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Der Taschendieb

Der Mensch muß leben. Das heißt, er kann, wenn er will, auch sterben. Aber der Fälle, da er das will, gibt es nicht viele. Die Regel ist vielmehr, daß der Mensch leben will, und sofern dieser sein Wille noch dazu in ihm recht stark ist, dann scheut er selbst vor den verwegensten Mitteln nicht zurück, ihn in die Tat umzusetzen. Zu seiner Entschuldigung pflegt er dann anzuführen, es bleibe ihm ja keine Wahl. Denn es ist durchaus irrig, anzunehmen, daß die Möglichkeit, nur sein Dasein zu behaupten, für einen Menschen immer leicht sei.

Freilich, die Masse hat es leichter. Sie hat es selbst dann leicht, wenn sie es sehr schwer hat, weil die Ansprüche, die sie für die Erhaltung ihres nackten Daseins stellt, weder sehr hoch noch kompliziert sind.

Die Masse hungert nicht, sofern sie nur ein Stück trockenes Brot hat, wenn ihr der Magen knurrt, und sie friert nicht, wenn sie ihre Blößen nur mit ein paar warmen Lumpen bedecken kann.

Aber alle Werte dieser Welt sind relativ. Das, was dem einen ein Fest sein kann, ein warmes Gulasch aus Pferdefleisch zum Beispiel, das kann für den anderen zu einem Selbstmordmotiv werden.

Die Tatsache, daß einer von sich sagt, er müsse hungern, wenn er sein erstes Frühstück nicht in einem erstklassigen Weinrestaurant einnehmen kann, und er friere, wenn ihm für die Wintermonate nicht ein echter Fischotterpelz zur Verfügung steht, – diese Tatsache kann nur jenen absurd erscheinen, die gewohnt sind, die Dinge nur in ihrer Oberfläche zu betrachten. Der psychologische Angelpunkt aber, um den sich alles dreht, liegt tiefer ...

In dieser Art meditierte Konrad Baron von Feistmantel, während er sich tief in die behaglichen Polster eines Schnellzugsabteils erster Klasse lehnte.

Es war der Nachtschnellzug, der von Frankfurt nach Berlin fuhr. Der Baron hatte das Abteil von Frankfurt aus allein inne gehabt, aber vor einer halben Stunde, in Eisenach, war ein zweiter Fahrgast zugestiegen. Der Baron hatte das anfangs etwas mißfällig vermerkt. Doch sein Mißmut war alsbald dem Gefühle einer aufrichtigen Befriedigung gewichen, als er den Zugestiegenen in aller Heimlichkeit etwas näher ins Auge gefaßt hatte.

Es war ein Herr. Ein Herr, der in mehrfacher Hinsicht sogleich auffiel. Der teils angenehm auffiel, dadurch, daß sein Äußeres und sein ganzes Wesen den Geist einer unverkennbaren enormen Wohlhabenheit atmete, teils aber auch unangenehm durch ein Etwas, das sich sofort ein jeder merkte, wenn er ihn nur einmal gesehen hatte.

Was war das?

Es war seine Nase. Seine Nase, die überhaupt gar keine Nase war, sondern ein groteskes Ersatzstück für eine solche, die in ihrer ursprünglichen Form sicher einmal vorhanden gewesen war, die dieser sonderbare Mensch aber auf irgendeine Art verloren haben mußte, so daß man ihm ein Surrogat hatte ansetzen müssen. Wenn er dadurch gewonnen hatte, dann sicher nur an Originalität. Ein Gesicht wie das seine hatte gewiß nicht seinesgleichen.

Denn sein Gesicht, das früher vielleicht nicht unsympathisch gewesen war, hatte die Merkmale einer Häßlichkeit angenommen, die direkt physisch schmerzte. Doch dieser abscheuliche Lappen, der das Loch verdeckte, das früher von einer richtigen Nase verdeckt worden war, war es nicht allein, das seinem Gesicht etwas geradezu Grauenhaftes und Unheimliches gab. Nein, es kam noch hinzu, daß der Mann sich gar keine Mühe zu geben schien, das Zerrbild seiner Nase zu verbergen oder den fatalen Eindruck, den sie machen mußte, doch zu mildern. Trug er sie nicht so, als wünsche er, daß man sie auch sehe?

