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Fusel

Die Zeiten waren nicht schwer, aber sie waren schwierig, – das heißt: sie waren kompliziert.

Auch früher hatte man ja verdient. Aber das Verdienen war früher viel einfacher gewesen als heute. Man hatte da entweder in Baumwolle gemacht oder in Wellblech oder in Seife. Dagegen heute?

Man wußte heute, wenn man früh mit einem fetten Auftrag in Rinderschmalz aufstand, wahrhaftig nicht, ob man sich zu Mittag nicht mit einer so gut wie sicheren Schiffsladung von Heringen in der Tasche zu Tisch setzen und am Abend als Grossist in Nachttöpfen schlafen gehen würde.

Die Branchen wechselten und schwankten, und der ruhende Pol in dieser Erscheinungen Flucht blieb Gott sei Dank immer nur dies eine: das Elend der deutschen Valuta. An diesem Elend fraß man sich satt. Und man wurde dick und fett von dieser Nahrung, und man wußte im Grunde nicht mehr wohin mit dem vielen Geld, diesen Bergen von Papier, das der Staat zu drucken nicht müde wurde.

Nein, man hatte es nicht leicht, – wahrhaftig nicht, in keiner Weise ...

Zum Beispiel das Amüsement. Daß ein Mensch, der angestrengt und atemlos hinter der Jagd nach Tausendmark-Scheinen her war, auch, um sich zu entspannen, sein Vergnügen haben wollte, das war klar.

Himmel, wie kinderleicht war das früher gewesen. Da hatte man, zwischen Warenhäusern und Theatern angenehm hin und her pendelnd, allmonatlich sein neues nettes Verhältnis gehabt, hatte in Monte oder sonstwo sein Jeu'chen gemacht, hatte sich abwechselnd in einem Seebad oder in den Alpen gelangweilt und sich im übrigen mit Sekt oder Portwein betrunken.

All das zog heute nicht mehr, denn man hatte schon viel zu viel von diesen Harmlosigkeiten genossen, und man war abgestumpft und müde.

Zur Not reizte einen noch ein Nackt-Tanz oder ein Box-Match. Aber auch diesen Schwindel hatte man schon satt. Es von der Loge aus mit anzusehen, wie einer knock-out geschlagen wurde, das wäre ja recht hübsch gewesen, wenn der Kerl, sobald er einmal glücklich am Boden lag, nicht doch immer wieder aufgestanden wäre.

Ha, die alten Römer mit ihren Gladiatorenkämpfen, ihren wilden Tieren und ihren lebenden Fackeln, – die waren in dem Punkt doch weit fortgeschrittener gewesen ...

Schnabel, indem er solchermaßen meditierte, merkte deutlich, er hatte heute seinen schlechten Tag. Das heißt, in Wirklichkeit war es ja Nacht und eigentlich sogar schon Morgen.

Es ging auf halb drei. Indem Schnabel die Uhr zog, gähnte er in einem Maße, daß ihm die Kinnbacken knackten, und da er absolut keine Möglichkeit einer Zerstreuung fand, klingelte er dem Kellner.

Der Kellner kam und machte in militärisch strammer Haltung vor Schnabel gleichsam Front, der Befehle harrend, die dieser ihm geben würde.

»Sagen Sie, Graf, – welchen Schnaps habe ich heute noch nicht getrunken?«

»Zu Befehl, – von denen, die wir führen, jeden.«

»Jeden?«

»Jeden, – bis auf ordinären Branntwein, – aber den führen wir nicht.«

»Nicht?« sagte Schnabel enttäuscht.

»Nein,« antwortete der mit ›Graf‹ angesprochene Kellner, »das heißt, – wenn Sie ihn befehlen sollten –«

»Ja,« antwortete Schnabel, dem plötzlich eine Idee kam, hastig, »bringen Sie ihn. Ordinären Fusel, eine ganze Flasche. Aber –«

Er hielt den Kellner, der sich entfernen wollte, mit einer Geste zurück.

