Richard Voß
Die Sabinerin
Richard Voß

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Dreizehntes Kapitel.

Marcantonia blieb eine lange Weile auf demselben Fleck stehen und sah zu, wie das Feuer verglimmte. So oft die Flamme aufzuckte, dachte sie: bist du noch nicht tot? Was du für ein zähes Leben hast! Mach schnell, daß du ausbrennst. He, willst du? ... Als es auf dem Herde dunkel ward, fror es sie. Sie begab sich in ihren Winkel zurück, umschlang ihre Kniee, drückte den Kopf darauf und verharrte die ganze Nacht über in dieser Stellung. Sie schlief nicht, aber sie wachte auch nicht; sie hatte ihr Bewußtsein, aber sie war doch ohne Besinnung. In diesem Zustande vernahm sie jedes Geräusch: das Brausen des Meeres, das Rauschen des Nachtwindes, im Turm das klagende Geschrei der Eulen, das Rascheln der Mäuse, das heisere Bellen einer wilden Katze; in der Kammer regte sich das Kind im Schlaf,

Einmal fiel ihr ein: Dein Mann ist noch nicht zurück, du mußt auf deinen Mann warten. Aber der Mönch hatte ja gesagt, daß – –

Und von neuem verwirrten sich ihre Gedanken. Dann wieder schien es ihr, als wäre sie mit ihrem toten Bruder zusammen, sie waren beide noch Kinder und mit der Herde auf den Gennaro gezogen. Sie standen droben auf dem Gipfel, sahen unter sich das ganze Land, sahen die Meeresküste und wurden auf einmal beide in ein Paar schneeweißer, wilder Schwäne verwandelt. Als sie aber aufstiegen wollten, stürzten sie in die Tiefe und zerschmetterten am Gestein.

Marcantonia fuhr zusammen und begann leise zu wimmern. Plötzlich sagte sie ganz laut: »Du bist nicht tot, aber du hast das Fieber und wirst sterben. Das thut nichts, denn dein Bruder ist auch gestorben und wartet auf dich im Fegefeuer. Die Madonna soll aber nicht für uns bitten. Amen.«

Es war heller Tag, als Marcantonia mühsam den Kopf erhob. Sie sah verwirrt um sich und stierte so lange auf den breiten Streifen Sonnenscheins, der durch die Fensterluke in das Gemäuer fiel, bis sie sich auf das Geschehene besonnen hatte: Sie war nicht das Weib ihres Mannes, ihr Sohn war nicht das rechtmäßige Kind seines Vaters, die Menschen hatten sie belogen und betrogen, belogen und betrogen hatte sie die Madonna – weder auf Erden noch im Himmel gab es Gerechtigkeit.

Sie wollte aufstehen und fiel der Länge nach hin.

Der Knabe erwachte, rief nach seiner Mutter und kam endlich im Hemdchen herabgelaufen, sah seine Mutter auf dem Boden liegen, begann zu weinen und schrie: »Vater! Vater! Komm schnell! Die Mutter ist tot!«

Da stöhnte Marcantonia auf und erhob sich.

In demselben Augenblick trat Salvatore ein. Er hatte am Morgen einen Entschluß gefaßt, war nach dem alten Ostia gegangen, um dort den Wächter der Ruinen, einen jungen Soldaten, der durch eine Unvorsichtigkeit mit dem Gewehre dienstunfähig geworden, aufzusuchen. Mit diesem hatte er eine lange Unterredung gehabt.

Ohne Marcantonia anzusehen, fragte er das Kind: »Warum schreist du so, Silvio?«

Der Knabe schluchzte: »Ich glaubte, die Mutter sei tot, und fürchtete mich. Da stand sie auf.«

Salvatore schickte ihn in die Kammer.

»Zieh dein Röckchen an und laufe hinaus. Wir gehen zusammen mit Garibaldi auf die Vogeljagd; du darfst den Sack tragen.«

Silvio jubelte auf. Um den Festtag vollkommen zu machen, schnitt Salvatore ein großes Stück Brot ab, goß reichlich Öl darauf und gab es dem Kinde. Brot mit Öl und nachher mit Garibaldi und dem Vater Vögel schießen gehen und den Sack tragen dürfen – der Knabe war selig.

