Richard Voß
Die Sabinerin
Richard Voß

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Sechstes Kapitel.

Der kleine Silvio lief bereits auf starken Füßen in dem alten Mauerwerk umher, kroch seinem Vater auf den Schoß, zauste kräftig seinen gewaltigen Bart und hielt den kleinen Mund keinen Augenblick still. Auch hatte das Kind das helle Lachen, welches seiner Mutter als Mädchen zu eigen gewesen. Diese war seit der Geburt des Knaben nur noch der Schatten jener Marcantonia, deren Jugendkraft seiner Zeit alle Sinne Salvatores in Taumel versetzt hatte. In einem Alter von zwanzig Jahren fing sie bereits an, ein verblühtes Weib zu werden. Das Schicksal aller Frauen ihres Volkes, das Fieber, packte sie und ließ sie nicht wieder los. Ein zweites Kind wurde geboren, das schon nach wenigen Wochen starb, weil seine Mutter dem Säugling nicht genug Nahrung geben konnte. Marcantonia nahm den Tod des Kindes mit dem stumpfen Gleichmut hin, der ihr mehr und mehr zur Natur geworden. Trotzdem sie das kranke Kind, mehr als den Knaben, mit einer fast wilden Zärtlichkeit liebte und des Kindes Tod voraussah, betete sie weder um sein Leben, noch leistete sie der Madonna ein Gelübde, überzeugt, daß die Gottesmutter sich doch nicht daran kehren würde. Ihr beständiges Fiebern faßte sie als eine Sache auf, die sich von selbst verstand; niemals klagte sie. