Iwan Wasow
Die Bulgarin und andere Novellen
Iwan Wasow

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Die Bulgarin.

Historische Episode.

1.

Am zwanzigsten Mai des Jahres 1876, um die Nachmittagszeit – an demselben Tage, an dem die Abteilung Botews im Balkangebirge zerschlagen und Botew selbst gefallen war, getroffen von einer Kugel der tscherkessischen Bande, unter Anführung des raubgierigen Dschambalas – stand auf dem linken Ufer des Isker,Isker, ehemals Oskos, einer der rechten Nebenflüsse der Donau in Bulgarien. Anmerk. der Übersetzerin. Lutibrod gegenüber, eine Schar Weiber aus diesem Dorfe. Sie warteten, bis die Reihe an sie kommen würde, sich im Kahne auf die andere Seite des Flusses übersetzen zu lassen.

Die meisten von ihnen wußten nicht, was um sie her geschah, und so manche kümmerten sich auch nicht darum. Die lauten Durchmärsche der Abteilungen jenseits Wratza, die schon zwei Tage dauerten, gingen sie nichts an – und hinderten sie auch gar nicht, ihren wirtschaftlichen Angelegenheiten nachzugehen. In Wirklichkeit gab es dort nur lauter Weiber, denn die Männer wagten nicht, sich zu zeigen. Obwohl der Schauplatz der Kämpfe zwischen den Aufständischen und den tscherkessischen Banden weit entfernt lag von Lutibrod, war doch die Kunde von diesen Unruhen bis hierher gedrungen, und Schrecken erfaßte die Männer.

An diesem selben Tage waren einige türkische Soldaten ins Dorf gekommen, um verdächtige Leute abzufassen, und einige andere beaufsichtigten bei der Überfahrt diejenigen, die da ankamen und abfuhren.

In dem Augenblicke, von dem wir sprechen, befand sich das Boot auf dem gegenüberliegenden Ufer, und die Landfrauen erwarteten es mit Ungeduld, um hinüberzufahren. Endlich kehrte das Boot zurück. Der Fährmann – ein Lutibrodier – stützte es mit dem Ruder, damit das Wasser es nicht entführe, und stieg ans Ufer.

»Na, vorwärts, Weiber! ... Schneller!...«

Plötzlich erschienen zwei türkische Gendarmen zu Pferde. Sie sprangen schnell herunter und stießen die Weiber auseinander, um ins Boot zu gelangen. Der ältere der beiden, ein dicker Türke, knallte mit der Peitsche und fing an zu schimpfen: »Fort von hier, giaurische Schweine!... Macht, daß ihr fortkommt!...«

Die Weiber wichen zurück, um weiter zu warten.

»Weg von hier, Hexen!...« schrie der zweite, indem er auf die Frauen mit geschwungener Knute zusprang.

Kreischend fuhren sie nach allen Seiten auseinander.

Mittlerweile führte der Fährmann die Pferde ins Boot. Auch die Gendarmen stiegen ein, und der Dicke schrie wütend zum Fährmann gewandt: »Nicht eine einzige Hündin läßt du herein!... Weg von hier!...« schrie er zurück, wild drohend.

Die erschreckten Weiber fingen an, nach Hause zurückzugehen.

»Herr Offizier! ... Ich flehe dich an: warte!...« rief ein Landweib, das schnell von Tschelopjek geeilt kam.

Die Gendarmen sahen sie an.

»Was willst du, Alte? ...« fragte der Dicke bulgarisch.

Die Angekommene war ein sechzigjähriges Weib, hoch, knochig, mit männlichem Blick. Auf dem Arme trug sie ein in ein zerrissenes Leintuch eingewickeltes Kind.

»Erlaube mir hinüberzufahren, Herr Offizier!... Laß mich ins Boot, und Gott wird dich belohnen, wird dir und deinen Kindern Gesundheit schenken!...«

»Ach, du bist es, Ilitza?... Verrückte Giaurin!...«

Er erkannte sie, denn sie hatte ihm in Tschelopjek das Essen zubereitet.

»Ich bin es, Aga Hadschi-Hassan. Nimm mich mit, um dieses Kindes willen...«

»Wohin trägst du denn den Balg? ...«

»Das ist mein Enkelsohn, Hadschi. Die Mutter ist ihm gestorben ... er ist krank... ich trage ihn ins Monasterium ...«

»Und warum?...«

»Damit man Gebete spreche für seine Genesung...« sagte die Frau stehend, mit großer Angst im Blick.

Hadschi-Hassan nahm im Boote Platz, und der Fährmann ergriff das Ruder.

»Aga, um Gottes willen!... Tue dieses gute Werk, denke, daß auch du Kinder hast!... Ich werde auch für dich beten!...«

Der Türke dachte nach und sagte dann verächtlich: »Steig ein, Eselin!...«

Die Frau sprang schnell ins Boot und setzte sich neben den Fährmann. Dieser richtete es auf die trüben Fluten des Isker, der nach Regengüssen angeschwollen war. Die hinter den Bergfelsen untergehende Sonne vergoldete den Wasserspiegel mit ihren leuchtenden Strahlen.

2.

Das arme Weib hatte es tatsächlich eilig, ins Kloster zu gelangen. Auf ihrem Arm ruhte der seit zwei Wochen kranke, zweijährige Enkel, eine Waise. Schon seit vierzehn Tagen schwand er dahin. Nichts half, weder die Arzeneien der Weiber noch die Besprechungen ... selbst der Quacksalber in Wratza fand kein Mittel für ihn. Auch der Dorfpope hatte über ihm gebetet, nichts hat geholfen. Die letzte Hoffnung ist ihr in der Mutter Gottes geblieben.

»Man bete im Monasterium über ihm ... Mögen die Mönche beten ...« sagten ihr die Weiber im Dorfe fortwährend.

Als sie heute nachmittag das Kind angesehen hatte, erschrak sie ... Es lag da wie tot.

»Jetzt eile ... eile ... Vielleicht hilft uns die Mutter Gottes ...«

Und trotz des Unwetters machte sie sich auf den Weg nach dem Tscherepiser Monasterium der »Heiligsten Jungfrau«.

Als sie durch den Eichwald ging und auf den Isker zu hinabstieg, trat zwischen den Bäumen ein seltsam gekleideter Jüngling hervor, auf der Brust trug er Patronentaschen, ein Gewehr in der Hand. Sein Gesicht war bleich, abgespannt.

»Weib, gib mir Brot! ... Ich sterbe vor Hunger! ...« sagte er zu ihr, indem er ihr den Weg vertrat.

Sie erriet sofort, mit wem sie es zu tun hatte. Es war einer von jenen, denen sie auf den Fersen waren.

»Herr Gott!...« murmelte Ilitza erschrocken.

Sie durchsuchte ihren Beutel und bemerkte erst jetzt, daß sie vergessen hatte, Brot mitzunehmen ... nur trockene Brotrinden fanden sich auf dem Boden des Beutels. Sie gab sie ihm.

»Weib! ... Kann ich mich in diesem Dorfe verbergen? ...«

Wie könnte er sich in Tschelopjek verbergen!... Sie werden ihn sehen, ausliefern ... noch dazu in solcher Kleidung!...

»Unmöglich, mein Sohn, unmöglich ...« antwortete sie und schaute mitleidsvoll auf sein ermüdetes Gesicht, auf dem sich Verzweiflung malte. Sie sann eine Weile nach, dann sagte sie: »Versteck' dich, Sohn, mittlerweile im Walde ... hier kann jemand deiner ansichtig werden ... Diese Nacht erwarte mich . .. daß ich dich hier finde! ... Ich werde dir Brot und andere Kleidung bringen... in dieser kannst du dich nicht zeigen. Wir sind Christen ...« setzte sie hinzu.

Auf dem gramvollen Angesicht des Jünglings flammte Hoffnung auf.

»Ich werde hier warten, Mutter ... geh ... ich danke dir ...«

Sie sah, wie er hinkend im Walde verschwand. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Schnell eilte sie hinab und dachte: Ich muß dieses gute Werk verrichten... Der Unglückliche! wie er aussieht! ... Vielleicht wird Gott sich dafür erbarmen und mir das Kind retten ... Heiligste Jungfrau, hilf mir nur, daß ich das Kloster erreiche ... Guter Gott, beschütze ihn ... er ist doch ein Bulgare ... er hat sich aufgeopfert für den christlichen Glauben ...

Sie beschloß, den Oberen des Monasteriums, einen barmherzigen Greis und guten Bulgaren, ins Geheimnis zu ziehen, Bauernkleidung und Brot zu nehmen und nach Verrichtung der Gebete sofort zurückzukehren, um noch vor Anbruch der Dämmerung den Aufständischen zu finden.

Sie eilte weiter mit verdoppelter Kraft, um das Leben zweier menschlichen Wesen zu retten.

3.

Die Nacht hatte schon ihre schwarzen Flügel über dem Tscherepiser Monasterium ausgebreitet. Die Iskerschlucht schwieg ängstlich unter dem dunkeln Himmel, der Fluß rauschte eintönig und klagend in der Tiefe, um sich mit dumpfem Krachen bei der Biegung zwischen hoch über ihm hängenden Felsen zu verlieren. Gegenüber standen schwarze Schatten, Steinwände ... sie standen düster und verträumt mit ihren dunklen Grotten, ihren Obelisken, die Gottes Hand hier gesetzt, und den Adlern, die auf ihren Gipfeln schlummern.

Es schlummerte auch das stille und einsame Mönchskloster.

Ein Diener trat hinaus ... bald nach ihm erschien auch ein Mönch, halb angekleidet, unbedeckten Hauptes.

»Iwan, wer pocht dort an die Pforte? ...« rief der Mönch ängstlich ... Eine Bettstelle stand an der Wand, auf ihr ausgebreitet lagen Kleidungsstücke ... Der Mönch stützte sich auf den hohen Bettrand.

Das Klopfen wiederholte sich.

»Gewißlich ist es einer von ihnen ... Was soll ich tun? ... Nicht hereinlassen! ... Der Obere ist jetzt auch nicht da ...«

»Warte! ... Zuerst frage ...«

»Wer ist da?« rief der Diener und horchte hinaus – »die Stimme ... 's scheint eine Frauenstimme zu sein ...«

»Du träumest wohl gar! ... Eine Frau! ... Um diese Zeit! ... Entweder sie sind's oder die Türken ... Gewiß sind's Türken ... Diese Nacht morden sie uns alle ... Was mögen sie hier nur suchen? ... Hier gibt's nichts, ich lasse keinen Verdächtigen herein ... Herr, erbarme dich! ...«

Die Stimme hinter der Pforte ließ sich wieder vernehmen.

»'s ist ein Weib, das ruft ...« wiederholte der Knecht.

»Wer bist du? ...«

»Wir sind Geschwisterkinder, Iwan. Die Ilitza aus Tschelopjek ... Öffne ... ach, öffne! ...«

»Bist du allein? ...« fragte Iwan.

»Allein, mit dem Enkel, Iwan. Öffne, Gott wird's dir lohnen! ...«

»Sieh, ob's kein Schwindel ist! ...« sagte Vater Ephtymy zum Knecht.

So ermuntert trat der Knecht an die Pforte und schaute durch das kleine Fenster. Als sich auch der Mönch überzeugt hatte, so weit die Dunkelheit es zuließ, daß sich draußen nur ein Weib befand, befahl er Iwan zu öffnen.

Man schob die Pforte ein klein wenig auf, ließ die Bäuerin herein und schloß sofort wieder zu.

»Die Teufel sollen dich holen! .... Was willst du hier, Ilitza?...« fragte der Mönch ärgerlich.

»Mein kleiner Enkel ist gefährlich krank... Wo ist der Vater Prior? ...«

»In Berkowitza. Wozu brauchst du ihn? ....«

»Auf daß er Gebete spreche ... Aber sofort! ... Tue es, du, Vater ...«

»Was?! ... In der Nacht?! ... Was kann ich dem kranken Kinde helfen ...« brummte der Mönch zornig.

»Du kannst nicht helfen, aber Gott vermag alles ...«

»Jetzt geh schlafen. Morgen ...«

Aber das Weib flehte und beharrte hartnäckig auf ihrem Verlangen.

Bis morgen ... wer weiß, was da sein wird ... Mit dem Kinde steht es sehr schlecht ... Die Krankheit wartet nicht ... Nur Gott allein kann helfen. Sie wolle auch zahlen, so wie sich's gehört.

»Verrückt bist du ... Du zwingst uns, das Monasterium des Nachts zu öffnen, damit die ›Rebellen‹ eindringen, damit die Türken kommen und das Kloster vernichten! ...«

So brummend ging der Mönch in seine Zelle, um alsbald in seiner Kutte, barhaupt, zurückzukehren.

»Komm! ...«

Sie folgte ihm in die Kirche.So oft im Laufe der Erzählungen die Kirche erwähnt wird, ist die griechisch-katholische Kirche gemeint. Die Bulgaren sind zumeist griechisch-katholisch. Anmerk. der Übersetzerin. Er zündete eine Wachskerze an, legte die Stola um und nahm das Brevier zur Hand.

»Gib das kranke Kind her ...«

Ilitza näherte das Kind dem Lichte. Sein Gesicht war gelb wie Wachs.

»Aber es lebt ja nicht mehr! ...« bemerkte der Mönch.

Die tiefeingesunkenen Augen öffneten sich, als wollten sie diesen Worten widersprechen, und in dem sich in ihnen widerspiegelnden Kerzenlichte blitzten sie auf wie Sterne ...

Der Mönch legte ein Ende der Stola auf das Haupt des Kindes, sprach schnell ein Gebet für dessen Genesung, segnete es mit dem Zeichen des Kreuzes und schloß das Brevier. Die Dörflerin küßte seine Hand, in der sie zwei Piaster zurückließ.

