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10
Die Kleinbahn

Nicht alle Geschäfte, die Bones unternahm, rentierten sich. Manche kosteten ihn Geld, manche Zeit und einige kosteten ihn beides.

Irgendwo auf einer Werft in London liegen die zerbeulten Überbleibsel vernickelter Automobillampen, an die sich Bones nicht gern erinnerte. Das war nun alles, was von dem großen industriellen Plan übriggeblieben war. Bones wollte damals eine Gesellschaft zur Herstellung und zum Vertrieb einer Lampe gründen, die niemals ausging.

An einem kritischen Tag gingen die Lampen aber doch aus, und das war schlimm. In einem unerwünschten Augenblick flammten sie wieder auf, und das war noch schlimmer, denn sie beleuchteten ihn plötzlich in einer zärtlichen Umarmung mit seiner Sekretärin. Bones hatte sich bemüht, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, aber die betreffende Dame begegnete ihm seit dieser Zeit nur noch mit kalter Höflichkeit.

Es war schauerlich, wie Bones sich seiner unschätzbaren Sekretärin gegenüber das Ansehen gab, als ob er in den letzten Zügen läge. Sooft Miß Marguerite Whitland in sein Bureau kam, war sein Kopf in den Händen vergraben. Nur einmal, als sie vergessen hatte, anzuklopfen, fand Bones nicht mehr die Zeit, sich ausdrucksvoll und malerisch hinzusetzen.

Die ganze Woche seufzte er nur, wenn er sie sah, oder er schwankte mit schwachen Schritten durch den Raum, oder er hielt sich an einem Stuhl fest. Wenn sie zu ihm sprach, antwortete er mit einer müden Stimme und lächelte schmerzlich, so daß das arme Mädchen ängstlich um ihn besorgt wurde. Sie glaubte, daß sein Verstand gelitten habe und fragte Hamilton um Rat.

»Sehen Sie einmal, Bones, Sie elender Teufel!« sagte Hamilton. »Sie beunruhigen das arme Mädchen. Was, zum Teufel, beabsichtigen Sie denn eigentlich mit diesem Getue?«

»Wen beunruhige ich?« fragte Bones offensichtlich befriedigt. »Tue ich das wirklich? Ist sie sehr besorgt, mein lieber, alter Freund?«

»Ja,« sagte Hamilton bestimmt, »sie glaubt, daß Sie den Verstand verlieren.«

»Das ist aber gemein, mein lieber, alter Offizier!« Bones war entrüstet.

»Ich habe ihr gesagt, Sie wären früher öfter so gewesen«, fuhr Hamilton schadenfroh fort. »Ich sagte ihr, daß Sie seelisch etwas aus dem Gleichgewicht kamen nach Ihrer letzten Liebesaffäre –«

»Um Himmelswillen!« Bones hätte beinahe laut aufgeschrien. »Sie haben ihr doch nichts von Ihrer netten Schwester Patricia erzählt?«

»Das habe ich nicht getan«, sagte Hamilton. »Ich habe ihr nur die Tatsache berichtet, daß man nicht recht weiß, ob Sie es im Magen haben oder ob Sie an Verrücktheit leiden, wenn Sie verliebt sind.«

»Sie sind ein verflucht nichtswürdiger Schlingel! Ich muß mich doch sehr über Sie wundern! Es ist doch immerhin möglich, daß ich schwer herzleidend bin –«

»Herzleidend? ach, nein!« sagte Hamilton verächtlich.

»Jawohl, schwer herzleidend«, wiederholte Bones. »Ich hatte immer ein schwaches Herz!«

»Und einen schwachen Kopf! Nun nehmen Sie sich aber zusammen, Bones, und erschrecken Sie die junge Dame nicht noch mehr. Ich weiß ganz genau, daß sie Sie gern hat – aber nur mütterlich!« fügte er hinzu, als er sah, daß Bones' Augen zu hell aufleuchteten. »Sie ist tatsächlich eine so vorzügliche Sekretärin, daß es eine Sünde und Schande wäre, sie aus dem Bureau wegzutreiben!«

An diese Möglichkeit hatte Bones nicht gedacht, und das hatte einen größeren Einfluß auf ihn als irgendein anderer Einwand Hamiltons. Er begann wieder Interesse am Leben zu zeigen, ging frohen Mutes im Bureau umher und betrat vergnügt den Raum seiner Sekretärin. Er machte Witze und erlaubte sich, sie zum Tee einzuladen. Als diese Einladung kurzerhand abgelehnt wurde, war er überzeugt, daß Tee zum täglichen Leben absolut unnötig sei.