Als er in der Kammer war, machte Salvatore hinter ihm zu und sagte zu Marcantonia: »Du hast gehört, wie es mit uns beiden steht, und scheinst ja auch ganz ruhig darüber zu sein; es wäre daher am besten, wenn du heute noch gingst.«

»Wohin?«

Statt darauf zu antworten, meinte er: »Hier bleiben könntest du so wie so nicht, da ich fortgehe.«

Sie fragte wieder: »Wohin?«

»Fort! Hier mag ein andrer Wächter sein. Ich habe es satt. Warte.«

Er stieg in den Turm hinauf, kam aber bald wieder zurück und fand sie noch auf dem gleichen Flecke stehen.

»Hier.«

Er gab ihr Geld.

»Es ist fast alles, was ich besitze. Du sollst nicht sagen können, daß du wie eine Ciocciara von mir fortgegangen seiest. So nimm doch.«

Marcantonia nahm mechanisch das Geld, ließ es jedoch gleich wieder fallen. Salvatore dachte: sie wird sich schon bücken. Diese Weiber kenne ich! Nach einer Weile sagte er, sich dabei abwendend: »Ich habe heute schon mit dem Chechino gesprochen – dem Chechino ist's recht, wenn du zu ihm kommst.«

»Was soll ich beim Chechino?«

»He nun – –«

Sie wiederholte ihre Frage: »Was soll ich beim Chechino?«

»Ihm das Haus besorgen.«

Salvatore erwartete, daß sie »wild« werden würde; sie blieb indessen auch jetzt ruhig.

»Wie es scheint, willst du nicht zum Chechino? Nun, wie es dir beliebt. Er ist ein guter Mensch, der dich besser behandeln würde als ich. Aber du kannst thun und lassen, was du willst. Du wirst wohl in deine Heimat gehen? Das wird auch das beste sein. Geld bringst du ja mit; es wird dich gleich einer heiraten wollen, und für dein Fieber ist's auch gut, wenn du wieder da droben bist.«

Schweigend, mit schweren, schleppenden Schritten ging sie und packte ihre Sachen zusammen.

Silvio hatte unterdessen seinen Rock angezogen, lief ins Freie, lockte, das mit Oel beträufelte Brot in der Hand, den Hund, mit dem er sein Frühstück teilte, seinem Spielgefährten glückselig die wichtige Neuigkeit meldend, daß er mit dem Vater Vögel schießen und den Sack tragen dürfe. Nach kurzer Zeit kam Marcantonia mit einem kleinen Pack zurück. Salvatore hatte sich gesetzt und wartete auf sie.

»Hast du schon alles? Du kannst mitnehmen, was du willst: ich brauche nichts mehr von dem Zeug. Hier ist noch ein ganzes Stück Leinwand. Vergiß das Chinin nicht. Was du nicht tragen kannst, magst du in Ostia verkaufen: zwanzig Scudi bekommst du gewiß dafür. Die Frau des Guardiano nimmt dir alles ab; laß es ihr nur nicht zu wohlfeil.«

Aber Marcantonia wollte weder die Leinwand, noch das Chinin, noch sonst irgend etwas, das nicht ihr gehörte. Auch das Geld hob sie nicht auf, obgleich sie eine Sabinerin war.

»Leb wohl.«

Sie ging langsam, ohne ihn anzusehen, hinaus. Draußen rief sie ihrem Sohn: »Silvio! He, Silvio!«

Zögernd kam der Gerufene.

Da stürzte Salvatore aus dem Turm: sein Gesicht war fahl, seine Augen hatten den scheuen Blick eines Mörders.

»Was willst du mit dem Knaben?«

»Was ich mit ihm will? Er soll mit seiner Mutter kommen.«

Silvio begann zu weinen: er hatte sich so darauf gefreut, mit Garibaldi auf die Vogeljagd zu gehen. Doch sein Vater sagte: »Der Knabe bleibt bei mir.«

Da – zum erstenmal – stöhnte das Weib jammervoll auf. Sie wankte, sie brach beinahe zusammen, aber sie bezwang sich.

»Laß das Kind mit mir gehen.«

»Es ist mein Kind.«

»Es ist auch das meine, ich bin seine Mutter.«

»Der Knabe soll bei seinem Vater bleiben.«

»Du willst ihn der fremden Frau bringen?«

»Ja.«

Marcantonia stieß einen heiseren Laut aus; er klang nicht wie der Schrei einer Wütenden oder Wahnsinnigen, sondern wie der letzte Seufzer eines von Gott und den Menschen verlassenen Geschöpfes. Nach diesem einen entsetzlichen Ton kam lange Zeit kein Laut über ihre Lippen; als sie wieder zu reden vermochte, wendete sie sich an den Knaben. Sie stammelte: »Komm, Silvio! Nicht wahr, du willst mit deiner Mutter gehen?«

Das Kind wollte nicht; es wollte bei seinem Vater bleiben, und mit ihm Vögel schießen. Auch von ihrem Kinde sah sie sich verlassen.

