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Maria Magdalena

Es war kein Geheimnis mehr ...

Das war es auch früher nie gewesen. Immerhin, über das, worüber man jetzt ganz offen sprach, hatte man früher nur leise getuschelt. Man kennt ja die Art. Der eine will dies, der andere will jenes wissen, die Andeutungen verdichten sich und werden zu Gerüchten, die sich erst langsam in einem kleinen Kreise verbreiten, um schließlich in einem sich stets erweiternden größeren Kreise Allgemeingut zu werden. Die Welt, die »alle Welt« ist, weiß es am Ende und schwört sogar darauf. Und nur der Eine, den es am nächsten angeht, ist ahnungslos, weil er so maßlos beschäftigt ist, er geht mit der Miene eines Menschen herum, der in einer ganz anderen Welt lebt, und man belächelt ihn teils mitleidig, teils verächtlich und schadenfroh.

Dieser Eine war Fred Hollander gewesen.

Man liebte ihn eigentlich nicht, denn er war allezeit zu eigenwillig und zu sachlich-nüchtern gewesen. Er gehörte zu den wenigen, die es verstehen, ohne fremde Hilfe und gegen tausenderlei Widerstände aus sich selbst etwas zu machen, die eine eiserne Energie und eine zähe Unerschrockenheit besitzen, die klein anfangen, die langsam Fuß fassen und die von dem Boden, den sie einmal erobert haben, durch nichts mehr zu vertreiben sind.

So einer war er. Sohn ganz armer Eltern, brachte er es aus dem Wege über den schlichten Ingenieur am Ende zum Bauunternehmer allergrößten Stils und zum Besitzer eines Millionenvermögens, dessen Höhe nicht mehr zu kontrollieren war. Aber er hatte auf diesem arbeitswütigen Wege nie Zeit gefunden, sich Freunde zu erwerben. Und seine Frau und seine Kinder waren seine allergrößten Feinde.

Wann fing es eigentlich an?

Eingeweihte behaupteten, daß Ruth Hollander schon vor ihrer Ehe zu allerlei Klatsch Anlaß gegeben habe, und man wunderte sich allgemein, daß der Achtunddreißigjährige, der schon damals am Beginn seiner großen Erfolge stand, dies junge Ding zur Frau nahm, das ebenso zart und biegsam war wie er ungeschlacht und robust.

Die Sache war die, daß er sie liebte, wenn er auch nicht imstande war, ihr das auf jene Art, die sie wohl wünschte, zu zeigen. Sie entstammte einer ehemals reichen, aber mit der Zeit völlig verarmten Familie, und die Heirat mit dem erfolgreichen Groß-Ingenieur und Bauspekulanten bedeutete für sie äußerlich ein sehr großes Glück.

Das genoß sie sogleich in vollen Zügen. Während ihr Mann kaum Zeit hatte, dann und wann seinen zwei Kindern ein paar flüchtige Worte zu schenken, da ihn Unternehmungen aller Art und weite Reisen ins Ausland allzu sehr in Anspruch nahmen, ließ sie sich nichts entgehen, was das gesellschaftliche Leben Berlins an Vergnügungen nur irgend hergab.

Damals begann es, und es ging viele Jahre so. Wer der erste gewesen war, mit dem sie ihren Mann betrogen hatte, das war freilich nicht festzustellen.

Man wurde erst aufmerksam auf sie, als man sich zuraunte, daß sich mehrere zugleich in den Vorzug teilten, ihre Gunst zu besitzen.

Wer?

Man zeigte auf den, auf einen zweiten, auf einen dritten. Ein vierter meldete sich zynisch selbst. Das waren ausnahmslos Männer von Ansehen und mit Namen, und der Skandal, der mehr ein hämisch kicherndes Vergnügen war, beschränkte sich deshalb noch immer auf enge Kreise.

Aber da ereignete sich kurz nach Beendigung des Krieges etwas, das niemand für möglich gehalten hatte. Eines Tages gab es in der Villa des Bauspekulanten einen Eifersuchtsskandal, doch nicht Fred Hollander war es, der ihn machte, sondern einer der zahlreichen Liebhaber seiner Frau, der diese in flagranti mit ihrem eigenen Chauffeur ertappte.