Das Geschäft der Firma Schemes Ltd. entwickelte sich günstig, wenn auch nicht sprungweise und schnell, so doch ständig und dauernd. Und vermutlich lag es an Hamiltons wohltuendem Einfluß, daß sich Bones nicht zu Extravaganzen hinreißen ließ und sich in Grenzen hielt. Schemes Ltd. kaufte den Theaterfundus und die Theater des verstorbenen Mr. Liggeinstein und verkaufte sie nach achtundvierzig Stunden mit einem guten Verdienst weiter. Bones hatte gekauft und Hamilton hatte verkauft. Bones war sehr betrübt darüber, denn er hatte die ganze Nacht aufgesessen, um ein vieraktiges Stück zu schreiben, und als er am nächsten Morgen spät ins Bureau kam, entdeckte er, daß die Gelegenheit, sein eigenes Stück aufzuführen, für immer entschwunden war.

»Und ich hatte doch eine so schöne Rolle für Sie, mein liebes Fräulein«, sagte er traurig zu seiner Sekretärin. »Im dritten Akt starben Sie, es war so schön, aber auch so traurig, daß ich weinen mußte, als ich es schrieb.«

»Ich glaube, es war ganz klug von Captain Hamilton, die Theater zu verkaufen«, sagte die junge Dame kühl.

In seinen Mußestunden fand Bones noch Zeit zu anderen Erholungen, als zu dichten. Was Hamilton von ihm gesagt hatte, entsprach der Wahrheit. Er hatte eine außerordentlich feine Nase für Geschäfte und verdiente sein Geld auf eine Art und Weise, die andere Leute kaum für möglich hielten. Man lernte ihn kennen. Er begegnete hervorragenden Männern, die Millionengeschäfte leiteten, wie Julius Bohea, und bekannten, wichtigen Persönlichkeiten wie dem Minister George Parkinson Chenney.

Bones traf dieses einflußreiche Mitglied des Kabinetts bei einem vornehmen Essen, wo die Leute Kiebitzeier verspeisten, als ob das zu den Alltäglichkeiten des Lebens gehörte.

Mr. Parkinson Chenney sprach großzügig über sein Lieblingsthema – die chinesischen Konzessionen. Nach seinem Bericht hatten alle Völker mit Ausnahme der Engländer Konzessionen in China, bis einer der geschicktesten Diplomaten auf der Bildfläche erschien und die wundervollen, reichen Kohlenfelder von Wei-hai-tai für England erwarb. Der Umsicht und der genialen Veranlagung dieses Diplomaten verdankte man diese Konzession. China wollte in Kürze eine Sondergesandtschaft nach England schicken, um diesen Vertrag zu ratifizieren. Mr. Parkinson Chenney sprach mit großer Begeisterung davon, denn er selbst war dieser geschickte Diplomat gewesen. Alle Leute hörten ehrfurchtsvoll zu, denn er war ein berühmter Mann.

»Ich spreche nicht für mich«, sagte er, als er mit dem Stiel seines Champagnerglases spielte und seine Augen bescheiden schloß. »Ich sagte schon, daß ich es nicht für mich getan habe, und ich will mich auch nicht weiter rühmen und die Sache vergrößern, weil ich sie als eine patriotische Tat ansehe. Jeder Bürger dieses Landes hätte es unter diesen Umständen getan. Aber ich kann darauf stolz sein, daß ich in jenem Moment den nötigen Scharfsinn entwickelte und die Lage vollständig überblickte.«

»Hört! Hört!« sagte Bones in der Pause, die auf die Rede folgte. Mr. Parkinson Chenney verneigte sich geschmeichelt.

Als das Essen vorüber war und sich die Gäste in den Rauchsalon zurückzogen, faßte Bones den Minister am Knopf.

»Meine verehrungswürdige Exzellenz,« sagte er, »darf ich einige Worte mit Ihnen über die chinesischen Kohlenfelder sprechen?«

Der Staatsminister hörte freundlich zu oder er tat wenigstens so. Dann lächelte er einem anderen bedeutenden Mann zu, nickte verbindlich und ließ Bones mit seiner Rede allein.

An jenem Abend war Bones der Gast von Mr. Harold Pyeburt, den er in der City kennengelernt hatte.

»Mein lieber Tibbetts«, sagte Pyeburt und klopfte ihm auf die Schulter. »Sie haben sich ja so gut mit Chenney verstanden – worüber haben Sie denn mit ihm gesprochen?«

»Wir haben uns über Kohle unterhalten«, sagte Bones vornehm.

