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Es mochte um Mitternacht sein, und es war im September. Die Tage verglühten nun schon sehr zeitig. Kaum daß die Dämmerung vorüber war, legte sich ein Hauch von Kühle über die Wiesen, auf denen verspäteter Löwenzahn blühte. Nur der Wald hielt die während des Tages gesammelte Wärme noch fest. Aber wer suchte nachts ohne triftigen Grund einen Wald auf?
Dennoch trat in dieser Nacht ein junger Mann aus dem Walde. Aus dem Walde, der eigentlich nur ein Wäldchen war. Ein Wäldchen, das sich bogenförmig um ein großes Grundstück zog, das, von einer Mauer umgeben, gleichsam still schlafend da lag.
Dies Grundstück umfaßte drei Gebäude: ein größeres Haus, das den Charakter eines gefälligen, neuzeitlich gebauten Sanatoriums hatte, dicht daneben eine kleinere Villa in kokettem Schweizer Stil und ein drittes Gebäude von mehr nüchternem Aussehen, in dem man etwa die Wohnungen des Wirtschafts- und Dienstpersonals vermuten durfte. Kein Fenster in all diesen Häusern war von einem Licht erhellt. Ein bleiches Licht spendete allein der Vollmond, der soeben hinter den Spitzen des kleinen Tannenwaldes aufstieg.
Aus diesem Walde trat, wie bemerkt, in dieser Nacht ein Mann. Ein junger Mann, der sehr schlank und etwas mehr als mittelgroß war und der durch nichts weiter auffiel als durch eine Hornbrille mit sehr großen kreisrunden Gläsern, die dem altmodischen Wäldchen nicht recht passen wollten. Er trug einen modern geschnittenen Ulster und war auch sonst so gekleidet, daß er sich ruhig in dem von bester Gesellschaft besuchten Café einer Großstadt oder beim Fünfuhr-Tee in einer kommerzienrätlichen Villa hätte sehen lassen können.
Das tat er auch recht häufig, und er tat es nie, ohne auch Erfolg zu haben bei jenen Leuten, die im Café und bei Fünfuhr-Tees gleichsam zu Hause sind und die der Zumutung, um diese Stunde ein einsames Wäldchen aufzusuchen, einfach verständnislos gegenüber gestanden hätten. Nun, auch der junge, glattrasierte, hornbebrillte Mann unternahm die seltsame nächtliche Exkursion nicht ohne zwingende innere Gründe.
Nicht daß er etwa verliebt gewesen wäre. Während er in diesem Augenblick aus dem Walde trat und den sauberen schmalen Pfad einschlug, der zu der Mauer hinführte, die das einsame Grundstück umschloß, fiel das Licht des Vollmonds auf sein Gesicht. Jeder, der etwa Gelegenheit gehabt hätte, es zu sehen, hätte sofort darauf geschworen, daß das nicht das Gesicht eines Verliebten sei. Schon deshalb nicht, weil der Ausdruck, der darin lag, von jeder Verträumtheit oder Innigkeit, wie sie ja der stillen, monddurchtränkten Nacht angemessen gewesen wären, durchaus frei war.
Im Gegenteil, dieser Ausdruck hatte etwas Spöttisches an sich, etwas von einer Malice, die sich über sich selber lustig machte. Warum? Nun, das hätten wohl nur die entscheiden können, die Jerobaam Mahlzeit näher kannten.
Deren gab es immerhin schon dreihundert. Ja, von jenen Dreihundert, die Subskribenten der auf echt holländisch Bütten gedruckten, handschriftlich vom Autor signierten und in Gazellenleder gebundenen lyrischen Dichtung »Die Kleckse« waren, war anzunehmen, daß sie Jerobaam Mahlzeit kannten. Das taten sie wohl auch, wenn sie sich auch über den Wert, der Jerobaam Mahlzeit zuzusprechen sei, nicht einig waren. Während nämlich die eine Hälfte von ihnen diesen neuzeitlichsten Dichter für ein Genie hielt, bezeichnete ihn die andere Hälfte als irrsinnig und als reif für das Sanatorium in Hirschweide.