Der Lärm blieb nicht unbemerkt und drang endlich auf Umwegen auch bis zu den Ohren des Gatten. Was sich daraufhin zwischen den Eheleuten zutrug, das erfuhr kein Mensch. Nur soviel war jedem, der offene Augen hatte, klar, daß Fred Hollander von jenem Tage an nicht mehr derselbe war.

Er war über Nacht grau geworden. Aber nicht nur äußerlich hatte er sich verändert, auch seine Tatkraft, so schien es, war vollständig gelähmt. Von all den zahlreichen großen Unternehmungen, die er begründet und geleitet hatte, zog er sich plötzlich zurück, nahm sein Kapital aus ihnen heraus und beging überhaupt eine Reihe von Handlungen, die zum mindesten den Eindruck der Absonderlichkeit erweckten.

Alles, was sein war, Häuser, Bauland, Maschinen, machte er zu Geld, und mit einem Freunde, einem ehemaligen Offizier namens Gabler, als Piloten, unternahm er des Öfteren Fernflüge mit einem Eindecker, von denen er immer erst ein paar Tage nachher zurückkehrte. In diesen Tagen seiner Abwesenheit aber hielt er seine Frau streng eingeschlossen in seiner Villa, unter Bewachung eines athletischen Negers, der den Auftrag hatte, jedem den Eintritt in das Haus zu verwehren.

Das Gerücht, daß Fred Hollander geistesgestört sei, verdichtete sich, als von der Art, wie er seine Frau und seine Familie behandelte, noch weitere Details bekannt wurden.

Er beschnitt, so hieß es, seiner Frau nicht nur alle Bewegungsfreiheit, indem er sie wie eine Gefangene hielt, der jede gesellschaftliche Zerstreuung, auch die harmloseste, streng untersagt war, nein, er entließ auch fast ihre gesamte Dienerschaft, verbot ihr auch den bescheidensten Luxus und zwang sie, häusliche Arbeiten zu verrichten, die sie vordem nicht einmal ihrer Zofe zugemutet hätte. Mit der gleichen drakonischen Strenge, die unerbittlich war, trat er auch gegenüber seinen beiden Kindern auf, insbesondere gegenüber seinem Sohn Bert, den er, obwohl er schon großjährig war, mit einem Male mit dem Geld so knapp hielt wie einen blutjungen leichtsinnigen Gymnasiasten.

War Fred Hollander nun in der Tat irrsinnig oder entsprang die barbarische Strenge, mit der er gegenüber den Seinen verfuhr, nur dem Drange, sich an denen, die ihn ein ganzes Leben lang schmählich betrogen hatten, zu rächen? Diese Frage wäre wohl nie aufgeklärt worden, wenn es seinem Sohn Bert nicht gelungen wäre, sich von den Fesseln, die auch ihn umschnürt hielten, durch einen glücklichen Zufall zu befreien.

Dieser Zufall wollte es, daß er eines Tages Zeuge einer tätlichen Mißhandlung wurde, deren sich sein Vater gegenüber der Mutter schuldig machte, dadurch, daß er nach einem vorhergegangenen Streit wie ein Tobsüchtiger über sie herfiel und sie, die laut um Hilfe schrie, zu Boden schlug.

Diesen Umstand benützte Bert, um durch das Telefon polizeiliche Hilfe herbeizuholen. Die Beamten kamen, und Fred Hollander, nun anscheinend völlig seines Verstandes beraubt, griff in wahnsinniger Wut auch sie an, was schließlich zur Folge hatte, daß man ihn fesselte, und auf die Anweisung Berts hin in eine Privat-Irrenanstalt brachte, um ihn aus seinen geistigen Zustand hin untersuchen zu lassen.

Aus dieser Anstalt kehrte Fred Hollander nicht mehr in seine Wohnung zurück. Man hatte ihn amtlich für irrsinnig erklärt. Seine Familie aber atmete auf, denn sie war von diesem Tage an wieder frei.

Sie war frei und trotz der vielen Millionen, die Fred Hollander offenbar ins Ausland verschleppt hatte und über deren Verbleib von ihm nichts zu erfahren war, noch immer so reich, daß sie nach den Entbehrungen zweier qualvoller Jahre nun wieder aus dem Vollen schöpfen konnte.

Das tat insbesondere Bert, dem auch die Vermögensanteile der Mutter und der Schwester anvertraut wurden, damit er sie in den industriellen Unternehmungen, die er plante, vergrößere. Er lebte, nunmehr ohne die strenge väterliche Kontrolle, jetzt blind darauf los.