»Wenn es ihm bestimmt ist zu leben, wird es gesund werden ... Jetzt geh in den Schuppen schlafen...«

Und der Mönch wandte sich zum Gehen.

»Warte, Vater Ephtymy ...« rief das Weib zögernd.

Er wandte sich zurück und trat zu ihr.

»Was gibt's denn noch? ...«

Die Stimme senkend, sagte sie: »Ich habe dir etwas anzuvertrauen... Wir sind doch Christen ...«

Der Mönch geriet in Zorn.

»Was hast du anzuvertrauen ... was für Christen? ... Geh schlafen ... Die Kerze darf nicht brennen, jemand könnte es von oben bemerken und zu Gaste kommen ...«

Der Mönch hatte die »Rebellen« im Sinne. Das Weib verstand ihn. Auf ihrem Antlitz prägte sich Kummer aus, und die Stimme zitterte: »Fürchte dich nicht! ... Niemand wird herkommen ...«

Und mit noch geheimnisvollerem Ausdruck sagte sie: »Als ich aus dem Dorfs kam, dort in unserem Walde ...« Angst und Zorn stritten sich auf dem gerunzelten Antlitz des Mönches. Er begriff, daß das Weib ihm etwas Gefährliches mitteilen wollte, deshalb unterbrach er sie und rief: »Ich will nichts hören ... sage mir nichts ... Behalte für dich, was du weißt ... Bist du hergekommen, das Kloster in Brand zu stecken? ...«

Die Dörflerin wollte noch etwas sagen, aber als sie das hörte, blieben ihr die Worte im Halse stecken; ohne jegliche Hoffnung betrat sie hinter dem erzürnten Mönche den Hof.

»Aber ich werde ja hier nicht nächtigen! ...« rief sie nur aus, als sie sah, daß der Mönch ihr den Weg nach dem Schuppen weisen wollte.

Dieser sah sie voll Staunen an.

»Wie? ...«

»Ich gehe ... sofort ...«

»Bist du verrückt geworden? ...«

»Ich bin verrückt geworden oder auch nicht ... einerlei ... Ich gehe ... Morgen beim Tagesanbruch habe ich Arbeit. ... Gebt mir Brot, denn ich bin hungrig ...«

»Brot so viel du nur willst ... Gib ihr, Iwan! Aber die Pforte zu öffnen erlaube ich nicht!« ...

Doch die Dörflerin bestand eigensinnig auf ihrem Willen.

Vater Ephtymy sann nach. Wieder die Pforte öffnen? ... Das war gefährlich ... Böse Menschen können eindringen ... Wer weiß, was geschehen kann ... Alsdann erinnerte er sich, daß die Frau sie schon gesehen hatte ... sie kann ein Unglück über das Kloster bringen, und wenn es die Türken in Erfahrung bringen ... Nein ... besser ist's, sie los zu werden, damit sie nicht hier sei ...

»So geh denn!...« rief er.

Die Frau packte die Hälfte des Brotes, das ihr Iwan gebracht hatte, in den Beutel, nahm alsdann das Kind auf den Arm und ging.

Die Pforte fiel hinter ihr zu, und der Schlüssel knirschte im Schloß.

4.

Die alte Ilitza eilte durch die Nacht zum Isker, hinter dem der »Rebell« ihrer harrte. Sie war sehr aufgeregt. Sie hatte es weder gekonnt noch gewagt, den reizbaren Mönch, der sie in Vertretung des Priors empfangen hatte, um Rat zu fragen.

Sie war auf den hohen Rand der Schlucht hinter dem Kloster geklettert und verfolgte einen Pfad, der sich den Isker entlang wand.

Die sternhelle Nacht ließ die sich auf der anderen Seite des Flusses abzeichnenden Felsen und Felsabhänge erkennen, düster am Tage und jetzt unheilverkündend ...

In den Augen und in der Seele der alten Ilitza, die von Angst und Unruhe erfüllt war, sah alles unheilverkündend aus. Als sie auf der Höhe angelangt war, ließ sie sich ermüdet auf der kalten Erde unter einer großen Ulme nieder.

Die Einöden des Gebirges schliefen ... Die der Wildnis eigentümliche Stille lag über der Natur, nur der Strom schäumte irgendwo in der Tiefe, über der sich die Gebäude und Dächer des Monasteriums ohne jedwedes Licht erhoben.

Von rechts drang aus Lutibrod das Bellen der Hunde.

Sie erhob sich vom Boden, doch da sie sich fürchtete, durch das Dorf zu gehen, wandte sie sich nach links in die Felsabhänge, dann eilte sie querfeldein.

Bald befand sie sich unten, ganz am Isker. Das Boot stand am Ufer. Ilitza ging nach der Baracke, in der gewöhnlich der Fährmann schlief. Drinnen war niemand, augenscheinlich fürchtete sich der Fährmann, hier die Nacht zu verbringen.

Erschreckt wußte sie nicht, was tun. Sie trat an den Kahn ... Der Isker schäumte schrecklich ... sie sah den trüben Schein der dunklen Fluten ... ein Schauer durchlief sie ...

Was tun? ... Warten bis zum Morgen? ... Sie wollte daran nicht einmal denken, obwohl das Krähen der Hähne in Lutibrod den nahenden Tagesanbruch verkündete ...

Was soll sie tun? ... Soll sie sich allein auf den Fluß wagen? ... Sie hat es oft gesehen, wie man rudert ... Dieser Ausweg schien ihr sehr gefährlich zu sein, doch hatte sie keine Wahl, wenn sie den Aufständischen treffen wollte, der sie dort erwartete, sterbend vor Hunger und Unruhe.

Das Kind legte sie auf dem Sande hin – sie dachte nicht mehr an dasselbe – und bückte sich, um die Kette, die das Boot an den Pflock band, zu lösen. Sie erzitterte: die Kette war nicht angebunden, sondern mit einem Vorlegeschloß verschlossen ... Das war die Arbeit der Türken, die eine nächtliche Überfahrt verhindern wollten.

Zitternd stand sie da ...

Die Hähne krähten immer häufiger in Lutibrod ... im Osten nahm der Himmel eine mattgraue Farbe an ... in einer, in zwei Stunden wird es anfangen zu dämmern ...

Sie schluchzte verzweifelt auf und nahm alle Kräfte zusammen, um entweder das Schloß zu zerbrechen oder die Kette zu zerreißen. Sowohl das eine als auch das andere erwies sich aber als unmöglich.

Erhitzt, atemlos erhob sie sich und blieb verzweifelt stehen ...

Plötzlich bückte sie sich zum drittenmal und erfaßte den Pflock mit beiden Händen, um ihn herauszureißen ... Tief eingeschlagen stand er dort wie angeeist ...

Sie verdoppelte, verdreifachte die Anstrengung ... die von der Sonne verbrannten Arme spannten sich ... ihre Muskeln gewannen die Kraft und Geschmeidigkeit des Stahles ... die Knochen knackten im Übermaß der Anstrengung, und heißer Schweiß ergoß sich über ihr Antlitz ...

Keuchend, übermüdet, als hätte sie eine Fuhre Holz gefällt, erhob sie sich, schöpfte etwas Atem und wieder erfaßte sie den Pflock, mit neuer Kraft und verbissener Hartnäckigkeit fing sie an, ihn nach allen Seiten zu zerren, um ihn herauszureißen ...

Ihre alte Brust keuchte röchelnd ... die Füße drangen bis an die Knöchel in den Sand hinein, und nach halbstündigem schrecklichen Kampfe zuckte der Block, die Erde lockerte sich, und es gelang ihr endlich, den Pfahl aus dem Boden zu ziehen.

Dumpf klirrte die Kette in der nächtlichen Stille ...

Ilitza seufzte erlöst auf und fiel erschöpft auf den Sand nieder.

Nach einer Weile wiegte sich der Kahn mit der alten Ilitza, dem Kinde und dem Plock auf den schwarzen Fluten ...

5.

An dieser Stelle tritt der Isker aus dem felsigen Engpasse und ergießt sich breit, um zwischen niedrigen und flachen Ufern weiterzuströmen.

Das Boot glitt mit der Strömung dahin, ohne dem von der unkundigen Hand der alten Bäuerin geführten Ruder zu gehorchen. Auf diese Weise gelangte es viel weiter, als die übliche Landungsstelle lag. Ilitza gab sich nur Mühe, nicht an jenem Ufer zu landen, an dem sie eingestiegen war.

Schließlich trieb eine stärkere Strömung den Kahn nach der gegenüberliegenden Seite, und dem Weibe gelang es nur mit größter Anstrengung, Grund und Boden zu erreichen.

Sie stieg ans Land, das Kind auf dem Arme ... kletterte empor und lenkte ihre Schritte dem Walde zu.

Als sie sich der Stelle näherte, wo sie den Aufständischen getroffen hatte, bemerkte sie einen menschlichen Schatten, der sich zwischen den Baumstämmen bewegte. Sie erkannte in ihm den, den sie suchte.

Der Aufständische kam näher heran.

»Guten Abend, mein Junge ... Hier hast du ...«

Mit diesen Worten reichte sie ihm das Brot, wohl wissend, daß er jetzt dessen am meisten bedürfe.