»– aber, – gehen Sie zuerst einmal hinaus auf die Straße, Graf, und sehen Sie, ob Sie nicht jemand finden, der mittrinkt, – und wenn es auch ein Strolch ist, verstehen Sie?«

Er lehnte sich bequem in den Klubsessel zurück und betrachtete interessiert das Tapetenmuster an den Wänden dieses chambre particulier, in dem er, wenn er seinen Tag hatte, ganz allein zu trinken pflegte, – zu trinken, bis ... na ja –

Er freute sich plötzlich. Teils freute er sich, weil er einen leibhaftigen russischen Grafen, den die Not der Zeit in Deutschland hatte Kellner werden lassen, wie einen Domestiken niedersten Grades auf die Straße hinausschicken konnte, damit er dort für ihn Unrat auflese, teils freute er sich dieses unflätigen Kerls selbst, der sich hoffentlich noch fand, damit er in seiner Gesellschaft eine Flasche ordinären Fusels leeren konnte, – er, Lebrecht Schnabel, der einer der erfolgreichsten Schieber der Reichshauptstadt war ...

Er hob seinen Kopf, denn er vernahm ein diskretes Räuspern. Es war der Zimmerkellner, der schon wieder in strammer Haltung vor ihm stand. Schnabel sah ihn erwartungsvoll an.

»Nun?«

»Es war niemand auf der Straße, – nur ein einzelner Herr.«

»Ein Herr?«

»Ja. Der, wenn Sie es wünschen, bereit wäre –«

»Mitzutrinken?«

»Ja.«

»Branntwein?«

»Ja, auch Branntwein.«

»Holen Sie ihn!«

Schnabel setzte sich zurecht und hatte das unbestimmte Gefühl, als müßte ihm der Fremde, den er sich da aufs Geratewohl von der Straße aufgelesen hatte, irgendein Abenteuer bescheren, das seine schlaffen Nerven angenehm kitzeln würde.

Er liebte solche Scherze. Mit Vorliebe freilich bediente er sich zu seiner Zerstreuung zweifelhafter Existenzen aus dem Norden Berlins, da es ihm zum Beispiel Spaß machte, Brüderschaft mit einem Menschen zu trinken, der vielleicht ein Mörder oder zum mindesten doch ein Einbrecher oder Zuhälter war. Obwohl er im Grunde feig war, so reizte ihn doch als die pikanteste Sensation, die sich ihm bieten konnte, gerade die Gefahr.

Die Tür ging, und Schnabel wendete den Kopf. Ein Mann stand auf der Schwelle, stumm, mit einem recht sonderbaren Blick. Mit einem Blick, der über alle Dinge gleichsam hinwegsah, der sich irgendwie im Unbestimmten zu verlieren schien, das nicht zu fassen war.

Doch diese Verlorenheit des Blicks, die gleichwohl nichts Verträumtes an sich hatte, der im Gegenteil ein verborgener Zug eigen war, der einen seltsam bange machen konnte, – sie war nicht das Einzige, das den Fremden charakterisierte. Was war es noch?

Da es Schnabel nicht fand, meinte er, es müsse wohl in dem Äußeren des Fremden liegen.

Dieses Äußere wirkte nämlich ein wenig komisch. Es wirkte komisch, weil der Fremde Kleider trug, die ihm nicht so recht paßten.

So waren ihm vor allem die Hosen um ein gut Teil zu kurz, obwohl es Hosen bester Qualität und tadellosen Schnitts waren, ebenso wie der Ulster, der sicherlich von einem erstklassigen Schneider nach Maß gefertigt war und der um die Schultern herum doch nicht paßte. Die Schultern waren entschieden zu breit für diesen Ulster, der einen schmächtigeren Herrn zweifellos vortrefflich gekleidet hätte. Dieser Mann da aber sah darin direkt lächerlich aus.

Schnabel lachte denn auch und forderte den Fremden mit einer Geste auf, sich zu setzen.

Das tat jener. Er tat es, ohne den Ulster abzulegen und ohne auch nur den Hut vom Kopfe zu nehmen. Er hatte bis dahin auch noch kein Wort gesagt.

Schnabel goß aus einer Karaffe Branntwein in zwei Gläser, schob das eine seinem stummen vis-à-vis zu und hob das seine, um dem Fremden zuzutrinken.

Sie stießen beide miteinander an. Stießen miteinander an, blickten sich in die Augen und tranken den Inhalt ihrer Gläser auf einen Zug aus.

»Schmeckt es Ihnen?« fragte Schnabel.

»Nein.«

»Warum saufen Sie dann?«

»Weil ich Durst habe,« antwortete der Fremde.

Er goß sich ein zweites Mal ein und trank auch das zweite Glas auf einen Zug aus, während Schnabel, dem das sehr gefiel, seinem Beispiel folgte.

»Mensch,« sagte Schnabel, »wo sind Sie denn entsprungen?«

»Aus dem Irrenhause,« antwortete der Fremde ruhig.