Jerobaam Mahlzeit war aber weder verrückt noch ein Genie. Er war vielmehr ein moderner junger Mann mit einem durchaus nüchternen Verstande, der aus der begüterten Familie jener Berliner Mahlzeits stammte, die Millionäre geworden waren, dadurch, daß sie im Kriege à la hausse und in der Revolution à la baisse spekuliert hatten. Da, was das Materielle anbelangt, für Jerobaam Mahlzeit also auf das beste gesorgt war, so blieb ihm, damit auch er unter seinen geschäftlich regsamen Brüdern durch irgendetwas exzelliere, nur übrig, seine Tätigkeit auf das Gebiet des Geistigen zu verlegen. Mit klugem Instinkt für das, was leicht war, wählte er die Kunst, und zwar die Dichtkunst.
Aber er wurde kein Dichter von gestern und auch keiner von heute, ja nicht einmal einer von morgen. Er entschied sich, um ganz radikal zu sein, für das Übermorgen, nämlich für den Dadaismus. In dem nahm er vermöge seines Erstlingswerks »Die Kleckse« alsbald eine so prononcierte Stellung ein, daß ihn, wie bemerkt, die einen für ein Genie, die anderen aber für reif zu einem Daueraufenthalt im Sanatorium Hirschweide erklärten.
Was ihn selbst betrifft, so muß gesagt werden, daß er viel zu verständig war, um sich für ein Genie zu halten. Immerhin besaß er Humor genug, um den drolligen Wunsch zu empfinden, sich das Sanatorium von Hirschweide einmal anzusehen, von außen wenigstens, wozu er, um passende Impressionen für seine neue Dichtung »Das Lallen« zu sammeln, diese Nacht gewählt hatte.
Und nun war er da. War da, lächelte malitiös, starrte die mondscheinübergossene Mauer der Privat-Irrenanstalt an und harrte der Eindrücke, die da kommen sollten. Und er wartete nicht vergebens.
Denn kaum daß er aus dem Walde getreten war und sich vor der Mauer postiert hatte, die geistige Kranke reicher Herkunft für alle Zeit von der Außenwelt abschloß, trat ein Ereignis ein, auf das er mitnichten vorbereitet gewesen war. Er, der nur lyrische Eindrücke hatte sammeln wollen, sah sich plötzlich vor ein Erlebnis gestellt, das für ihn, der auf Ungewöhnliches, Abenteuerliches, Hirnverbranntes nur im Geiste nicht aber in der Wirklichkeit eingestellt war, nicht ohne körperliche Folgen ablaufen sollte. Zunächst freilich war er nur baff und staunte. Staunte so sehr, daß er gleichsam zu Stein wurde.
Das wäre vielleicht auch einem anderen mit kräftigeren Nerven passiert, als Jerobaam Mahlzeit sie dank eines ausgiebigen Cocaingenusses hatte.
Denn was sah er? Er sah, wie in dem ersten Stock des Sanatoriums plötzlich ein Fenster geöffnet wurde, in dessen Rahmen die Gestalt eines Mannes erschien. Die Gestalt eines Mannes in Anstaltskleidung, der sich weit in die Nacht hinaus beugte, als prüfe er für ein Vorhaben, das er plante, das Terrain.
Er blickte nach oben, nach unten, nach beiden Seiten, schwang sich dann auf das Fensterbrett, ergriff mit beiden Händen die Dachrinne, die in seiner Nähe an der Mauer hinab lief, schwebte einen Augenblick lang auf halsbrecherische Art in der Luft und ließ sich dann mit katzenhafter Gewandtheit an der Dachrinne herab, lautlos und geschwind, immer tiefer und tiefer, bis er vor den Augen Jerobaam Mahlzeits, dem die Mauer die weitere Aussicht versperrte, verschwand.
Hier griff sich Jerobaam Mahlzeit an den Kopf, wie um sich zu überzeugen, ob er wach sei oder ob er bloß träume.
Nein, er war wach, und er wußte im Augenblick wirklich nicht, ob er dies bedauern oder ob er sich dessen freuen solle. Nicht zu verkennen war freilich, daß er ein Erlebnis gehabt hatte, das seiner neuen dadaistischen Dichtung »Das Lallen« sicherlich irgendwie zu Gute kommen würde. Diesem positiven Gewinne stand aber ein nicht unmöglicher Verlust gegenüber. Jerobaam Mahlzeit nämlich war nur in seiner Kunst unerschrocken, im banalen Leben dagegen feig. Sollte er, dessen Vater es verstanden hatte, ihn in dem vergangenen Kriege vor der Front zu retten, nun den Händen eines offenbar Irrsinnigen zum Opfer fallen, der allem Anschein nach in diesem Augenblick den Versuch unternahm, aus dem sicheren Gewahrsam des Irrenhauses auszubrechen?