»Ich danke dir, Mutter ...« antwortete er niedergedrückt.

»Warte ... zieh das an ...« und sie gab ihm das Gewand, mit dem das Kind zugedeckt war.

»Ich habe es heimlich aus dem Kloster mitgenommen ... Gott verzeih mir's ... ich habe eine Sünde begangen ...«

Ilitza hatte dieses Kleidungsstück von der Wand genommen in der Meinung, es gehöre dem Knechte. Als es jedoch der Aufständische angelegt, bemerkte sie mit Erstaunen, daß es ein Mönchsgewand war!

»Das ist schließlich einerlei ... ich werde mich etwas erwärmen ...« sagte der Jüngling, indem er sich in die trockene, wollene Kutte hüllte.

Sie gingen zusammen.

Der Aufständische aß schweigend ... er bebte vor Kälte und hinkte stark. Er war ein etwa zwanzigjähriger Jüngling, mager und hochgewachsen.

Um ihn im Stillen des Hungers nicht zu stören, fragte ihn die Frau nicht aus, wer er sei und woher – sie selbst erzählte nur mit leiser Stimme – doch nahm schließlich die Neugier überhand, und sie fragte, woher er komme? ...

Er sagte ihr, daß er nicht aus den Bergen, sondern vielmehr aus der Ebene komme. In jener Nacht war er von seiner Abteilung in den Weinbergen von Wesletz abgeschnitten worden. Von dort aus irrte er umher und hatte sich in großer Angst und unter mannigfachen Gefahren bis hierher geschleppt. Zwei Tage und zwei Nächte hindurch hatte er nichts gegessen, erschöpft wie er war durch das anhaltende Gehen, mit wunden Füßen, im Fieber ... Jetzt ginge er auf die Berge zu, um dort die Gefährten zu finden, oder um sich zu verbergen.

»Mein Sohn, du kannst ja nicht gehen ...« sagte die Frau – »gib mir das Gewehr ... es wird dir leichter sein.«

Und mit der linken Hand nahm sie ihm das Gewehr ab, auf dem rechten Arme trug sie das Kind.

»Komm, komm! ... Nimm deine Kräfte zusammen, mein Junge.«

»Wo soll ich denn jetzt hin, Mutter? ...«

»Wieso denn: wohin? ... Nach Hause ... zu mir! ...«

»Ist's wirklich wahr?! ... Mutter, ich danke dir, du bist gut, Mutter! ...« und der zu Tränen gerührte Jüngling neigte sich und küßte die abgemagerte Hand, die das Kind trug.

»Die Leute kommen jetzt aus dem Schrecken nicht heraus, sie wären imstande, mich bei lebendigem Leibe zu verbrennen, wenn sie es erfahren ...« sagte die Dörflerin – »aber wie könnte ich dich denn hier lassen ... du kannst nicht fliehen ... die Tscherkessen fangen dich – Gott soll sie strafen – auch im Dorfe sind sie ... Wozu war auch das alles nötig, Kinder? ... Bedeutet es denn so wenig, dieses elende Land zu vernichten! ... Totgemacht haben sie euch wie junge Hühner ... Aber du hast ja keine Kraft mehr emporzusteigen ...«

Und sie warf das Gewehr aus der linken Hand in die rechte und faßte ihn mit der linken unter den Arm.

Sie kamen immer tiefer in den Eichwald hinein. Zwischen den Bäumen hindurch sah man im Osten den Himmel immer weißer werden ... das Krähen der Hähne in Tschelopjek war immer deutlicher zu vernehmen ... Die Sterne am Himmel erblaßten.

Schon fing es an zu dämmern und sie waren – nach gewohnter Gangart – noch eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt – jedoch so wie der Aufständische ging, konnten sie es selbst in zwei Stunden nicht erreichen.

Die Dörflerin war tief bekümmert, am liebsten hätte sie ihn getragen.

Er schaute sich um.

»Es dämmert schon, Muhme ...« ließ sich seine Stimme vernehmen.

»Das ist schlimm ... wir werden nicht zur Zeit anlangen ...« flüsterte das Weib.

Sie gingen noch ein Stück Weges.

Von drüben drangen schon menschliche Stimmen bis zu ihnen.

Die Dörflerin blieb stehen.

»So wird's nicht gehen, mein Junge ... man muß etwas anderes ersinnen ...«

»Was denkt ihr, Muhme? ...« fragte der Jüngling, der in dieser Unbekannten seine Mutter, Verwandte, seine Retterin und seine Vorsehung sah!

»Verbirg dich im Walde bis zum Abend ... Sobald es dunkel wird, werde ich dich erwarten ... hier ... auf dieser Stelle und dann verstecke ich dich in meinem Hause ...«

Der Jüngling kam zu der Überzeugung, daß dieser Ausweg der allerbeste sei. Die Dörflerin gab ihm das Gewehr wieder.

Und sie verabschiedeten sich.

Da geschah es, daß Ilitza das Kind berührte. Sie weinte auf ...

»O Kind, mein Kind! ... Es ist ja wohl tot! ... Händchen hat's wie Eis! ...«

Der Aufständische blieb stehen wie vom Donner gerührt ... Der Schmerz der Dörflerin ergriff ihn ... er wollte sie trösten, aber kein Wort konnte er hervorbringen.

Jetzt sah er ein, daß er keine weitere Hilfe erwarten konnte von diesem edlen Weibe, dessen Seele ein großer Schmerz zerrissen hatte.

»O Kind! ... Mein geliebtes Kind! ...« schluchzte die Arme, versunken in den Anblick des bleichen Gesichtes ihres Enkels.

Ergriffen, aller Hoffnung beraubt, ging der Aufständische tiefer in den Wald hinein. Und die schluchzende Stimme des Weibes rief ihm nach: »Mein Junge ... verbirg dich gut ... bis zum Abend ... daß ich dich hier finde ...«

Und Ilitza verschwand im Dickicht ...

6.

Als der Morgen anbrach, tauchte die Maisonne am Himmel auf, heiter und rein nach einigen wolkigen und regnerischen Tagen.

Das schöne, langgestreckte Tal, das am Fuße des Schischmanfelsens seinen Anfang nimmt, geschmückt mit dem Frühlings-Maiengrün, durchschnitten von dem sich wie ein silbernes Band windenden Flusse, badete schier in Sonnenstrahlen.

Hier – am Schischmanfelsen endigt der Fluß die Odyssee der Durchgänge durch schmale Engpässe und zahllose Gebirgswindungen, bald zwischen steilen, mit Eichen und Ulmen bedeckten Hängen dahinfließend, bald unter hohen Felsen, die von zahlreichen Grotten durchlöchert sind, Felsen, die sich zu phantastischen Schlössern und Obelisken auftürmen, und die der Kraft der Elemente und der Zeit spotten.

Kaum hatte sich die Sonne am Horizont gezeigt, als türkische Reiterei auf dem Wege erschien und hinter ihr, zwischen dem Getreide eine Unmenge Infanterie, deren Ende nicht abzusehen war. Reiterei und Fußvolk langten bald am Isker an und machten halt.

Das reguläre Fußvolk zählte etwa gegen dreihundert Mann; vor ihm schritten Baschi-Bosuks,Baschi-Bosuks (Wirrköpfe) – irreguläre türkische Infanterie, welche sich oft zu Gewalttaten hinreißen läßt, da in ihr keinerlei militärische Zucht herrscht. Anmerk. der Übersetzerin. mit aller Art Waffen versehen. Den Rest – und dieser bildete den größten Teil – bildeten Tscherkessen, gleichfalls verschiedenartig bewaffnet.

Nach einigen Augenblicken ließ die Reiterei die Tscherkessen vorüber und hielt selbst zur Seite.

Diese lärmende, zusammengewürfelte Menge stand unter der Führung eines berühmten Tscherkessen, Dschambalas, eines grausamen und blutgierigen kaukasischen Räubers. Seine Hand war es, welche die Kugel gesandt, die gestern den Anführer der Aufständischen, Botew, durchbohrt hatte.

Dschambalas hielt zu Pferde dem Walde gegenüber, unweit der Ruinen einer altertümlichen Kirche.

Auf der linken Seite des Waldes erhoben sich unzugängliche Felsen und Schluchten, auf der rechten breiteten sich die Tschelopjeker Felder und Gärten bis zum zweiten nackten Bergrücken aus. Am Abhang des Waldes sah man zwischen Bäumen eine einzige Hirtenhütte, gegenwärtig von ihrem Eigentümer verlassen.

Die Augen aller waren auf den tiefen, leeren, stillen Wald gerichtet, in dem sich der Aufständische barg.

Doch nicht ihn suchte die Abteilung.

Diese Nacht war nach Wratza Kunde gelangt, daß eine Stunde vor Tagesanbruch eine Abteilung KomitasKomita nennen die Türken jeden Revolutionär, dessen Bestreben dahin geht, das türkische Joch abzuschütteln. Anmerk. der Übersetzerin. von den Bergen in diesen Eichwald hinuntergestiegen war, aller Wahrscheinlichkeit nach um den Isker zu übersetzen und sich im großen Balan der Stara Planina zu verbergen.

Die Soldaten, angeregt und ermuntert durch den gestrigen Sieg, warteten auf die Befehle, als Dschambalas vom Pferde stieg und mit einigen hervorragenderen Baschi-Bosuks Rat hielt über die Art und Weise des Angriffs.

Er war ein vierzigjähriger Mann von dunkler Hautfarbe, hoch, schwarzbärtig, angetan mit einem schillernden tscherkessischen Gewande, bewaffnet vom Kopf bis zu den Füßen. Seine raubgierigen, wilden Augen glänzten unter der hohen Tscherkessenmütze.

In diesem Augenblick donnerte ein Schuß aus der Hütte, und der vielstimmige Widerhall der Berge wiederholte den Knall.

»Die Komitas! ... die Komitas! ...« rief man.

Alle richteten die Augen auf die Hütte, doch sie bemerkten an ihrem Eingange nur einen Knäuel Rauch, den der leichte Morgenwind über die Zweige trug.

Einen Augenblick lang hielt das Staunen an, dann gab die ganze Abteilung Feuer, das im Walde tausendfältigen Widerhall fand.

Doch plötzlich durch den Rauch hindurch erhoben sich Stimmen: »Dschambalas! ... Dschambalas erschossen! ...«

Dschambalas lag in der Tat auf dem Boden ... Er war gestürzt, eine Kugel hatte seinen Hals durchbohrt, dem Munde entfloß ein Blutstrom. Die Kugel, die aus der Hütte gekommen war, hatte ihn getroffen.

Diese Kunde verbreitete blitzschnell Schrecken unter den Soldaten ... die ganze Abteilung zerstreute sich, und jeder verbarg sich, wo er konnte.

Die Leiche des Anführers trug man schnell hinweg. Die Reiterei verschwand auch sogleich.

Doch ein zweiter Schuß fiel nicht mehr aus dem Walde.

Nach längerer Zeit – als man aus der ringsum herrschenden Stille und dem tiefen Schweigen folgerte, daß die Aufständischen in die Berge gegangen sein mußten – ließ sich ein Haufe Tscherkessen bereden, in den Wald einzudringen und ihn zu durchsuchen.

Sie fanden unter einer Eiche nur den Leichnam eines Rebellen ... Ein dreißigjähriger Mann war es, mit schwarzem Barte, dem eine Beinwunde mit Lappen verbunden war.

Die Tscherkessen überzeugten sich, daß die Aufständischen in die Berge geflohen waren.

Nachdem Botew gefallen war, verbarg sich ein Teil seines Gefolges – vierzig Mann – unter der Führung des am Bein verwundeten, heldenhaften Pera in den Bergen. Die ganze Nacht hindurch irrten sie in den Gebüschen umher, um schließlich ermüdet, verhungert, halb einschlafend im Gehen, in den Tschelopjeker Wald hinabzusteigen, wo die Aufständischen in einen wahren Totenschlaf verfielen, ohne zu merken, daß man ihre Spur gefunden hatte.

Eine tscherkessische Kugel hatte zufällig Pera getötet. Kein anderes Opfer fand man.

Doch als die Tscherkessen in die Hütte drangen, fanden sie noch eine Leiche.

»Ein Pope! ... Ein Rebell! ...« riefen erstaunt die Tscherkessen.

Ein bartloser Jüngling lag da, den Kopf von einer Kugel durchbohrt.

Er war mit einem Mönchsgewande angetan, der zurückgeschlagene Schoß der Kutte ließ die blutüberströmte Kleidung eines Aufständischen sehen. Aus der von Pulver geschwärztem Wunde konnte man schließen, daß er Selbstmord begangen, nachdem er zuvor Dschambalas erschossen hatte.

Ihrem Gebrauch zuwider schnitten diesmal die Baschi-Bosuks dem Aufständischen den Kopf nicht ab, um ihn auf einer Stange aufgespießt als Zeichen des Sieges herumzutragen ... Der Tod des Anführers war für sie kein Sieg ...

Sie begnügten sich nur damit, die Hütte anzuzünden, in der sie den Leichnam zurückgelassen hatten. Sie rauchte noch abends, als zwei türkische Abteilungen dreizehn Aufständische mordeten, die von den Bergen herniedergestiegen waren, um über den Isker zu setzen.


Ilitza ist längst gestorben. Doch das halbtote Kind blieb am Leben, ist heute ein gesunder und tüchtiger Mann und heißt Major P.

Wenn ihm die verstorbene Großmutter diese Ereignisse erzählte, fügte sie immer hinzu, daß sie nie geglaubt hätte, seine wunderbare Genesung wäre eine Folge des nachlässigen Gebetes jenes zornmutigen Mönches, sondern sie sah in ihr vielmehr eine Belohnung für das gute Werk, das sie zwar nicht verrichten konnte, das sie jedoch aus vollster Seele verrichten wollte ...


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