Seine Mutter aber, die ihr Alter über sich wie eine Drohung fühlte, ergriff ein toller Rausch. Ihr war, als müsse sie zehnfach nachholen, was sie in den zwei Jahren einer brutalen Gefangenschaft verabsäumt hatte, und sie verlor in dem blinden Drange, gleichsam vor Toresschluß noch schnell einen möglichst großen Fetzen Leben zu erraffen, in einem solchen Maße das Gefühl für das, was gerade noch möglich, und für jenes, das schon eine Verrücktheit war, daß sie alsbald in den Ruf eines Weibes kam, vor dem man einander warnte.

Nein, nun war es kein Geheimnis mehr, denn jetzt pfiffen es schon die Spatzen von den Dächern.

Dazu kam noch, daß der Klatsch, der sich bisher nur mit der Mutter beschäftigt hatte, sich auch der Tochter bemächtigte, von der bekannt wurde, daß sie das Elternhaus verlassen habe und trotz ihrer Jugend schon in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten sei. Dies bewirkte, daß die Villa Fred Hollanders offiziell in Acht und Bann getan und dennoch zu einer Art von Bienenhaus wurde, in das ein- und aus dem ausflog, was gerade die Lust dazu verspürte.

Die Gesellschaft war sehr gemischt. Ein konservativer Großagrarier reichte da etwa einem neuen sozialistischen Machthaber die Hand, ein stiernackiger Berufsringkämpfer einem sich schöngeistig spreizenden Dichter, ein Börsenjobber dem im Dunkel der Nacht heimlich eingeschleppten Prim-Geiger eines Vorstadt-Cafés.

Ruth Hollander schien unersättlich. Indem sie die Männer zu Dutzenden verschlang und in ihrem Genuß ganz wahllos war, hatte sie das Gefühl jenes Rausches, den der Mensch braucht, wenn er um Gräber tanzt.

Denn seitdem ihr bekannt geworden war, daß ihr Mann der Irrenanstalt entwichen sei, ohne daß man seiner wieder hatte habhaft werden können, ging sie in ständiger Todesangst umher, die sie nur zu betäuben vermochte, indem sie sich in den Armen eines Anderen selbst vergaß. Doch diese geheime Angst ließ nicht nach, sie wurde nach der Umarmung mit einem Neuen immer stechender und größer, und so kam es, daß Ruth Hollander, wenn sie überhaupt noch leben wollte, ihren ekstatischen Taumel zum Dauerzustand erheben mußte.

In diesem wirren Fieberzustand, in dem sich das Grauen in die Wollust rettete, während es der Wollust beschieden war, in das Grauen wieder zurück zu taumeln, in diesem Zustand, der halb tolle Gier, halb schon schlaffe Übersättigung war, trat ihr eines Tages ein Mann entgegen, der ganz anders war als alle die anderen, nach denen sie bisher hilflos gegriffen und die sie alsbald schnell wieder von sich gestoßen hatte.

Er wurde durch einen ihrer Bekannten bei ihr eingeführt, und er machte sogleich Eindruck auf sie durch die zurückhaltende Art, auf die er sich von dem leichtfertigen Tone, der um sie her der übliche geworden war, kühl fern hielt. Es schien, als sei es seine Absicht, bloß den Zuschauer zu spielen, und zwar nicht den, der aus bloßer Neugier gekommen war, sondern den Zuschauer, den eine ernste Teilnahme an ihrem Schicksal zu ihr getrieben hatte. Sein Name war Konrad Baron von Feistmantel, und der Mann, der ihn bei ihr eingeführt hatte, bezeichnete ihn ihr als einen Abenteurer internationaler Prägung, von dem man so genau nicht wisse, wie man mit ihm daran sei. Ihr gefiel er auf den ersten Blick.

Aber er ließ sich nicht nehmen, wie sich bisher ausnahmslos alle von ihr hatten nehmen lassen. Doch gerade die taktvolle Kühle, mit der er ihr Widerstand leistete, nämlich nicht aus stolzem Hochmut und aus Verachtung heraus und auch nicht aus sinnlicher Kälte, vielmehr aus einer gewissen Bescheidenheit, die sich nicht entehren wollte, indem er ihr eine Schande antat, – gerade diese zurückhaltende Kühle reizte sie so und brachte sie schließlich in einem solchen Maße fast zur Verzweiflung, daß sie ihn flehentlich bat, sie doch nicht zurückzustoßen. Worauf er ihr mit sichtlicher Verlegenheit zur Antwort gab, daß es ihm unmöglich sei, ihrem Verlangen zu entsprechen.

»Warum?« fragte sie, indem sie gierig nach seinem Arm griff.

»Weil ich Sie liebe,« entgegnete er.

Er sprach das ganz einfach aus, und es wirkte doch eben durch diese Schlichtheit überzeugend. Ruth Hollander horchte erschrocken auf. Ein ähnliches Wort war in diesen Räumen, die von tausendfältiger Lust gleichsam durchtränkt waren, noch niemals gefallen.

Und im gleichen Augenblick verstand sie ihn auch. Zum ersten Male in ihrem Leben nahm sie mit weit aufgerissenen Augen den Schmutz wahr, der sie umstarrte, und sie brach, vor dem Baron niedersinkend, und seine Knie umfassend, in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Und sie verging fast vor Seligkeit, als er sie aufhob und sie mit schlichten Worten zu beruhigen suchte.

»Sie sind krank,« sagte er zu ihr. »Merken Sie das nicht?«

Sie nickte verloren. »Ja. Aber was soll ich tun?«

»Sich besinnen,« sagte er freundlich,

»Ich kann nicht.«

»Warum?«

»Weil ich mich fürchte.«

»Vor wem?«

»Vor meinem Mann.«

Jetzt war es wieder die helle Angst, die sie veranlaßte, sich an ihn zu klammern. Aber unter dem leisen Streicheln seiner Hand schwand alle Furcht, und sie merkte plötzlich, daß sie ihn liebte. Noch nie hatte sie einen Menschen geliebt, aber jetzt tat sie's. Und das machte sie so wunschlos und nahm ihr alle Angst.

»Werden Sie wieder kommen?« bettelte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf. »Nicht hierher,« sagte er zu ihr.

»Wollen Sie mich nicht mehr sehen?«

»Doch,« sagte er.

»Wo?«

»Ich werde Ihnen schreiben,« vertröstete er sie.

Sie verstand das so, daß er erst abzuwarten wünsche, ob sie ihre Beziehungen zu den zahlreichen Anderen aufgeben werde.

Da lachte sie. Lachte verzweifelt und sagte ihm, daß ihr unter seiner Obhut eine Gefangenschaft, wie sie ihr ihr Mann auferlegt habe, eine Seligkeit bedeuten würde.

»Nehmen Sie mich mit,« bat sie ihn zaghaft.

»Wohin?«

»Zu sich!«

»Ich habe kein Heim,« sagte er.

»Das tut nichts,« stammelte sie heiß. »Ich gehe mit, wohin Sie wollen ... Und ich bin reich,« setzte sie, sich schämend, hinzu.

»Vielleicht,« sagte er da dunkel und ging.

Von dieser Stunde an war Ruth Hollander wie umgewandelt. Sie entließ die gesamte Dienerschaft, die sie bisher gehabt hatte, und schloß sich in ihrem Haus von der Außenwelt ganz ab. Nur ein Stubenmädchen und eine Köchin hatte sie noch zu ihrer Verfügung, aber die stammten aus der Fremde und wußten nicht, wie es in dem Hause, in dem sie dienten, bisher zugegangen war. Sie waren von dem scheuen, verängstigten Wesen ihrer Herrin, die an irgend einem schweren Kummer zu tragen schien, nicht wenig betroffen.

Ruth Hollander lebte jetzt nur noch von der einen Postbestellung bis zur nächsten. Briefe kamen haufenweise in ihr Haus. Sie warf sie ungelesen ins Feuer, da sie alle Schriftzeichen zeigten, die sie schon kannte. Sie wartete nur auf einen Brief. Aber der wollte nicht kommen.

Hatte der Baron sie vergessen? Oder brach er sein Wort und zog sich ohne weitere Nachrichten von ihr einfach zurück?

Sie konnte es nicht glauben, und sie glaubte es auch nicht. Aber sein Schweigen machte sie verzweifelt und sie wälzte sich nachts schlaflos in den Kissen.