Bei Gott, man konnte das Gefühl haben, sie sitze in seinem Gesicht wie eine Drohung, – wie eine finstere Drohung gegen jedermann, der etwa gewillt war, sie leicht oder gar spaßhaft zu nehmen. Nun, es lachte wohl niemand, wenn er sie sah, wohl aber war anzunehmen, daß Frauen mit schwachen Nerven bei ihrem Anblick leicht gruseln konnten.

Nun, es mochte sein, daß Konrad Baron von Feistmantel mancherlei sein eigen nannte, Minderwertiges und Gutes, Echtes und von ihm bloß Erborgtes, – dies eine, daß er schwache Nerven habe, konnte kein Mensch von ihm sagen.

So genierte ihn denn die Nase seines Gegenübers so gut wie gar nicht, er war, nachdem er ihr Vorhandensein kurz und sachlich zur Kenntnis genommen hatte, mit ihr auch schon fertig und wendete seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu, – Dingen, die der neue Coupeégenosse gleichfalls an sich trug und die den Baron ungleich stärker interessierten, als es auch der ungeheuerlichste körperliche Defekt oder Vorzug hätten tun können.

Vor allem war dies eine Busennadel. Eine Nadel, die recht nachlässig in der sonst schlichten Krawatte des Mitreisenden saß und deren Perle so groß war, daß sie einem, der für dergleichen Verständnis und Interesse hatte, unmöglich entgehen konnte. Sowohl das Interesse wie auch das Verständnis für die Nadel waren Konrad Baron von Feistmantel nicht abzusprechen, und es wäre wohl schwer, wenn nicht gar unmöglich gewesen, zu entscheiden, welches von beiden größer war.

In diesem Augenblick freilich wurde zunächst das Verständnis in dem Baron rege, das sich darin äußerte, daß er als ein praktischer Mann sogleich daran ging, die Nadel zu schätzen. Er hatte Übung darin, und um die Sicherheit, mit der er bei dieser Tätigkeit fast immer das Richtige zu treffen wußte, hätte ihn wohl mancher Fachmann beneidet.

»Was ist die Perle wohl wert?« fragte sich Konrad Baron von Feistmantel.

Und indem er mit der Miene eines Menschen, in dessen Wesen sich Skepsis und kühne Tatenlust teilen, beide Mundwinkel senkte, gab er sich gleich darauf auch selbst die Antwort: »Unter Brüdern gut achtzigtausend Mark.«

Damit aber wurde das Verständnis, das er für den Wert der Nadel bewiesen hatte, auch schon durch das persönliche Interesse abgelöst, das ihm die Nadel einflößte, in einem weit höheren Maße einflößte, als sich dies etwa durch ästhetische Gründe hätte rechtfertigen lassen. Gewiß, der Baron war ein Gentleman, der Geschmack hatte, aber es kann nicht länger verschwiegen werden, daß sein fein entwickelter Geschmack für alles, das echt und teuer war, in einem diametralen Gegensatze stand zu den pekuniären Mitteln, über die er verfügte.

Er war zwar ein Baron, aber ein durch die Revolution verkrachter. Und wenn er dennoch noch nicht zum Revolver gegriffen hatte, um einem Leben ein Ende zu machen, das, seitdem die von weiland seinem Herrn Papa allzu generös gezeichnete österreichische Kriegsanleihe nur mehr Papierwert hatte, eigentlich jeden Sinn verloren hatte, – so lag der Grund hierfür in der Tatsache, daß der Baron eben über Fähigkeiten verfügte, die es ihm ermöglichten, reichlich zu ernten, ohne daß er auch nur das Geringste gesät hatte.

»Ja, man muß leben,« sagte der Baron auch in diesem Augenblick wieder zu sich, indem er die Busennadel seines Gegenübers mit einem flüchtigen Kennerblick streifte.

Und er fügte, um diese Sentenz auch der Individualität seiner Person anzupassen, hinzu: »Ein Mensch wie ich, Baron, ehemaliger Rittmeister bei den Husaren, sechsunddreißigjährig, Kavalier nicht bloß aus Neigung, sondern aus Schicksal, – ein solcher Mensch muß, wenn überhaupt, dann so leben, wie es seinem Stande entspricht!«

Wie aber mußte ein Leben beschaffen sein, wenn es der hohen Meinung entsprechen sollte, die er von seinem Stande hatte? Es mußte, um es kurz heraus zu sagen, so sein, als würden seine Kosten aus den Zinsen eines Vermögens bestritten, das nach Millionen zählte.

