigt ihm die Tür, die unter den Druck des Sturmes bebt und ächzt.


Es seufzt im Winkel auch der vom Alter und von schweren Gedanken niedergedrückte Diado Laska. Er denkt an Klim und stöhnt dumpf, denn diese Verspätung prophezeit nichts Gutes. Die Berge sind voll von Raubtieren, die Nacht schrecklich, der Schneesturm hört nicht auf ... Haben denn nicht im vergangenen Winter Wölfe den Knecht Govanows aufgefressen ganz dicht am Dorfe, und lagen nicht drei andere vergraben unter Schneewehen? ... An blutgierigen Tieren fehlt's hier nicht ... in dieser elenden Türkei! ...

Laska verbirgt die Unruhe tief im Innern und wagt nicht einmal mehr zu stöhnen, um die weinende Schwiegertochter und das Kind nicht zu erschrecken.

»Was schluchzt ihr denn und weint?« fragt er düster, doch plötzlich fällt es ihm wie ein Stein auf die Brust, und er bricht ebenfalls in lautes Weinen aus ...

Es stieß jemand die Tür auf.

Die alte Laskowiza tritt herein. Sie kehrt aus der Kirche zurück, wo sie eine Kerze vor dem heiligen Min angezündet, damit dieser ihren Sohn vor Unglück behüte.

»Ist er noch nicht da?« fragt sie angstvoll.

Anstatt aller Antwort bricht das junge Weib in Tränen aus.

»Guter Gott, was geschieht nur mit dem Jungen?« stöhnt die Alte und tritt vor das Bild, vor dem ein Lämpchen brennt.

Und dort schlägt sie einmal um das andere mit der Stirn den Boden und hört nicht auf, sich zu bekreuzen. Und der Kessel mit dem Festessen brodelt lustig ... aber alle haben seiner vergessen.

Mitternacht naht heran ... Niemand wagt sich zu bewegen ...

Das Feuer fängt an zu erlöschen ... Der Kessel schweigt.

Die Hofpforte, die aufs Feld führt, steht offen ... die Hütte liegt am Ende des Dorfes ...

Der Sturmwind stöhnt unaufhörlich, als heulten die Wölfe ... Kalte Schauer durchfliegen alle ...

Gott ... Gott ... welch schreckliche Nacht! ...

Klim hatte sich unterwegs verirrt.

Der Schneesturm hatte alles verweht: Schluchten, Hügel, Wege und Felder. Bei schönem Wetter war er von Hause fortgegangen, und jetzt ...?

Ganze Stunden lang irrt er in den Pirynen herum und weiß nicht, wo er sich befindet, wohin er geht, und was ihm zustoßen wird ...

Eines nur wußte er, daß er weit, weit von seinem Dorfe war, in unbekannter Gebirgseinöde, im Königreich der reißenden Tiere und der Vernichtung.

Die Nacht ist hell vom Schnee, doch sein Auge bemerkt nichts, was Mut einflößt, nichts Menschenähnliches, nichts, was vom Leben spräche, weder Hütte noch Dorf noch Schutz. Sein Dorf liegt in einer Vertiefung, und selbst wenn er ihm nahe wäre, vermöchte er es nicht zu sehen. Die Berge ringsum öde, weiß, schrecklich, wie ein Toter, den man mit einem Leichentuch zugedeckt ...

Wohin geht er? ... Er läuft ins Ungewisse dahin, um nur nicht zu erstarren ... Der Orkan peitscht seinen Rücken, heult hinter ihm, klagt, stöhnt und lärmt wie die Teufel beim Hexensabbat ...

Klim läuft vorwärts, immer nur vorwärts, und die Wüste wird immer grenzenloser, grabähnlicher ...

Er weiß, daß die Seinigen seiner harren und sich martern! ... Gott, wird er es noch erleben, sie zu sehen?! ... Doch wer entkommt lebend aus diesem Abgrund?! ...

Er fühlt, daß er erstarrt, daß er bald erfrieren muß, begraben werden in einer Schneewehe ... Es wird nicht einmal jemand wissen, wo sich sein Grab befindet ...

Und sein Weib? ... Und Gatschko! ...

Der Orkan heulte schrecklich auf und unterbrach seine Betrachtungen.

Plötzlich bemerkt er in der Dunkelheit schwarze Schatten, die leise über den Schnee gleiten.

Was ist das? ... Wölfe? ...

Es ist ihrer eine ganze Herde, von rechts kommen sie auf ihn zu, heulend ...

Er stürzt zur Seite ... Die hungrigen Bestien eilen ihm nach mit wildem Geheul.

Wie lange er lief, er weiß es nicht mehr ... Vor ihm war es leer, nackt, eine einzige Schneefläche.

Plötzlich bemerkt Klim, daß etwas vor ihm flimmert ... helle Punkte glühen vor ihm auf. Die Herde hatte eine Abteilung ausgeschickt, um ihm den Weg abzuschneiden ... Er sieht einen schrecklichen, uuvermeidlichen Tod vor sich ...

Da stürzt er wie rasend in einer neuen Richtung nach links ... einen steilen Abhang hinab, die Wölfe hinter ihm her ...

Zweimal verwickelt er sich in seinen langen Gurt, der aufgebunden hinter ihm herschleppt, und fällt.

Als er unten zur Besinnung kommt, bemerkt Klim mit Freude, daß er sich in einem Dorf befindet ... Was für eines es ist, ein pomakischesPomaken – zum Islam übergetretene Bulgaren, besonders im Rhobopegebirge. Anmerk. der Übersetzerin. oder christliches, daran denkt er nicht einmal, denn die Raubtiere setzen ihm nach, folgen ihm auf den Fersen ... Er stürzt durch das erste Hoftor, das augenscheinlich der Sturm geöffnet, und läuft auf das Fenster zu, hinter dem noch ein Licht brennt.

Und die Wölfe immer hinter ihm her ...

Klim stößt heftig die Tür auf und stürzt in eine unbekannte Hütte ...

Er atmet auf ... Eine bulgarische, christliche Hütte sieht er ... Heiligenbilder, vor ihnen eine brennende Lampe ... das flackernde Licht glimmt noch ... Aus dem Schatten springen ihm Leute entgegen ...

Erstaunt schaut er sich um, wo er sich befindet.

Und jetzt erkennt er, daß er in seiner eigenen Hütte ist.

Die Vorsehung leitete seine Schritte zum eigenen Herd, während er dachte, daß er sich in gerade entgegengesetzter Richtung befände.

»Väterchen! ... Weib! ... Steht auf!« ruft er, indem er die Tasche mit den Weihnachtsgeschenken abnimmt.

Wie irre schreien sie auf und stürzen auf ihn zu, ihn zu begrüßen.

»Söhnchen, wo bist du denn hingeraten in diesem schrecklichen Sturmwetter?« flüstert beinahe bewußtlos der Greis, und wie ein Kind weint er auf.

»Das Sturmwetter ist groß, aber Gott ist noch größer, Vater ... Kommt, kommt alle, gehen wir in die Kirche. Hört ihr das Schlagbrett nicht?«

In diesem Augenblick schwieg das Wetter, das Schlagbrett ließ sich vernehmen ...

Christus ist geboren! ...

Alsbald verließ die glückliche Familie die Hütte und ging nach dem Gotteshause.

Und der Kessel mit dem Essen begann wieder lustig am Feuer zu brodeln! ...


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