Ihr Mann war völlig aus ihren Gedanken gelöscht, und sie begriff nicht, wie sie sich jemals davor hatte fürchten können, daß er vielleicht zurück kommen und sie Niederschlagen könnte. Dagegen peinigte sie eine maßlose Angst, sie könnte den Baron verlieren.

Hatte sie denn irgendwelche Wünsche an ihn? Nein, nein. Nur noch einmal sehen wollte sie ihn, noch einmal mit ihm reden. Dann, – ach ja dann wollte sie sich mit dem Gedanken zufrieden geben, daß sie nun alt sei, – sie, die demnächst ihr vierzigstes Jahr vollendete, das vierzigste Jahr ihres bunten, leidenschaftlichen und wohl auch bösen Lebens ...

Da traf endlich ein Brief von ihm ein, und dieser Tag, obwohl feucht-kalt und stürmisch, hatte für sie nur helle Heiterkeit und Sonne. Und doch standen in dem Brief kaum mehr als zwei Dutzend Zeilen. Der Baron schlug ihr vor, sie möchten einander im Tiergarten treffen. Er tat das in höflicher, diskretfreundlicher Form. Aber sie las nicht in, sondern hinter den Worten.

Und sie kleidete sich an, als gehe sie zu einem Fest. Aber sie glich nicht im mindesten der, die sie einmal gewesen war, wenn sie Feste besucht hatte. Der Blick, den sie vor ihrem Weggehen rasch noch einmal in den Spiegel warf, sagte ihr, daß sie wieder schön sei. Aber ihre Schönheit kam diesmal von innen.

Sie trafen einander um die verabredete Zeit, und als wollte ein glücklicher Zufall ihnen wohl, besserte sich augenblicks das schlechte Wetter.

Es war spät am Nachmittag, und es dunkelte schon. Der Himmel war mit dicken Wolken verhängt, und diese schütteten plötzlich reiche Massen zarter Schneeflocken aus, die auf die zahlreichen Sandwege niederflatterten und ihnen alsbald ein weißes Kleid gaben. Es war in diesem Jahr der erste Schnee, der wirklich liegen blieb.

»Welche Angst habe ich ausgestanden, daß Sie mir am Ende gar nicht schreiben könnten,« sagte Ruth Hollander zu dem Baron.

Er bekannte ihr, daß er tatsächlich einige Tage lang entschlossen gewesen sei, nichts mehr von sich hören zu lassen und einfach aus Berlin abzureisen. Nicht, wie sie vielleicht glaube, weil seine Zuneigung zu ihr geringer geworden sei, sondern weil er fürchte, daß er ihr nur Unglück bringen werde.

»Warum?« fragte sie.

»Das läßt sich mit Worten nicht sagen«, erklärte er ihr. »Es ist nur eine Ahnung. Aber sie täuscht mich sicher nicht.«

»Ich fühle das Gegenteil,« widersprach sie ihm. »Aber wenn sie mir auch das größte Unglück brächten, so würde ich das immer noch als ein großes Glück empfinden.«

Sie beichtete ihm, wie verfehlt ihr Leben gewesen sei. Gewiß, sehr reich an äußeren Freuden, aber bettelarm an innerem Glück. Und nun sei sie alt. Aber sie habe die Empfindung, sie könne von ihrer Jugend erst wahrhaft Abschied nehmen, wenn sie aus jenem Becher, der ihr immer vorenthalten gewesen sei, wenigstens einmal einen tiefen Zug getan habe.

»Und dann,« sagte sie, indem sie unwillkürlich nach seinem Arm griff, »möchte ich sterben.«

Es war dunkel um sie und er zog sie an sich. Er küßte sie, und sie lag fast ohne Besinnung in seinen Armen. Als er sie wieder frei gab, war ihr zu Mute, als sei ihr ganzes bisheriges Leben endgültig ausgelöscht. Nichts mehr von Schmutz war darin. Aber auch sie beschlich plötzlich eine dunkle Ahnung, als ob über ihr Schicksal nun irgendwie die Würfel gefallen seien.

»Als ob Sie mir eine böse Macht geschickt hätte, so empfinde ich das,« sagte sie, »aber nur, um Sie mir sogleich wieder zu nehmen.«

»Haben Sie Angst?«

»Nein, nur Bangen.«

»Vor was?«

»Mir geht es wie Ihnen,« erwiderte sie. »Nur fürchte ich, daß ich es bin, die Ihnen Unglück bringt.«

Er lachte dunkel. »Es gibt Menschen, die nichts zu verlieren haben. Und alles zu gewinnen.«

»Gehören Sie zu ihnen?« fragte sie.