Freilich, ein solches Vermögen war nicht da. Es war nur die äußerlich überaus sympathische, fesche, unerschrockene Kavaliers-Persönlichkeit des Barons da, die es verzehrte.

Und daß der Baron das konnte, daß er so flott und so großzügig lebte, wie er es tat, daß er prinzipiell aus der Bahn nur erster Klasse fuhr, daß er in jeder Großstadt seine mondäne Geliebte hatte, daß er bald in Berlin, bald in Budapest und bald in Wien hoch spielte, kurz, daß er sich alle Genüsse gönnte, die einen Lebemann von moderner Großzügigkeit nur irgend reizen konnten, – das hatte, wie bemerkt, seinen Grund in den besonderen Fähigkeiten des Barons, der, ohne jemals zu säen, doch allezeit sehr reiche Ernten hatte.

Diese Ernten aber machte er in Taschen, die niemals die seinen waren, was, wenn man es roh und banal hätte ausdrücken wollen, hätte heißen müssen: er stahl. Freilich, das Wort war roh und hart, und es paßte überdies nicht zu der Auffassung, die der Baron selbst von seiner Kunst hatte. Denn als einen Künstler schätzte er sich ein und keineswegs als einen Dieb und Hochstapler. Und in Stunden, da er sentimentale Anwandlungen hatte – er hatte solche Stunden nur selten – und da er sich vor die Notwendigkeit gestellt sah, seine Kunst moralisch zu werten, da zuckte er mit den Schultern und sagte zu sich: »Ja, kann ich denn anders, habe ich denn eine Wahl?«

Nein, es blieb ihm, wenn er auf das Leben nicht überhaupt verzichten und sich erschießen wollte, tatsächlich keine Wahl. Mit dem Erschießen aber, so meinte er, da hatte es ja noch Zeit, so lange wenigstens, bis ihm einmal ein Unglück zustieß. Bis zu diesem Tage, der hoffentlich noch recht fern war, wollte er leben, und zwar so, wie es seinen Neigungen, die vom Schicksal über ihn verhängt waren, entsprach. Das hatte er sich ernstlich vorgenommen. Und alles, was er sich ernstlich vornahm, das führte er auch durch, mit Energie und Umsicht, und dabei mit einer Kühnheit, die ganz allein der aufbringt, der an sein Glück felsenfest glaubt.

Und dieser sein Glaube – es war der einzige, über den er verfügte – hatte ihn bis zum heutigen Tage auch nicht getäuscht. Noch niemals nämlich war er abgefaßt worden, weder bei einem seiner zahllosen Taschendiebstähle, die er mit unnachahmlicher Gewandtheit ausführte, noch bei seinen nicht minder geschickten Tricks, mit denen er in von internationalen Kreisen bevölkerten Spielsälen das Glück zu seinen Gunsten zu korrigieren pflegte. War es unter diesen Umständen ein Wunder, wenn er mit der Zeit schon einigermaßen unvorsichtig und nachlässig geworden war und an die ursprüngliche Bestimmung des geladenen Revolvers, den er ständig in seiner Tasche trug, nicht mehr recht glaubte?

Daran, zu sterben, dachte er am allerwenigsten heute, wo er eben aus Frankfurt am Main kam, dieser sehr reichen Stadt, die gerade jetzt von internationalen Fremden bevölkert wurde, denen das Geld wahrlich nur sehr locker in ihren Taschen klebte. Er hatte alle Ursache, mit dem Fischzug, den er dort getan hatte, zufrieden zu sein, und wenn er für die kostbare Busennadel seines nächtlichen Coupégenossen jetzt trotzdem ein starkes Interesse zeigte, so geschah das weniger aus Habsucht oder weil er das unbedingt nötig gehabt hätte, sondern mehr aus Liebhaberei heraus und weil er sich während dieser öden Eisenbahnfahrt gern mit einer kleinen künstlerischen Leistung die Langeweile vertrieben hätte.

Zudem schätzte er die Gefährlichkeit seines Gegners, der eben eingeschlummert zu sein schien, recht niedrig ein. Es würde ihm nicht schwer fallen, bei ihm unbemerkt einen Griff zu tun, der nötig war, um der Nadel einen Besitzer zu geben, der ihren Wert besser zu schätzen wußte, als jener Mann es tat, der sie so sorglos trug, als gebe es im neuen Deutschland überhaupt keine Taschendiebe. Bei Gott, er schien so reich zu sein, daß er ihren Verlust erst bemerken würde, wenn sie ihrem neuen Besitzer in Berlin schon längst Folie und Rahmen gab. Weshalb also noch zögern?

Nein, Konrad Baron von Feistmantel zögerte nicht länger.

Er zog zunächst seine Uhr und stellte fest, daß der Zug schon in einer Stunde auf dem Anhalter Bahnhof einlaufen mußte. Dann richtete er sich aus den weichen Polstern auf und hüstelte mehrere Male leicht, um zu beobachten, ob sein Coupégenosse aufwachen würde.

Das war nicht der Fall. Der sonderbare Mann ihm gegenüber hatte die Augenlider geschlossen und hielt ein wenig den Mund geöffnet, wie das Menschen zu tun pflegen, die ruhig eingeschlummert sind, weil sie sich sicher fühlen und an nichts Böses denken.

Das war der richtige Moment. Der Baron lächelte. Er beugte sich vornüber und streckte die rechte Hand aus. Streckte sie aus in der Richtung nach der Nadel, die er plötzlich ebenso leicht wie sicher ergriff.

Eben wollte er sie, die nur ganz lose saß, aus der Krawatte herausziehen, als – – –

– als der Mann mit der grotesken Nase plötzlich die Augen aufschlug, aus seltsam spöttische Art lächelte, den Baron eindringlich ansah und mit einem jähen Griff dessen Hand erfaßte. Sie erfaßte und mit einem eisernen Griff auch festhielt.

»Halt!« sagte der Coupégenosse, der also gar nicht geschlafen hatte, in ruhigem, aber sehr bestimmten Tone.

Der Baron erschrak.

Er erschrak so sehr, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Nicht dies entsetzte ihn so sehr, daß sein Diebstahl diesmal mißlungen war, sondern der Umstand, daß er mißlungen war und hatte mißlingen müssen, weil sein Gegner auf ihn vorbereitet gewesen war und ihn gleichsam nur abgewartet hatte. Dies flößte dem Baron jetzt ein Grauen ein, wie man es nur vor Übernatürlichem, Unheimlichem empfindet.

Und schon griff er mit der linken Hand, die noch frei war, nach seinem Revolver.

»Halt!« sagte der Unheimliche wieder.

Er preßte dabei die Rechte des Barons so fest zusammen, daß dieser, da er vor Schmerz nicht aufschreien wollte, doch den Revolver fallen ließ.

Der Unheimliche schleuderte ihn mit einem Fußtritt unter die Bank. Erst jetzt ließ er die Hand seines Gegners los. Der Baron sank in seinen Sitz zurück. Sein Gesicht war aschfahl.

»He,« sagte der andere, »was wollten Sie denn?«

»Mich erschießen,« antwortete Konrad Baron von Feistmantel leise.

»Sich? Nicht mich?«

Der Baron schüttelte den Kopf.

Man sah es ihm an, daß er nicht log. Es gibt gewisse Züge in der Miene des Menschen, die untrüglich sind, weil keine Kunst der Verstellung ihrer Herr wird.

Der Unheimliche lachte. »Mann, stecken Sie Ihren Revolver wieder ein. Ich finde, es wäre schade um Ihr noch junges Leben.«

Der Baron blickte vorerst scheu auf, bückte sich dann und griff hastig nach der Waffe. Gehorsam steckte er sie ein. Dann errötete er plötzlich.

»Was werden Sie tun?« fragte er scheu.

»Das kommt darauf an.«

»Werden Sie den Schaffner rufen?«

»Möglich.«

Der Baron biß sich auf die Lippen. »Ich möchte Sie höflichst bitten, das nicht zu tun.«

»Warum?«

»Weil ich mich sonst doch erschießen müßte.«

Es lag etwas in dem Ton seiner Stimme, das darauf hinwies, daß er den Kavalier nicht bloß spielte, sondern daß er ein Kavalier auch war. Man merkte es, daß es ihm nicht um die Freiheit ging, sondern um das Leben. Um sein Leben, dem er sofort ein Ziel setzte, sobald der Moment da war. Der Moment, da er das erste Mal Unglück hatte. Nun, war er da?