Das war so ruhig und so ernst gesagt, daß es nicht im mindesten den Eindruck eines faulen Witzes machte. Weit eher schon lag eine versteckte Drohung in diesen Worten, die auch zur Folge hatten, daß Schnabel stutzte. Zum Teufel, was für einen sonderbaren Heiligen hatte er da gefangen!

»Aus dem Irrenhause?« fragte er.

»Ja.«

»Sie sind wohl –?« sagte Schnabel und machte den Versuch, zu lachen.

»Irrsinnig,« bestätigte der Fremde. »Ja.«

»Hähä,« meckerte Schnabel, »und das geniert Sie nicht? Das sagen Sie so? ... Bilden sich wohl gar noch etwas darauf ein?«

»Es ist so,« beharrte der Fremde.

»Unsinn,« fuhr ihn Schnabel an. »Natürlich ist es nicht so. Denn wären Sie irrsinnig, dann wüßten Sie ja nicht, daß Sie's sind!«

»Ich bin es nur zuweilen«, bemerkte der Fremde.

»Nur zuweilen?«

»Ja.«

»Wann?«

»In bestimmten Stunden. Wenn es mich packt.«

»So,« sagte Schnabel. »Und jetzt? Sind Sie's auch jetzt?«

»Nein,« sagte der Fremde.

»Hähä,« meckerte Schnabel. »Und besteht Aussicht, daß Sie's noch werden, – ich meine – hähä! noch diese Nacht?«

»Es ist möglich ...«

»Das ist interessant,« rief Schnabel aus, indem er mit seinem Gegenüber ein zweites Mal anstieß, »wahrhaftig, sehr interessant. Sie gefallen mir ... Wollen wir uns über die Sache noch ein wenig unterhalten?«

»Wenn Sie es wünschen –«

»Natürlich, ja. Sie sind ein Unikum, Mann. Sie machen mir Vergnügen ... Schon Ihr Anzug! Wie kommen Sie in die Kleider? Sie passen Ihnen ja gar nicht!«

»Es sind nicht die meinen.«

»Nicht die Ihren? Haha, das ist gut ... Wem gehören sie denn?«

»Ich weiß nicht. Aber ich kann ja nachsehen, – warten Sie ...«

Der Fremde griff in das Innere seines Rockes und entnahm ihm eine Brieftasche in feinem Saffianleder, mit einem Monogramm aus expressionistischen Lettern bestickt, das nicht zu entziffern war. Er durchsuchte sie und griff schließlich nach einer Visitenkarte, die er Schnabel überreichte.

Schnabel las:

Jerobaam Mahlzeit

Dadaist
Dichter
der
›Kleckse‹

»Mahlzeit,« lachte Schnabel, »haha, – das ist gut! Und diesem Mann gehört der Anzug?«

Der Fremde nickte.

»Haben Sie ihn von ihm entliehen?«

»Nein.«

Schnabel machte die Geste des Stehlens. »Haben Sie ihn genommen, – so?«

»Ja,« antwortete der Fremde.

Schnabel schlug mit der geballten Hand auf den Tisch, sein feistes Gesicht war brennend rot vor Vergnügen und sein dicker Bauch wackelte. »Bravo,« rief er aus, »gestohlen! Aber wo denn und wann?«

»Vor etwa zwei Stunden,« antwortete der Fremde, »im Freien.«

»Teufel, wie haben Sie das gemacht?«

Mit ruhigen, sachlichen Worten schilderte es der Fremde, wie er Jerobaam Mahlzeit gezwungen hatte, sich zu entkleiden, und wie er sodann dessen Kleidung selbst angelegt hatte, während dem frierenden Dichter nichts anderes übrig geblieben sei, als sich mit der fortgeworfenen Anstaltskleidung zu bedecken.

»Und das hat dieser Mensch auch getan?«

»Er mußte.«

»Wieso?«

»Weil ich ihn sonst getötet hätte,« antwortete der Fremde und blickte Schnabel starr an.

Schnabel verspürte in seiner Kehle einen Augenblick lang eine Art von Würgen. Trotzdem lachte er. Er stürzte ein weiteres Glas Branntwein hinunter und spürte, wie Leben in sein Blut kam. Er fühlte sich mit einem Male sehr unternehmungslustig und stand gleichsam in Flammen.

»Mensch,« rief er aus, »Sie sind unbezahlbar! Ein Verrückter! Ein Verrückter, der weiß, daß er's ist! Und der es zugibt! ... Haben Sie denn auch einen Namen?«

»Nein.«

»Keinen Namen?«

»Ich habe ihn vergessen.«

»Aber einen Beruf, – den hatten Sie früher doch?«

Der Fremde nickte.