Er wußte selbst nicht mehr, was er gesagt hatte, er konnte sich nur noch darauf besinnen, daß ihm während des Essens eine gute Idee gekommen war. Konnte Mr. Pyeburt Gedanken lesen? Es mußte wohl so sein.

»Minister Chenney muß man kennen«, sagte Pyeburt. »Er ist einer der mächtigsten Mitglieder des Kabinetts. Sie müssen sich gut mit ihm stellen, dann können Sie auch noch den Adel bekommen.«

Bones wurde rot.

»Adel, mein lieber, alter Geschäftsfreund!« sagte er und zuckte verächtlich die Schultern. »So was kann ich nicht gebrauchen, mein lieber, alter Mann. Lord Bones – Lord Tibbetts – mag ja ganz nett klingen, aber was soll ich denn damit anfangen – sagen Sie mir das doch, bitte!«

»Oh, das weiß ich auch nicht«, sagte Mr. Pyeburt. »Es ist ja möglich, daß es Ihnen nichts ausmacht, aber Ihre Frau Gemahlin –«

»Ich bin nicht verheiratet – ich habe keine Frau Gemahlin – wirklich, ich bin nicht verheiratet!«

»Nun gut,« sagte Mr. Pyeburt, »ich verstehe, daß es nichts für Sie bedeutet. Wir wollen nicht weiter über den Adel reden. Nebenbei bemerkt, wird man nicht sofort Lord, es sei denn, daß Sie den Wunsch haben. – Ich habe oft darüber nachgedacht,« fuhr er fort und runzelte die Stirn, als ob er tief nachdächte, »ob nicht in diesen Tagen irgendein Glückspilz Chenney die Lynhaven-Eisenbahn abkauft und sich ihm dadurch für Lebenszeit zu größtem Dank verpflichtet.«

»Lynhaven?« fragte Bones. »Wo liegt das? Ist dort eine Eisenbahn?«

Mr. Pyeburt nickte.

»Kommen Sie mit auf den Balkon, ich will Ihnen davon erzählen.«

Bones, der sich stets über alle möglichen Dinge unterhielt und genau so wenig der Versuchung der Neugierde widerstehen konnte als ein Trinker dem Alkohol, wurde in alle Geheimnisse der Lynhavener Kleinbahn eingeweiht. Mr. Parkinson, Chenneys Vater, hatte die Stadt Lynhaven gegründet und auch die Kleinbahn gebaut, die Lynhaven mit der Hauptstrecke verband. Mit der Gründung der Stadt hatte er ein großes Geschäft gemacht, aber die Kleinbahn rentierte sich nicht, weil man bessere Verbindung mit der Straßenbahn hatte.

Die Eisenbahn war infolgedessen in einem ziemlich vernachlässigten Zustand.

»Es ist eine wunderbare Kleinbahn, großartig gebaut und gut geschottert«, sagte Mr. Pyeburt und schüttelte den Kopf in melancholischer Bewunderung. »Es fehlt nur eine kräftige Hand, die die Sache leitet. Im Moment ist sie ziemlich abgewirtschaftet. Der Tarif für Frachten und Personen ist zu hoch, die Wagen müssen einmal erneuert werden, aber die Lokomotiven sind in ausgezeichnetem Zustand.«

»Will er denn die Eisenbahn verkaufen?« fragte Bones interessiert.

»Das weiß ich noch nicht so genau.« Mr. Pyeburt spitzte die Lippen. »Es ist möglich, wenn man ihm einmal die Sache richtig auseinandersetzt. Wenn er verkaufen will und Sie der glückliche Käufer sind –«

Er zog die Augenbrauen hoch und machte einige diskrete Handbewegungen, die dezent ausdrücken sollten, daß Bones' Zukunft dann gesichert sei.

Bones erklärte ihm, daß er sich die Sache überlegen wolle und das tat er denn auch mit lauten Worten in Hamiltons Gegenwart.

»Das ist eine sonderbare Sache«, entgegnete sein Partner. »Aber immerhin ist es möglich, abgewirtschaftete Eisenbahnen wieder rentabel zu machen.«

»Ich würde Generaldirektor werden«, sagte Bones noch ganz in Gedanken. »Mein Name würde auf allen Plakaten gedruckt sein, und dann gibt es doch so eine Bestimmung oder ein Abkommen, daß alle Eisenbahndirektoren Freifahrt im ganzen Lande haben?«

»Ich glaube, da haben Sie recht. Aber es wird billiger für Sie sein, Ihre Eisenbahnfahrten selbst zu bezahlen, als zu diesem Zweck eine Kleinbahn zu kaufen!«

»Es ist aber auch eine Lokomotive da«, sagte Bones hocherfreut. »Sie hat den Namen ›Mary Louisa‹. Pyeburt erzählte mir davon, als ich fortging. Und man würde doch auch in einem gewissen Grade bekannt werden.«

Er rieb sein Kinn und ging nachdenklich in das Bureau von Miß Marguerite Whitland.

Sie drehte sich in ihrem Stuhl um und langte nach dem Stenogrammheft. Aber Bones hatte nicht die Absicht, ihr etwas zu diktieren.

»Wie gefällt Ihnen Sir Augustus, mein liebes Fräulein?«

»Welcher Sir?« fragte sie erstaunt.

»Sir Augustus!« wiederholte Bones.

»Ach, das ist sehr drollig«, sagte sie.

Das war aber nicht die Antwort, die er erwartete, und sie merkte gefühlsmäßig, daß sie einen Fehler gemacht hatte.

»Ach so, Sie denken an sich selbst«, sagte sie schnell. »Werden Sie geadelt, Mr. Tibbetts? Das ist aber glänzend!«

»Ja«, sagte Bones und tat so, als ob es ihn gar nichts anginge. »Das ist doch nicht schlecht, mein liebes, gutes Fräulein. Ich bin allerdings noch sehr jung, aber Napoleon wurde schon mit zweiundzwanzig Jahren General.«

»Werden Sie wieder in die Armee eintreten?« fragte sie verwundert und sah Bones schon im Kriegsministerium.

»Ich wollte mit Ihnen über Eisenbahnen sprechen«, begann Bones entschieden. »Sir Augustus Tibbetts – jetzt habe ich es gesagt!«

»Das ist wundervoll«, rief Marguerite begeistert. Die Freude leuchtete aus ihren Augen. »Ich habe es noch nicht in der Zeitung gelesen, sonst hätte ich Ihnen natürlich schon gratuliert!«

Bones wurde es ungemütlich.

»Mein liebes, gutes Fräulein, es ist noch nicht in den Zeitungen erschienen – ich spreche nur von der Zukunft, meine liebe, hitzige Sekretärin, in Zukunft Sekretärin der Lynhaven-Eisenbahngesellschaft und möglicherweise meine liebe, gute Lady –« Aber dann machte er doch Halt, weil er selbst einen Schrecken bekam.

Glücklicherweise hatte sie nicht genau hingehört und wußte nicht, was er damit meinte.

Bones besuchte Mr. Harold Pyeburt in seinem Bureau. Mr. Pyeburt hatte zuvor den Minister Parkinson Chenney ausgesucht und Seine Exzellenz hatte zugestimmt, die Eisenbahn mit allem rollenden und festen Inventar für sechzigtausend Pfund zu verkaufen.

»Ich gebe Ihnen als Ihr Freund den Rat,« sagte Mr. Pyeburt, »den Vertrag zu unterzeichnen. Parkinson Chenney sprach in den besten Ausdrücken von Ihnen – Sie haben scheinbar einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.«

»Wer ist denn der nette, alte Vertreter von Parkinson?« fragte Bones.

Mr. Harold Pyeburt gab ohne Verlegenheit zu, daß er den Minister in dieser Angelegenheit vertrete. Schließlich fand sich Bones dazu bereit, zehn Prozent der Kaufsumme anzuzahlen. Der Rest sollte fällig sein, nachdem Bones die Eisenbahn einen Monat lang in Betrieb genommen und das Geschäft ihn befriedigt hatte.

»Das ist nun schon der achte, der zehn Prozent Ankaufsumme deponiert«, sagte Mr. Chenney zu seinem Agenten. »Es würde mir leid tun, wenn er die Eisenbahn wirklich übernähme.«

Drei Wochen später ereigneten sich zwei wichtige Dinge. Der Ministerpräsident von England rief eine Stunde vor seiner Abreise nach Westengland, wo er einen wohlverdienten Urlaub zubringen wollte, seinen tatkräftigen Freund und Helfer zu sich.

»Chenney,« sagte er, »ich muß tatsächlich auf Urlaub gehen, und es tut mir leid, daß ich die chinesische Kommission nicht persönlich begrüßen kann. Ich bitte Sie also, daran zu denken, und die Gesandtschaft auf der Charing-Croß-Station bei ihrer Ankunft vom Festland zu empfangen. Soviel ich unterrichtet bin, reisen die Herren morgen von Paris ab.«

»Ich werde bestimmt dort sein«, sagte Parkinson Chenney lächelnd. »Ich habe doch die Kohlenkonzession mit den Chinesen zum Abschluß gebracht.«

»Ja, ja«, sagte der Ministerpräsident, der augenblicklich nicht in der Stimmung war, lange Lobreden zu halten. »Und dann noch eins. Würden Sie so gut sein und an die Küste fahren, um diese niederträchtige Anfrage zu erledigen? Sie haben im Unterhaus recht unbequeme Fragen gestellt und ich kann noch keine definitive Antwort geben. Vielleicht gelingt es Ihnen, die Sache so weit zu klären, daß Sie den Fragestellern eine einigermaßen befriedigende Antwort geben können.«

»Verlassen Sie sich nur auf mich«, sagte Parkinson Chenney und fuhr am Nachmittag im Sonderzug zur Küste.

Am selben Tage stand Bones in einem Arbeitsanzug, den er über seine andere Kleidung gezogen hatte, begeistert auf der Lokomotive. Seine Hand lag an den Dampfhebeln der »Mary Lousia«. Er erklärte der Sekretärin der Gesellschaft, wie leicht es sei, eine Maschine zu leiten. Sie trug auch Überkleider und saß auf dem Führerstand der Maschine.

Zwei ruhmreiche Tage hatte Bones den Posten eines Lokomotivführers zwischen Lynhaven und Bayham versehen, wo sich die Kleinbahn mit der Hauptlinie vereinigte. Er kannte schon alle Biegungen und Wendungen der Strecke und alle Eigenheiten der eintönigen Landschaft auswendig. Ebenso kannte er die vier Passagiere, die täglich mit Ausnahme des Sonntags die Bahn benützten. Am Sonntag fuhr die Kleinbahn sowieso nicht. Die Leute waren ihm schon so vertraut, daß er ihre Fahrkarten überhaupt nicht mehr kontrollierte.

Der Dienst auf der Lynhaven-Eisenbahn war nicht so kompliziert, wie er anfangs dachte. Zuerst hatten die vielen Wagen, die auf einem Nebengleis der Endstation standen, großen Eindruck auf ihn gemacht. Aber nachher erfuhr er, daß sie nicht der Gesellschaft gehörten. Der ganze Wagenpark bestand aus der »Mary Louisa«, einer alten, etwas asthmatischen Lokomotive, die in ihren jungen Tagen einmal ganz schmuck ausgesehen haben mochte, und vier vom Wetter stark mitgenommenen Wagen. Das übrige Eigentum der Gesellschaft setzte sich aus dem halben Anteil eines Bahnsteigs in Bayham Junction und dem vollständig zerfallenen und verwahrlosten Haus in Lynhaven zusammen. Das Stationsgebäude lag außerdem noch zwei Meilen von der Stadt entfernt.

Niemand benutzte die Eisenbahn. Das war die niederschmetternde Wahrheit, die Marguerite sofort klar wurde. Sie durchschaute augenblicklich die vollständige Wertlosigkeit des Geschäftes, das Bones abgeschlossen hatte. Aber Bones hatte die Möglichkeit, mit einer Lokomotive zu spielen und hatte deshalb auch dem alten Lokomotivführer eine Woche Ferien gegeben. Er war begeistert von den Möglichkeiten und freute sich, wenn er den Dampfhebel der Lokomotive herumlegen konnte, so daß der alte, verrostete Zug sich fauchend und stöhnend in Bewegung setzte.

»Viele Leute denken«, sagte Bones und ließ bei diesen Worten die Dampfpfeife ungewöhnlich lang ertönen. Dann steckte er plötzlich die Finger in den Mund, weil er sich an dem heißen Dampf verbrannt hatte. »Viele Leute denken, daß die ›Mary Louisa‹ vollständig verbraucht ist. Aber glauben Sie mir, mein liebes, gutes Fräulein, man muß diese Maschine erst wieder in die Höhe bringen, dann läuft sie auch ordentlich. Ich habe sie noch nicht auf Volldampf gestellt, mein lieber, alter Heizer!«

Der liebe, alte Heizer, der gerade siebzehn Jahre alt war, schüttelte böse den Kopf.

»Versuchen Sie es auch ja nicht«, sagte er warnend. »Der alte Georg läßt sie auch nur mit dem vierten Teil der Höchstgeschwindigkeit laufen!«

»Hören Sie, mein liebes Fräulein?« fragte Bones triumphierend. »Nicht mehr als den vierten Teil der Höchstgeschwindigkeit! Ich sage Ihnen, allein diese Maschine ist soviel wert, daß ich damit die ganze Eisenbahn bezahlen kann. Jetzt kommt mir aber eine gute Idee! Man könnte doch den Leuten Stunden geben im Lokomotivfahren und dann könnte man Filmgesellschaften die Eisenbahn zur Verfügung stellen – das ist eine andere großartige Idee! Wunderbare Rettungen aus der Eisenbahn! Man könnte die Helden auf dem Dach der Wagen wie verrückt in voller Fahrt kämpfen sehen. Denken Sie mal, die wunderbaren Eisenbahnzusammenstöße und so weiter!«

»Aber Sie können doch Zusammenstöße nur arrangieren, wenn Sie zwei Maschinen haben!« sagte Marguerite.

»Nun ja, wir könnten uns ja zu diesem Zweck von der Great Northern Company eine Maschine borgen.«

Er schaute auf das Mädchen, dann auf seine Taschenuhr.

»Zeit zur Abfahrt!« sagte er und sah sich nach dem kleinen Zug um. Der bejahrte Schaffner saß seitlich auf einem kleinen Hügel und war halb eingeschlafen. Bones zog die Pfeife, ein unmöglicher Pfiff ertönte, der Schaffner wachte auf, schaute auch auf die Uhr, gähnte und suchte dann den Zug nach Passagieren ab. Schließlich winkte er mit seiner Fahne und stieg in sein kleines Abteil.

Mit einem Kreischen fuhr die Maschine an. Bones legte den Dampfhebel ganz herum und war stolz, als das Puff-Puff der Lokomotive ertönte. Er lächelte auf Marguerite herab.

»Das ist so leicht, als ob man Bohnen verkauft, meine Liebe«, sagte er, »und jetzt werde ich Ihnen einmal zeigen, wie schnell sie fahren kann.«

»Der alte Georg läßt sie nur mit Viertelgeschwindigkeit laufen«, sagte der kleine Heizer wieder.

»Ach was, der alte Georg!« sagte Bones düster. »Er ist ein netter, alter Lokomotivführer, der keinen Unternehmungsgeist mehr hat – deshalb kann sich auch die Eisenbahn nicht rentieren. Was für ein verrückter Gedanke, die ›Mary Louisa‹ nur mit Viertelgeschwindigkeit laufen zu lassen!«

Er wandte sich an Marguerite, um ihre Zustimmung zu erhalten, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, überhaupt eine Meinung zu äußern, da sie nur die oberflächlichsten Kenntnisse über die Maschine besaß.

Bones drehte den Dampfhebel ein klein wenig weiter herum, und die »Mary Louisa« setzte sich in schnellere Bewegung.

»In Sachen des Adels, mein liebes Fräulein«, sagte Bones vertraulich. Er konnte aber nur abgerissen sprechen, denn die Plattform einer alten, ausgeleierten Lokomotive, die mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit vorwärtsgetrieben wird, ist kein geeignetes Rednerpult für zusammenhängende Ansprachen.

»Wenn ich dem alten, netten Land einen Dienst erweise – dem Kabinett helfe – der nette, alte Chenney kann mich sehr gut leiden –«

»Fahren wir nicht furchtbar schnell?« fragte Marguerite und hielt sich am Griff fest.

»Durchaus nicht! Gar nicht! Ich will den Leuten nur zeigen, wie diese Lokomotive –«

Plötzlich fühlte er, daß ihn jemand am Arm berührte. Es war der kleine Heizer.

»Wir fahren hier gerade durch eine sandige Gegend«, sagte er. »Wenn Sie hier abspringen, werden Sie sich nicht verletzen – ich tue es auch!«

»Abspringen?!« fragte Bones verwundert. »Wie meinen Sie denn das? Springen Sie ja nicht. Sie verrückter Junge!«

Aber sein kleiner Helfer mit dem schwarzen Gesicht stand schon balancierend auf der Treppe der Maschine. Bones sah zurück und erkannte noch, wie er in Purzelbäumen den sandigen Abhang hinunterrollte. Er schaute verwirrt auf das Mädchen.

»Selbstmord, liebes, gutes Fräulein!« sagte er mit düsterer Stimme. »Fürchterlich.«

»Ist das nicht eine Station?« fragte sie, denn es war ihr im Augenblick mehr um ihre eigene Zukunft zu tun.

Bones blickte durch das Fenster.

»Das ist eine Station, meine Liebe. Hier wollen wir halten.«

Er drehte verzweifelt an dem Hebel, aber der Stahlgriff rührte sich nicht im mindesten. Die »Mary Louisa« sauste mit unglaublicher Schnelligkeit über die Schienen. Es waren nicht mehr fünfhundert Meter bis zu dem Prellbock der Bayham-Station, in die der Lynhaven-Zug einfahren mußte.

Bones wurde blaß und sah Marguerite erschrocken an. Schnell schaute er nach links und nach rechts, aber sie hatten das sandige Gelände längst verlassen und jeder Versuch, jetzt vom Zug abzuspringen, wäre sicherer Tod gewesen.

*

Mr. Parkinson Chenney war sehr zufrieden mit seinen Erfolgen an der Küste. Er hatte alle nötigen Informationen bekommen, um die Anfrage im Unterhaus beantworten zu können.

Er nahm das Essen mit den Offizieren der Garnison ein, als ihm eine Telephonnachricht überbracht wurde. Er las sie und lächelte.

»Gut«, sagte er dann. »Meine Herren, es tut mir leid, ich muß etwas früher aufbrechen, als ich erwartete. Oberst Wraggle, würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, nachzusehen, ob mein Extrazug bereitsteht? In zehn Minuten muß ich fort. Die chinesische Kommission ist nämlich angekommen«, sagte er nachdrücklich, »oder vielmehr, sie wird diesen Nachmittag in London ankommen, und ich habe den besonderen Auftrag vom Ministerpräsidenten –«

Er erklärte seinen andächtig lauschenden Zuhörern gerade wieder alle Einzelheiten über die Kohlenkonzessionen in China und sprach von dem unendlichen Wert, den sie für das Reich im einzelnen und für die Welt im besonderen hätten. Nur durch den Scharfsinn, das Genie und die Weitsicht eines Kabinettsministers waren sie errungen worden.

In diesem Augenblick wurde gemeldet, daß sein Zug bereitstehe. Es war wirklich wichtig, daß er nach London fuhr, um die Kommission zu treffen. Sie hatte viel Widerwillen gezeigt, sich überhaupt mit fremden Teufeln in Geschäfte einzulassen und hielt genau darauf, daß man sie überall mit den ihr zukommenden Ehren empfing. Er zweifelte auch nicht im mindesten daran, daß er London erreichen würde, bevor ihr Zug vom Kontinent ankommen würde. Es waren noch zweieinhalb Stunden, und das war reichlich Zeit.

Kurz bevor der Extrazug um die große Kurve kam, von der aus man die Station Bayham Junction sehen konnte, war der Lynhaven-Expreß einige hundert Meter von seinem Untergang entfernt. Der Weichensteller in Bayham-Junction sah, wie Bones' Zug mit außerordentlicher Geschwindigkeit heranbrauste. Er erkannte die »Mary Louisa« und dachte sich, was vorgefallen war. Er konnte schon den Rauch des Extrazuges sehen, der über dem Hügel in einer Entfernung von zwei Meilen auftauchte. Es blieb nur eins übrig. Er legte zwei Hebel um. Die erste Weiche ließ den Lynhaven-Expreß auf das Hauptgeleise fahren und brachte ihn so von dem toten Schienenstrang ab, auf dem er am Prellbock in tausend Trümmer zerschellt wäre. Der zweite Hebel bediente das Haltesignal für den Extrazug. Er war allerdings nicht sicher, ob der Extrazug nicht bereits an dem fernen Signal vorbeigefahren war.

Bones hatte seinen Arm um Marguerite gelegt und erwartete einen heftigen Zusammenstoß und dann das Ende. Plötzlich bemerkte er, daß die »Mary Louisa« nach rechts abbog. Er hörte wie der Zug über die Weiche fuhr und holte tief Atem, als er sich auf einer langen, freien Strecke sah. Es dauerte aber doch einige Zeit, bevor er wieder sprechen konnte.

»Wir fahren nach London, mein liebes, altes Fräulein«, sagte er zitternd.

Marguerite lächelte, obgleich sie totenblaß war.

»Ich dachte, es wäre zu Ende gewesen«, sagte sie ernst.

»Ach nein«, erwiderte Bones, der sich wieder erholte, als die Gefahr vorüber war, »der alte Bones hätte das nicht zugelassen!«

Aber trotzdem war es noch unheimlich genug. Die »Mary Louisa« sauste davon wie der fliegende Holländer. Aus allen Öffnungen strömte der Dampf und als Bones zurücksah, bemerkte er das verzweifelte Gesicht des alten Schaffners durch das Fenster.

Er winkte Bones heftig und Bones winkte wieder zurück. Dann wandte er sich und versuchte wieder, den Hebel herumzulegen. Als er nach dem Schaffner zurücksah, stockte plötzlich sein Herz, denn hinter ihm erschien fauchend und unter ungeheuerer Dampfentwicklung eine riesige Lokomotive. Bones vermutete, daß ein Zug dahinter war, aber die Linie war zu gerade, um das feststellen zu können.

»Großer Gott!« seufzte er, »wir werden verfolgt!«

Er mühte sich an dem Hebel ab, obgleich er in diesem Moment besser nichts getan hätte. Aber zu seiner größten Freude bewegte er sich. Die beiden Züge kamen zehn Meilen von Bayham Junction entfernt zu gleicher Zeit zum Stehen. Bones kletterte von der Maschine herunter, sprang auf den sechs Fuß tiefen Weg und ging an der Strecke zurück.

Der erste, dem er begegnete, war ein älterer Herr in einem Gehrock und mit gerötetem Gesicht, der ihn für den Lokomotivführer hielt, ihn auf der Stelle entließ und ihm mit Gefängnis, oder sogar mit Zuchthaus drohte. Er fragte, was zum Teufel er denn damit beabsichtige, einen Kabinettsminister auf seinem Wege aufzuhalten?

»Ach, sehen Sie,« rief Bones, »das ist ja mein lieber, alter Freund, Mr. Chenney!«

»Wer sind Sie denn?« fragte Mr. Chenney böse. »Wie können Sie mich Ihren alten, lieben Freund nennen?! Ich werde dafür sorgen, daß Sie sofort Ihre Stelle verlieren!«

»Kennen Sie denn Ihren alten Tibbetts nicht wieder – welch ein schönes Zusammentreffen!«

Er streckte seine schwarze Hand aus, aber der andere nahm sie nicht.

»Tibbetts,« grollte der Minister, »ach, Sie sind der Narr – der Herr, der die Lynhaven-Linie kaufte, nicht wahr?«

»Gewiß,« sagte Bones, »gewiß!«

»Aber was sucht Ihr Zug denn hier auf dieser Strecke?« fragte Mr. Chenney heftig. »Bilden Sie sich vielleicht ein, daß Sie einen Extrazug aufhalten können? Sie stören die wichtigsten Geschäfte des Landes!«

Der Maschinenführer der großen Maschine kam auf eine Lösung.

»Eine halbe Meile weiter haben wir eine Weiche«, sagte er, »und vor einer Stunde ist kein Zug fällig. Ich will Sie umstellen auf die andere Linie und wenn wir durchgefahren sind, können Sie nachkommen.«

»Aber ich will ja gar nicht nachkommen, mein lieber Freund«, sagte Bones, »ich möchte zurückfahren.«

»Nun gut, das ist noch einfacher,« sagte der Zugführer.

Er brachte den Lynhaven-Expreß eine halbe Meile weiter, fand die Weiche, stellte sie um, telegraphierte der nächsten Station, alle Züge anzuhalten und führte die »Mary Louisa« bis zu dem unteren Geleise.

Dann versagte die »Mary Louisa« jeden weiteren Dienst. Die Lage war so: Die »Mary Louisa« stand auf dem unteren Geleise, zwei Personenwagen waren in der Weiche, und der Wagen des Schaffners befand sich noch auf dem Hauptgleise.

Weder der erfahrene Maschinenführer, noch Bones, noch der Heizer des Extrazuges, noch Mr. Chenney, noch der alte Zugführer konnten die »Mary Louisa« dazu bringen, irgendeine Bewegung zu machen. Der Lynhaven-Expreß sperrte zwei Linien und machte jeden weiteren Zugverkehr unmöglich.

Drei Stunden später erschien eine Abteilung Eisenbahnarbeiter, die die »Mary Louisa« und ihre Anhänger nach Beyham Junction zurückzog.

Bones und Marguerite kehrten mit dem letzten Zug nach London zurück und Bones war sehr nachdenklich und schweigsam.

Aber er war ein Optimist. Am nächsten Morgen sah er eine große Zeitungsüberschrift: »Verleihung von Ehren anläßlich des Geburtstags Seiner Majestät. Zweiundzwanzig neue Ritter.« Er hielt sofort seinen Wagen an, kaufte eine Zeitung und durchsuchte die Liste nach seinem Namen. Aber er war nicht darunter.


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