Wäre Jerobaam Mahlzeit ein Mensch gewesen, der, anstatt zu reflektieren, gehandelt hätte, dann hätte er sich, wie die Dinge lagen, längst auf die Socken gemacht und wäre geflohen. Ein solcher Mensch war er aber auch dort nicht, wo er eine Gefahr unmittelbar vor sich sah. Diese Gefahr hypnotisierte ihn vielmehr und machte ihn widerstandslos und starr. Und so kam es, daß er in diesem seltsamen Abenteuer, dessen Anfang er nur schauend wahrgenommen hatte, nun auch persönlich verstrickt wurde, nicht so sehr handelnd zwar, aber doch leidend.
Denn schon tauchte der Irrsinnige in der blauen Anstaltskleidung wieder vor ihm auf, diesmal dicht vor ihm auf der Mauer.
Zunächst sah Jerobaam Mahlzeit nur seinen Kopf, und dieser Kopf allein flößte ihm schon eine namenlose Furcht ein.
Er war so kurz geschoren wie der Kopf eines Sträflings, und unter der hohen gewölbten Stirn glühten zwei Augen auf eine recht unheimliche Art. Die Nase des Irrsinnigen beruhigte Jerobaam Mahlzeit einigermaßen, denn sie hatte einen edlen römischen Schnitt. Dagegen flößte ihm erneutes Entsetzen der Mund ein, der, wohl infolge übergroßer körperlicher Anstrengung, geöffnet war und ein gesundes starkes Gebiß sehen ließ, das richtige Gebiß eines Raubtiers.
Und dann saß der Unheimliche nach einem gewaltsamen jähen Ruck plötzlich hoch oben auf der Mauer, um nach kurzem Ausruhen von ihr auf die Erde hinab zu springen, dicht vor Jerobaam Mahlzeit hin, der, vor Angst schlotternd, mechanisch an seinen Hut griff und grüßte.
»Guten Abend«, sagte Jerobaam Mahlzeit mit tonloser Stimme.
Sonst sagte er nichts. Wie hypnotisiert starrte er vielmehr in die Augen des Irrsinnigen dicht vor ihm, ergeben darauf wartend, daß dieser ihm die Hände um die Gurgel legen und ihn so erdrosseln werde. Daß er keinen Ton würde von sich geben können, das wußte er. Im Grunde tat es ihm nur leid, daß er so frühzeitig eine Karriere abschließen mußte, die seine berühmten »Kleckse« so vielversprechend eingeleitet hatten.
Doch nichts von dem, was Jerobaam Mahlzeit erwartet hatte, geschah. So fassungslos er nämlich selber war, so ruhig benahm sich der Irrsinnige, von dem also gerade jetzt wohl kein Tobsuchtsanfall zu befürchten war. Nachdem er Jerobaam Mahlzeit einige Sekunden lang scharf gemustert hatte, nickte er ihm nachlässig zu und erwiderte seinen Gruß.
»Guten Abend«, sagte auch er.
Diese Höflichkeit gab Jerobaam Mahlzeit einigermaßen wieder Rückgrat. Er lächelte, – verzerrt zwar, aber er lächelte doch. Und indem er seinen Kopf wiederum bedeckte, tat er gleichsam tastend einen Schritt nach rückwärts.
»Wer sind Sie?« fragte ihn der Irrsinnige da rauh.
»Pardon, – gestatten: Jerobaam Mahlzeit!«
Der Dichter sagte das zitternd und gehorsam wie ein Schüler, der das aufgegebene Pensum schlecht memoriert hat und den nun der Lehrer ausfragt. Dabei lief ihm der kalte Angstschweiß über die Stirn. Aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen.
»Was tun Sie hier?«
»Ich sammle Eindrücke«, gab Jerobaam Mahlzeit zur Antwort.
»Was?«
»Ich meine, – verzeihen Sie, – ich wollte sagen, – ich bin Dichter ...«
»So!«
Dies ruhig und kräftig hingesetzte Wort hatte einen Unterton von Spott. Dieser Spott beruhigte Jerobaam Mahlzeit ganz ungemein. Er merkte, es ging nicht mehr um sein Leben. Seine Dichtung aber, – mein Gott, die gab er diesem Irrsinnigen, der sie ja doch nicht verstand, mit Vergnügen preis.