»Nun, und was ist Ihr Beruf gewesen?«

»Mein Beruf«, antwortete der Fremde, »war eine Angelegenheit des Geistes. Des Geistes und des Herzens. Er war sozusagen – – eine göttliche Angelegenheit.«

»He?« brüllte Schnabel.

»Eine göttliche Angelegenheit,« wiederholte der Fremde, »ja, das war er. Mein Beruf war der Glaube. Der Glaube an den Menschen. An das Gute in den Menschen, die ich um dieses Guten willen liebte ... Also war mein Beruf auch die Liebe.«

»Die Liebe,« brüllte Schnabel, »zu den Weibern?«

»Gewiß, auch zu den Frauen.«

»Junge,« gröhlte Schnabel, »du gefällst mir! Prost, Alterchen! Sollst leben!«

Sie stießen miteinander an und tranken aus. Tranken aus und blickten einander wieder an.

Eine ganz maßlose Angst befiel da Schnabel mit einem Male. Aber dieser Angst vor etwas Rätselhaftem in diesem Menschen, der ihm da gegenüber saß und aus den der Schnaps nicht die mindeste Wirkung auszuüben schien, war auch eine Lust beigemischt, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben empfunden hatte. Er war betrunken und doch war sein Kopf so herrlich klar. Welche Nacht! So voller Abenteuer und roter Wunder! Und der Schnaps!

»Bruder,« rief Schnabel aus, »wir wollen einander duzen!«

»Gern,« sagte der Fremde.

»Sollst leben, Bruderherz! Willst verrückt sein? Ist ja zum Lachen! Bist der erste vernünftige Mensch, den ich sehe! ... Sag, kann ich was für dich tun?«

»Vielleicht.«

»Brauchst du Geld?«

»Nein.«

»Schade ... Geld, mein Junge, – siehst du, das ist das, wovon ich viel habe! Wovon mir die Taschen platzen, – da! ... Kennst mich wohl nicht? Ich bin Schnabel! Der bewußte Schnabel, weißt du, der manchmal auch Haase heißt oder auch Krause, – der Name spielt bei uns keine Rolle! Dafür das Geld! Geld haben wir, Geld wie Mist! ... Vor dem Kriege, Alterchen, da waren wir bloß dreckige Hunde, die schon froh waren, wenn sie nur Tausender scheffeln konnten. Im Kriege aber, da haben wir Hunderttausende gemacht und jetzt, – jetzt imponieren uns nur noch Millionen. Der Staat geht Pleite an uns, – aber wir, – ha, guck dir bloß meinen Wanst an!«

Schnabel schlug sich aus den Bauch, trank dem Fremden zu und fuhr fort:

»Ja, Geld haben wir, Geld wie Mist, aber es macht uns nicht mehr die rechte Freude. Die Freude, siehst du, die war da: früher! ... Früher, da waren wir noch auf der Höhe, da stellten wir noch unseren Mann! Wir haben getan, was wir tun konnten, – in jeder Beziehung, verstehst du mich? Im Spielen, im Saufen, bei den Weibern! ... Aber jetzt! Jetzt sind wir müde. Wir sind satt. Jetzt saufen wir noch, so aus Gewohnheit und weil man doch irgendwas haben muß, – weil man was haben muß und weil wir verzweifelt sind, mein Junge. Verzweifelt darüber, daß es nichts mehr gibt, das uns noch reizen könnte ... Oder weißt du vielleicht etwas, das noch neu ist? Einen Trick? Einen Trick, der ein Spaß ist? Ein Höllenspaß, der ein wenig kitzelt?«

»Vielleicht,« sagte der Fremde.

»Dann heraus damit! Was ist es?«

»Ich schlage vor, wir fahren ein wenig spazieren,« sagte der Fremde.

»Wir fahren spazieren?«

»Ja. In Ihrem Wagen ... Es ist doch ein gutes Auto?«

»Und ob!« rief Schnabel aus. »Es ist der beste und schnellste Wagen, den man heute nur haben kann: klassisch eingerichtet, mit allem Komfort der Neuzeit versehen, mit hundert Finessen, mein Lieber ...«

»Umso besser.«

»Was heißt das? ... Willst vielleicht du mich spazieren fahren?«

»Ja.«

»Du bist verrückt!«

»Jetzt noch nicht,« versetzte der Fremde ruhig, »aber vielleicht werde ich es, – beim Fahren ...«

»Beim Fahren?« fragte Schnabel und war unsicher und lüstern zugleich.