»Geben Sie zu, daß es Ihre Absicht war, mich zu bestehlen?« fragte der unheimliche Coupégenosse.

»Ja.«

»Warum wollten Sie das?«

»Weil,« antwortete Konrad Baron von Feistmantel und reckte sich ein wenig, »weil dies mein Beruf ist, Herr.«

»Zu stehlen, – das ist Ihr Beruf?«

»Ja.«

»Warum gerade der Diebstahl?«

»Weil ich keine andere Wahl habe, Herr.«

»Wer sind Sie?«

»Gestatten,« sagte der Baron artig.

Er griff in seinen Rock und entnahm einer kostbaren Brieftasche eine Karte. Die überreichte er mit einer leichten Verbeugung dem fremden Herrn. Der nahm sie an sich und las folgendes auf ihr:

Konrad Baron von Feistmantel

k. u. k. Rittmeister a. D
Ehemaliges Mitglied des Herrenhauses

»Hm,« sagte der Mann mit der grotesken Nase, indem er die erhaltene Karte in die Tasche steckte, »und diesen Baron von Feistmantel spielen Sie nicht bloß, sondern Sie sind er wirklich?«

»Ja.«

»Und trotzdem stehlen Sie?«

»Nicht trotzdem,« antwortete der Baron, indem er eine dünne Nuance von Schwermut in den Ernst seiner Stimme legte, »sondern eben deshalb.«

»Wieso –?«

»Aus Not.«

»Aus Not?«

»Gewiß, aus Not. Weil ich keine andere Wahl habe, Herr. Weil mir, wenn ich mein Dasein weiter standesgemäß fristen will, als einziges Mittel eben nur der Diebstahl bleibt. Der Diebstahl und sonst garnichts.«

»Lohnt er sich auch?«

»Das tut er.«

»Wie lange betreiben Sie ihn schon?«

»Zwei Jahre.«

»Und wie lange gedenken Sie ihn noch zu betreiben?«

»Bis zu dem Augenblick, da ich zum ersten Male Unglück habe.«

»Und dann?«

»Dann,« sagte der Baron, indem er unwillkürlich an die Tasche griff, in der der Revolver steckte, »dann mache ich ein Ende.«

»Nun,« bemerkte der Unheimliche, ohne einen Ausdruck in den Ton seiner Stimme zu legen, »dieser Augenblick wäre eigentlich jetzt da.«

Der Baron nickte.

»Das heißt, – wenn ich es nicht vorziehe, zu schweigen, Herr Baron.«

Der Baron senkte den Kopf. »Wollen Sie das tun?«

»Vielleicht.«

»Das heißt: Sie knüpfen Bedingungen daran?«

»Ja.«

»Welche?«

Der unheimliche Mann mit der grotesken Nase machte eine Pause, in der er zu überlegen schien.

Aber auch Konrad Baron von Feistmantel überlegte. Er hatte allmählich seine Fassung zurückgewonnen, und es schien ihm, als ob die Angelegenheit im Begriffe sei, einen Verlauf zu nehmen, der ihn mit einer gewissen Erwartung erfüllen durfte. Mit einer Erwartung von Dingen, die vielleicht für ihn sogar Gutes erhoffen ließen. Inwiefern, das wußte er freilich nicht. Aber wie ein jeder Spieler, der seinem Glück vertraut, gab er viel auf Gefühle. Und die Ahnungen, die in diesem Augenblick in ihm rege wurden, schienen ihm nichts Übles zu verkünden.

»Fordern Sie,« bat er nach einer langen Weile des Schweigens.

Der Mann mit der grotesken Nase maß ihn mit einem kalten, wie abschätzenden Blick. »Sagen Sie mir vorerst, ob der rohe Diebstahl die einzige primitive Seite Ihres neuen Berufs bildet?«

Der Baron schüttelte den Kopf.

»Was tun Sie noch?«

»Ich spiele.«

»Das heißt, Sie spielen falsch?«

»Geschickt,« antwortete der Baron mit einem leichten Lächeln.