Er nickte.

»Sie sind ein Spieler?«

»Ja. Und ich hatte bisher immer Glück. Nur einmal, – da hatte ich Unglück. Und seit dem Tage bin ich gebunden.«

»Durch was?«

»Durch einen Menschen. Durch einen Menschen, der mir ein Geschenk gemacht hat.«

»Womit?«

»Mit meinem Leben. Aber er hat es mir nur geliehen. Und ich muß es zurückkaufen von ihm.«

»Ihr eigenes Leben?«

»Ja.«

»Mit Geld?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, mit einem anderen Leben.«

»Was heißt das?« fragte sie bang.

»Das heißt, daß, wenn ich selbst noch leben will, ein anderer für mich sterben muß. Diesen anderen muß ich opfern. Oder ich muß selbst sterben. Ja.«

Sie klammerte sich voll Schreck an ihn. »Und das ist wahr?«

»Meinst du, ich könnte mit solchen Dingen scherzen?« fragte er, sie plötzlich dutzend. »Sieh mich an!«

Es war schon finster um sie, aber sie standen unter einer Straßenlaterne. Da blickte sie zu ihm auf und fand sein Auge. Das hatte einen sonderbaren Ausdruck. War es Grausamkeit, was darin ausblitzte? Nein, sie sah nur den Ausdruck eines stumpfen Wehs, an dem er wohl schon lange tragen mochte und das ihn zermürbt hatte. Und der leidenschaftliche Drang quoll jählings hoch in ihr, ihm zu helfen, – um jeden Preis ...

»Warum sagst du mir nicht alles?« bat sie zitternd.

»Weil ich nicht kann.«

»Weil du nicht kannst?«

»Und weil ich nicht darf.«

Er drückte ihren Arm so heftig, daß sie das wie einen Befehl empfand, dem sie blind Gehorsam zu leisten hatte. Und sie gehorchte blind. Sie wäre ja, wenn er es verlangt hätte, bereit gewesen, auf der Stelle für ihn zu sterben!

»Aber eins mußt du mir versprechen,« drang sie leidenschaftlich in ihn, »und dies eine mußt du mir schwören! ... Willst du? Versprichst du mir das?«

»Was?«

» Du darfst nicht sterben, – du nicht! ... Das mußt du mir versprechen!«

»Und der andere?«

»Du mußt ihn opfern!«

»Du meinst –?«

»Ich will es,« schrie sie leise auf, »und du mußt mir schwören, daß du's tust!«

»Und du könntest mich trotzdem noch lieben?« fragte er.

»Ja,« sagte sie, »und daß du ihn opferst, das soll auch der Beweis sein, daß du mich liebst!«

»Und wenn du selber darüber stürbest?«

»Was liegt an mir,« sagte sie, hängte sich an ihn und lächelte glückselig.

»Du!« sagte er da leidenschaftlich und nahm sie wieder in seine Arme.

Dabei merkte er erst, daß sie, ohne es zu wissen, von Frost geschüttelt wurde. Da zog er sie dichter an sich und sie beschleunigten ihre Schritte. Eine leere Kraftdroschke kam ihnen zufällig entgegen gefahren. Die rief er an.

»Wir wollen uns jetzt trennen,« sagte er.

Sie fragte: »Wann sehen wir uns wieder?«

»In zwei Tagen,« antwortete er.

»Kommst du zu mir?«

»Nein, sagte er, »aber du wirst zu mir kommen.«

Sie haschte nach seiner Hand und küßte sie dankbar und so schnell, daß er es nicht verhindern konnte.

»Wo wohnst du?«

»Pension Segaste.«

»Um welche Zeit?«

»Um die Dunkelheit,« sagte er, »wenn du mich lieb hast ...«

»Über alles,« flüsterte sie, sah ihn noch einmal an und riß sich von ihm los ...

… Das war vorgestern gewesen, und heute war der Tag, da sie ihn wiedersehen sollte.