»Ja, es ist möglich, daß es mich dann packt ... Und dann fahren wir, nicht wie toll, sondern wirklich toll, – fahren aus Berlin heraus, immer weiter und weiter ...«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Zur Hölle,« rief Schnabel betrunken aus, »wohin wir ja gehören, mein Junge, – du und ich!«

»Ja,« sagte der Fremde, »zur Hölle.«

»Abgemacht!« brüllte Schnabel, indem er in toller Laune plötzlich aufsprang und mit einem Fußtritt die Gläser vom Tisch herunter fegte. »Abgemacht, wir fahren! ... Oder glaubst du, daß ich mich fürchte?«

Der Fremde schüttelte den Kopf.

»Vor dir nicht, vor keinem Menschen und auch nicht vor dem Teufel! ... Ich bin Schnabel, – und Schnabel, mein Junge, der hat noch niemals Angst gehabt, – das sollst du sehen! ... Graf!«

Der Kellner kam und Schnabel warf ihm einen Schein hin.

»Wecken Sie meinen Chauffeur, er soll sich heimtrollen! ... Und du, mein Junge, – komm jetzt und zeig mir, was du kannst!«

Der Morgen dämmerte schon, als die beiden auf die Straße traten. Der Chauffeur hatte den großen Mercedeswagen vor das Tor gefahren und auch schon angekurbelt. Der Motor ratterte heiser. Von dem fahlen Licht, das kalt und feindlich die noch unbelebte Straße durchdrang, hob sich der Wagen wie ein Ungetüm ab, das Unheimliches vorhat.

Der Fremde sprang auf den Sitz des Wagenführers, während Schnabel in das Innere des Wagens stieg und seinem Chauffeur das Zeichen gab, sich zu entfernen. Der Wagen zog an. Eine halbe Minute später bog er schon um die nächste Straßenecke und nahm ein Tempo an, das sich allmählich immer mehr steigerte. Schnabel lehnte sich in die Polster zurück und schloß die Augen. Er hatte plötzlich das unwiderstehliche Bedürfnis, zu schlafen.

Aber es war doch nur ein leiser Halbschlaf, der seine Sinne umfing. Er hörte alles, was um ihn her vorging, nur nahm es für ihn die blassen Umrisse eines Geschehens an, das halb Traum, halb wirkliches Erleben war. Ihm gab er sich mit jener wollüstigen Bangigkeit hin, mit der Fiebernde Träume durchleben, in denen das Unwahrscheinliche wahr, das Wahre dagegen lächerlich und belanglos wird.

Schnabel träumte, es sei der Satan, der seinen Wagen führte. Sauste er, ohne die Erde zu berühren, nicht mit der Schnelligkeit eines Pfeiles durch die Luft? Ja, es war ein wahnsinniges Tempo, in dem der Motor sich drehte, immer toller und toller, leise und monoton singend dabei, eine gespenstische Melodie, die wohl in der Hölle komponiert war. Die Stadt hatte man längst hinter sich gelassen, und nun ging es jener Grenze zu, die der Welt ein Halt setzt, der gähnende Abgrund kam, das dunkle Nichts ... Würde der rasende Wagen zögern oder würde er doch den kühnen Sprung tun? Ach, er tat ihn! Wie im Fluge schleuderte er sich selbst in das Nichts, das er durchsauste, bis – – –

Schnabel öffnete die Augen und schloß sie sogleich wieder, von dem Sonnenlicht geblendet, das ihn getroffen hatte. Er war plötzlich nüchtern und wach. Und die Angst, die er bisher nur dumpf empfunden hatte, nahm für ihn die beißende Form eines tödlichen Schreckens an. Wo war er?

Er rieb sich die Augen und blickte endlich auf. Rechts und links flogen welke Wiesen und kahle Felder an ihm vorüber, mit Blitzesschnelle. Es war Tag um ihn. Die Sonne war soeben aufgegangen.

»Mensch,« schrie Schnabel heiser auf, »he, – hören Sie!«

Mit beiden Händen trommelte er gegen die Wand, die ihn von dem offenbar doch toll gewordenen Wagenführer draußen trennte. Doch der hörte nicht. Schnabel sah nur seinen Rücken, der steif und wie aus Eisen war und der sich nicht rührte. Und auch die Hände des Irrsinnigen am Lenkrad sah er noch. Fest lagen sie dort, umklammerten es und schienen entschlossen, nicht nachzugeben, um keinen Preis, was auch geschehen mochte ...