»Und weiter? Was tun Sie noch?«

»Alles,« antwortete der Baron, »was ein Mann heute tun muß, der einen Namen hat, eine gute Figur, tadellose Umgangsformen, – und nur das eine nicht: nämlich Geld.«

»Erstreckt sich Ihre Tätigkeit auch auf das Gebiet der galanten Abenteuer?« fragte der Mann mit der grotesken Nase.

»Gewiß.«

»Und haben Sie Erfolge auf diesem Gebiet?«

»Da Sie mich fragen –: ja, ich kann meine Erfolge bei Frauen nicht leugnen.«

»So,« sagte der Mann mit der grotesken Nase und versank wieder in sinnendes Schweigen.

Der Baron betrachtete ihn jetzt eingehender und zwar nicht mehr ausschließlich auf jenes charakteristische Merkmal hin, das ihm durch seine künstliche Nase verliehen wurde.

Und da fiel ihm in den Zügen dieses in jeder Beziehung ungewöhnlichen Mannes vor allem eine Ruhe auf, von der man den Eindruck gewann, daß sie durch nichts erschüttert werden könne. Diese Ruhe war aber keineswegs gleichbedeutend mit Teilnahmslosigkeit. Im Gegenteil, die Augen des Fremden strahlten in Momenten, wo sich die schweren, von buschigen Brauen gekrönten Lider hoben, eine fast heftige Leidenschaftlichkeit aus, die indessen seltsam kalt wirkte, als sei sie lediglich das Resultat eines langen, mit Starrsinn und Zähigkeit verfolgten Gedankenprozesses.

Und noch ein Zweites, das ihm bisher entgangen war, entdeckte in diesem Augenblick der Baron. Bei einer Bewegung, die sein Coupégenosse machte, bemerkte er, daß diesem an der linken Hand der kleine Finger fehlte.

»Noch eins,« sagte der Fremde da plötzlich sehr laut, so daß der Baron, der gemeint hatte, den heimlichen Beobachter zu spielen, heftig erschrak, »noch eins ... Sie sind aus Wien?«

»Ja.«

»Sind Sie in Berlin bekannt?«

»Nur in bestimmten Kreisen.«

»In den Kreisen der Lebewelt, – wie?«

Der Baron bejahte.

»Wären Sie in der Lage, mich, wenn es mich danach gelüsten sollte, in jenen Kreisen einzuführen?«

»Gewiß,« beeilte sich der Baron zu sagen.

Ihm dämmerte jetzt, daß ihn seine Ahnung vorhin nicht betrogen hatte. Noch wußte er zwar nicht, wer dieser Mann war, den ihm der Zufall da in den Weg geführt hatte, aber daß er ein Mensch war, der über sehr große Mittel verfügen mußte, das sagte ihm sein Instinkt. In Gesellschaft eines solchen Menschen aber, mochte er nun Übles oder Gutes planen, konnte man, wenn man nur Entschlossenheit zeigte, allezeit sein Glück machen, so oder so. Und so entschloß sich denn der Baron im gleichen Augenblick, die Gelegenheit, die sich ihm hier offenbar bieten wollte, blindlings beim Schopf zu fassen.

»Gut,« sagte der Mann mit der grotesken Nase, »ich bin bereit, Sie zu kaufen.«

»Mich zu –?«

»– kaufen, jawohl. Das heißt, ich verzichte darauf, Sie, was eigentlich in meiner Macht stünde, wegen versuchten Diebstahls den Behörden auszuliefern. Im Gegenteil, ich gehe noch einen Schritt weiter, indem ich mich bereit erkläre, Ihnen zu helfen ... Nehmen Sie meinen Vorschlag an?«

»Verzeihung, – aber worin würde meine Gegenleistung bestehen?« fragte der Baron, dessen Stimme halb vor freudiger Erwartung, halb vor einer unbestimmten Bangigkeit bebte.