Kaum eine Minute war verflossen, in der sie nicht an ihn gedacht hatte. Teils in bösen Zweifeln und Qualen, weil sie die Furcht nicht los wurde, es könnte ihm etwas Übles zugestoßen sein, teils in dem Gefühle eines bangen Glücks, das nicht den Mut aufbrachte, an sich selbst zu glauben.

Auch nachts hatte sie kaum ein Auge zugedrückt. Und jetzt rückte die vereinbarte Stunde des Wiedersehens immer näher.

Sie schmückte sich für ihn.

Aber kaum daß sie ein Kleid angelegt hatte, riß sie es sich auch schon wieder vom Körper, da es sie an etwas erinnerte, an das sie nicht erinnert sein wollte. Gab es denn gar keines, das unbefleckt war von der Vergangenheit, die für sie nun tot war?

Nur eins fand sie, und das war ihr ärmstes. Sie hatte es getragen, als ihr Mann sie in Gefangenschaft gehalten hatte.

Sie zog es an. Und es gefiel ihr, als sie sich darin sah, in seiner Schlichtheit so gut, daß sie, um diesen schlichten Eindruck noch zu erhöhen, auch alle Kostbarkeiten von ihren Fingern und aus ihren Haaren nahm. So würde sie auch ihm gefallen!

Endlich dunkelte es allmählich, und sie trat den Weg an. Sie tat es mit fieberndem Herzen, und ihre wunde Seele war wie in schwarze Tücher gehüllt.

Man solle sie nicht zurück erwarten, hatte sie daheim gesagt.

Ach, sie hatte ja gar kein Heim mehr, denn überall, wo er nicht war, war für sie die Fremde. Ob es sich für sie lohnte, überhaupt noch einmal in die wie ausgestorbenen Räume ihres Hauses zurückzukehren? Sie hegte den unklaren Wunsch, dies möchte nicht mehr nötig sein. Aber das war im Grunde der einzige Wunsch, den sie noch hatte.

Sie hatte den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt, und so war es schon fast finster, als sie vor dem Hause stand, das ihr der Baron als die Pension Segaste bezeichnet hatte.

Kein Fenster an der Front des Hauses war erleuchtet, und dieser Umstand erschreckte sie plötzlich, da sie der Gedanke durchfuhr, ihr Geliebter könnte über Nacht gestorben oder, was ihre zweite Mutmaßung war, aus Berlin abgereist sein.

Hastig drückte sie auf den Knopf der elektrischen Glocke an der Gartentür. Aber sie mußte längere Zeit warten, ehe sich drinnen im Hause etwas zu regen schien. Ein dünnes Licht flammte endlich im Flur auf. Da schöpfte sie wie befreit Atem.

Ein Mädchen kam und öffnete ihr. Ruth Hollander nannte ihr mit versagender Stimme den Namen des Barons. Das Mädchen nickte und bat sie, ihr zu folgen. Ruth Hollander tat es. Ihr pochte heftig das Herz.

Sie stiegen eine Treppe hinauf und gelangten in einen Korridor, den eine Ampel dürftig erhellte. Das Mädchen führte Ruth Hollander in ein Zimmer. Sie möchte ein wenig warten, sagte sie zu ihr, sich darauf entfernend.

Ruth Hollander blieb in der Mitte des Zimmers stehen und blickte sich um. Warum hatte sie mit einem Male das Gefühl, in einem Hause zu sein, das gleichsam nur von Toten bewohnt wurde?

Eine fürchterliche Angst kroch auf sie zu, und wie um ihr zu entrinnen, machte sie ein paar Schritte nach dem Hintergrund des Zimmers. Aber die Angst kroch ihr nach. Ruth Hollander faßte sich an die pochenden Schläfen. Was drohte ihr? Sollte sie fliehen?

Da dachte sie an den Baron. Nein, nicht um sich fürchtete sie ja, sondern um ihn, der vielleicht in Gefahr war. Wo war er? Lebte er noch?

»Konrad«! rief sie plötzlich sehr laut.

In diesem Augenblick wurde eine Portiere zurückgeschlagen, die eine zweite Tür verbarg. Ein Mann stand zwischen ihren Falten in der Öffnung. Ruth Hollander starrte ihn entsetzt an. Er wirkte unheimlich und steinern. Seinem Gesicht fehlte die Nase.

»Konrad!« rief Ruth Hollander noch ein zweites Mal verzweifelt aus.

Dann brach sie zusammen.


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