»He – Mensch! – Mann! – he!«

Schnabel brüllte. Er brüllte wie ein Tier. Er war aufgestanden und warf sich mit der ganzen Schwere seines massigen Körpers gegen die Vorderwand, während seine Augen etwas Glasiges annahmen. Sein Herz arbeitete zum Zerspringen, er spürte seine Schläge bis oben an der Kehle, deren Stimme plötzlich versagte. Und mit einem jähen Ruck fühlte er sich mit einem Male auf den Sitz zurückgeschleudert. Der Wagen hatte eine scharfe Kurve der Landstraße in einem so rasenden Tempo genommen, daß es ein wahres Wunder war, wieso er nicht umkippte.

Schnabel wimmerte plötzlich. Er wimmerte wie ein Kind, das weiß, daß alles Sichsträuben gegen eine Strafe, die unvermeidlich ist, keinen Sinn hat. War seine Strafe also jetzt da, war auch seine Stunde gekommen? Die Stunde, da abgerechnet, da jeder Saldo aus dem großen Schuldbuche des Lebens erbarmungslos getilgt wird? Er ergab sich. Denn er fühlte, daß er in der Hand eines Irrsinnigen war, auf den, da er ohne Verstand war, jede Logik ohne Eindruck bleiben mußte ...

Das heißt, – nein, nein!, – er ergab sich nicht!

Wenn es schon unvermeidlich war, daß er irgendwo zerschellte, an irgendeinem Kilometerstein oder Baum, mit dem der Verrückte früher oder später zusammenprallen mußte, ja, hatte er es denn dann nötig, diesen Moment abzuwarten, untätig, in unerträglicher Todesangst?

Etwas wie eine letzte Energie durchzuckte Schnabel. Er erhob sich. Die Knie zitterten ihm zwar, aber er hielt sich doch aufrecht. Und plötzlich griff er an die Klinke der Wagentür links, die er mit aller Anstrengung niederdrückte. Die Tür öffnete sich, ein Spalt tat sich auf, – und draußen lockte die Freiheit!

›Tu ich's,‹ dachte Schnabel, ›oder tu ich's nicht?‹ Seine Lippen verzerrten sich zu einem Lächeln. Er sah den Straßenrand, zählte die Kilometersteine, die an ihm vorüber sausten. Ob der Sprung, den er da plante, gefährlich war? Freilich, gefährlich war er. Aber er war nicht unbedingt tödlich, mußte es nicht sein. Man sprang eben, um die Wucht des Luftdrucks abzuschwächen, mit aller Kraft nach vorn. Und man brach sich wenn man Glück hatte, höchstens die Beine ...

›Die Beine,‹ dachte Schnabel und machte sich lächelnd Mut, ›ha, die Beine ...‹

Noch zitterte er zwar, aber schon glaubte er wieder an sein Glück. Und auch an seinen Mut glaubte er wieder, an jene Frechheit, die ihn bisher noch niemals verlassen hatte, auch in den prekärsten Lagen seines Lebens nicht. Wie, sollte ein Irrsinniger imstande sein, seinem erfolgreichen Leben ein jähes Ende zu setzen? Ha!

Mit einem von Wut und Trotz diktierten Faustschlag stieß Schnabel die Wagentür nun völlig auf. Er stand an der Öffnung und klammerte sich mit beiden Händen am Tür-Rahmen fest, den Blick starr und finster auf die Landstraße gerichtet, über die der Wagen leise surrend hinglitt, – schnell, schneller, immer schneller ...

Er spürte ein seltsames Kitzeln in der Gegend des Magens, und plötzlich stieg ihm alles Blut zu Kopf, denn der endgültige Entschluß war reif in ihm geworden. Und er duckte sich, – duckte sich zum Sprunge ...

Und dann sprang er. Sprang mit der Empfindung eines Menschen, der sich widerstandslos dem Dunklen preisgibt, hinaus ins Leere, blind, lautlos, starr lächelnd, – und flog klatschend gegen einen Baumstamm, der ihn fällte, so daß er, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben, zu Boden fiel und leblos liegen blieb ...

Der Wagen aber raste weiter. Raste die Landstraße entlang, an Feldern und Wiesen vorbei, durch Dörfer und durch Städte. Alle, die ihn kommen sahen, wichen entsetzt vor ihm zurück, denn irgendetwas, das von seinem Führer ausging, verbreitete kalten Schrecken ...


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