Sie hatte keine Kraft, ihr Kind zu bitten, noch ein letztesmal rief sie es laut beim Namen. Dann sah sie es nicht mehr, denn Nacht legte sich vor ihre Augen. Wie im Dunkeln tappend wendete sie sich ab von Haus, Kind und Gatten und ging davon, schleichend, mit wankenden Knieen, nicht stehenbleibend, nicht zurückblickend, auch nicht, als sie Silvio weinen hörte. Sie befand sich bereits mitten auf der Steppe, als sie erst bemerkte, daß jemand ihr folgte: der Hund. Sie scheuchte ihn zurück; aber das treue Tier kam immer wieder zu der Verlassenen und sprang an ihr in die Höhe. Da warf Marcantonia mit einem Stein nach ihrem einzigen Freund. Dann war sie ganz allein.

Durch die sommerliche, totenstille, versengte Steppe setzte Marcantonia ihren Weg fort. Von Himmel und Erde schienen fahle Strahlen auszugehen, die sich wie Flammen in ihr Hirn bohrten. Sie schloß die Augen und schwankte weiter und weiter. Zuweilen strauchelte sie, stürzte sie hin. Dann blieb sie eine Weile wie leblos liegen, raffte sich wieder auf und schwankte weiter und weiter. Plötzlich hörte sie sich laut angerufen: »He, du da! Hörst du denn nicht?«

Sie öffnete mit Anstrengung die Augen, gewahrte, daß sie sich hinter Ostia auf der römischen Landstraße befand und daß zwei Reiter dicht vor ihr hielten. Es waren Carabinieri.

»Wir hätten dich fast überritten. Du willst wohl nach Rom ins Spital?«

Da Marcantonia nicht wußte, wohin sie wollte, und da es ihr gleich war, wohin sie ging, sagte sie: Ja, sie wollte nach Rom ins Spital.

Einer der Carabinieri meinte: »Wenn du nur hinkommst. Hast wohl das Fieber?«

Sie hatte das Fieber.

»Schon lange?«

»Schon, sehr lange.«

»Wo bist du her?«

»Von da droben.«

»Hast du denn niemand, der sich um dich kümmert?«

»Niemand.«

»Weißt du Bescheid in der Gegend?«

Marcantonia war nicht sicher, ob sie Bescheid wußte; aber sie nickte.

»Wie weit ist's noch bis Torre San Michele?« Als sie den Namen hörte, belebte sie sich.

»Wollt ihr nach Torre San Michele?«

»Ja.«

»Ihr seid wohl fremd hier?«

»Gänzlich fremd.«

»Was wollt ihr in Torre San Michele?«

»Was geht's dich an?«

»Nichts; ich meinte nur – – und weil in Torre San Michele kein Mensch ist.«

»Nicht ein gewisser Sor Baldassare?«

»Sucht ihr den?«

»Kennst du ihn?«

»Ich kenne ihn.«

»Dann kannst du deinen Bekannten in Rom wiedersehen.«

»Wo?«

»Im Gefängnis.«

»Mir kann's recht sein; aber in Torre San Michele trefft ihr ihn nicht.«

»Wo sonst?«

»Wenn ihr den Sor Baldassare fangen wollt, müßt ihr nach Torre Paterno reiten.«

»Ist das weit?«

»Zehn Miglien.«

»Corpo della Madonna!«

»Bis zum Ave könnt ihr dort sein.«

»Woher weißt du, daß der Mann nicht in San Michele ist?«

»Weil ich ihn in Torre Paterno gesehen habe.«

»Wann war das?«

»Gestern früh.«

»Und du verrätst ihn an uns?«

Die Sabinerin richtete sich hoch auf, ihre Augen flammten, pathetisch streckte sie den Arm aus: »Ich verrate ihn an euch.«

»Er hat dir gewiß schön gethan, als du noch nicht das Fieber hattest.«

»Ganz recht, als ich noch nicht das Fieber hatte.«

»Und nun ist's aus?«

»Nun ist's aus.«

»Armes Ding!«

Der eine warf ihr ein paar Soldi zu, Marcantonia hob das Geld auf und steckte es zu sich.

»Also in Torre Paterno?« »Ja. Lebt wohl.«

»Leb wohl.«

Die Carabinieri ritten davon. Marcantonia sah ihnen nach: die Thoren, zu glauben, eine Sabinerin könnte Verrat üben, sei es auch an ihrem Todfeind.


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