»Sie werden mir einen Gefallen erweisen«, sagte der Irrsinnige plötzlich in sehr bestimmtem Tone.
»Gern«, antwortete Jerobaam Mahlzeit und war ganz Dienstbeflissenheit.
»Sie werden sich auf der Stelle entkleiden!«
»Wie?«
»Ja,« wiederholte der Irrsinnige drohend, »das werden Sie, – sofern Ihnen Ihr Leben lieb ist!«
Wie lieb ihm sein Leben war, das merkte Jerobaam Mahlzeit erst jetzt, wo sich ihm erneut die Möglichkeit eröffnete, daß er es verlieren könne.
Wahrhaftig, er wartete keine weiteren Weisungen mehr ab, sondern er begann eilig damit, alle seine Kleider abzulegen. Zuerst den Ulster, dann Rock und Weste, dann die Schuhe und schließlich auch die Hosen.
So stand er, ehe fünf Minuten verstrichen waren, in eleganter Unterkleidung da, vom Mond mild beschienen und vor Frost dennoch mit den Zähnen klappernd. Und demütig blickte er sein Gegenüber an, stumm fragend, ob noch Weiteres gewünscht werde.
»Auch die Wäsche«, befahl der Unerbittliche.
»Auch die –?«
»Ja, – alles!«
Das klang so bestimmt, daß Jerobaam Mahlzeit augenblicks gehorchte.
Er zog auch seine Socken, seine Unterhosen und sein seidenes Hemd aus, so daß er schließlich nackt dastand, – hüllenlos und nackt vor der mondbeschienenen Mauer des Irrenhauses, in dieser kühlen Septembernacht, in der er hatte Impressionen sammeln wollen ...
Aber auch der Irrsinnige hatte inzwischen seine blaue Anstaltskleidung abgeworfen, unter der er nichts trug als ein Hemd, das er Jerobaam Mahlzeit zuwarf, mit dem Bedeuten, es anzulegen, welchem Befehle der Dichter, ohne mit einem Wort zu protestieren, auch nachkam.
Auch die blaue Anstaltskleidung zog er an, und als er eben damit fertig war, da bemerkte er, daß auch der Irrsinnige sich anzukleiden begann, mit seinen, Jerobaam Mahlzeits, Sachen, die ihm im großen ganzen paßten. Und ehe weitere fünf Minuten verstrichen waren, da war der Tausch zwischen den beiden vollzogen.
»So,« sagte der Irrsinnige, indem er in Jerobaam Mahlzeits warmen Ulster schlüpfte, »und nun geben Sie mir Ihre Adresse.«
»Meine Karten,« antwortete Jerobaam Mahlzeit, »befinden sich in meiner Brieftasche, mein Herr.«
»Ist auch Geld darin?«
»Ja.«
»Wieviel?«
»Ich schätze: an tausend Mark.«
»Es ist gut. Alles wird Ihnen wieder zugestellt werden ... Ich danke.«
Mit diesen nachlässig hingeworfenen Worten entfernte sich der Irrsinnige. Er schritt eilig den Pfad hinauf, der zum Wald hin führte.
Jerobaam Mahlzeit aber blickte ihm klopfenden Herzens nach. Erst als er im Walde verschwunden war, atmete er tief auf, lehnte sich erschöpft an die Mauer des Irrenhauses und schloß die Augen. Schloß die Augen und brach, von den letzten Resten seiner Kraft verlassen, mit einem Male zusammen.
In diesem ohnmächtigen Zustand fand ihn am nächsten Morgen ein Wärter.
Erstaunt hob er ihn auf und trug ihn in die Anstalt hinein, wo er schließlich dem Chefarzt zugeführt wurde, der nicht recht wußte, was er mit ihm anfangen solle.
Denn zum ersten Male in seinem Leben sprach Jerobaam Mahlzeit so verworren, wie er bisher nur gedichtet hatte, und da er schließlich, um sich zu legitimieren, aus seiner lyrischen Dichtung »Die Kleckse« zu rezitieren begann, so entschied man, daß es wohl das beste sei, ihn bis auf weiteres hier zu behalten ...