»Vor allem darin, daß Sie mir blindlings gehorchen.«

»In welchen Dingen?«

»Das werden Sie noch erfahren.«

»Und die Hilfe, die Sie mir in Aussicht stellen, – worin würde sich die ausdrücken?«

»Für den Fall, daß Sie den Zwecken entsprechen, die ich verfolge,« antwortete der geheimnisvolle Fremde mit jener Ruhe, hinter der sich dennoch soviel eiskalte Leidenschaftlichkeit verbarg, »– für diesen Fall werde ich Sie finanziell in solchem Maße fördern, daß Sie Ihrem zur Zeit auf das Nichts gestellten Leben vielleicht wieder Stetigkeit und festen Inhalt geben können.«

»Wie meinen Sie das?«

Der andere lächelte. Sein Lächeln drückte weder Spott noch Gutmütigkeit aus, sondern es war eine Mischung aus beiden. Aber was ihm den eigentlichen Stempel aufdrückte, das war eine gleichsam erdenferne Kälte.

»Herr Baron, Sie sind noch jung. Aber Sie sind nicht mehr so jung, daß Sie Ihre Existenz auf die Tageserfolge einer Tätigkeit stellen sollten, die so primitiv ist, daß Sie eines Tages über sie plump stolpern und sich das Genick brechen müssen ... Warum schrauben Sie Ihren Ehrgeiz nicht höher?«

»Wie das?« fragte der Baron.

»Sie haben einen Namen.«

»Ja.«

»Und Sie versichern, daß Sie auf Frauen nicht ohne Eindruck bleiben.«

Der Baron zuckte mit den Schultern.

»Die Schultern einer Frau,« fuhr der Mann mit der grotesken Nase fort, »sind für einen Mann, der nicht nur etwas vorstellt, sondern der auch etwas ist, noch immer das beste Sprungbrett, von dem aus er sich in die Höhe schwingen kann ... Das sollten Sie sich einprägen, Herr Baron.«

»Das will ich,« murmelte der Baron, wobei er sich dessen bewußt war, daß er damit ein Versprechen gab, dessen Bedeutung er noch gar nicht kannte.

»Sie nehmen also meinen Vorschlag an?«

»Jawohl.«

»Und Sie verpflichten sich, meinen Anordnungen während eines gewissen Zeitraumes blind zu gehorchen?«

»Ja.«

»Gut,« sagte der Mann mit der grotesken Nase, indem er sich gleichzeitig erhob, »alles andere werden Sie noch erfahren.«

»Wo?« fragte der Baron.

»In der Pension Segaste, wo ich Sie bitte, mich aufzusuchen.«

»Ja,« sagte der Baron, indem er sich gleichzeitig erhob, »aber nach welchem Namen soll ich fragen?«

»Hier,« sagte der Mann mit der grotesken Nase kurz.

Er hatte in seine Rocktasche gegriffen und aus ihr eine Karte hervorgeholt, die er, ihm zum Abschiede flüchtig zunickend, dem Baron überreichte. Darauf langte er nach seiner kleinen Reisetasche, schob die Coupétür auf und trat auf den Gang hinaus, denn der Zug fuhr eben in die Halle des Anhalter Bahnhofs ein.

Konrad Baron von Feistmantel war allein. Er lächelte wie abwesend, denn ihm war zu Mute, als habe er das Erlebnis dieser nächtlichen Eisenbahnfahrt nur geträumt.

Eben hielt der Zug. Auch der Baron griff nach seiner Tasche. Er trat aus den Gang hinaus, konnte aber seinen Reisegenossen nicht mehr entdecken. Dieser Umstand verstärkte in ihm noch das Gefühl, daß er etwas erlebt habe, in dem sich Wirkliches und Phantastisches zu einer unheimlichen Groteske vermischte.

Er stieg auf den Bahnsteig hinab, und das Gewühl der Reisenden, die den Ausgängen zustrebten, verwirrte ihn traumhaft.

Er sah sich nach einem Gepäckträger um, entdeckte einen und rief ihn an. Als er ihm seine Tasche übergab, nahm er erst wieder wahr, daß er in seiner Linken eine Karte krampfhaft festhielt.

»Wohin?« fragte der Gepäckträger, auf die empfangene Tasche deutend.

»Zu einer Droschke,« antwortete der Baron.

Mechanisch folgte er dem Mann, blieb aber unter einer Bogenlampe stehen, um zu lesen, was auf der Karte stehe.

Es waren nur drei Worte. Aber sie machten, ohne daß er sich das erklären konnte, einen tiefen Eindruck aus den Baron.

Er las sie noch einmal:

Fürst Basil Lenski


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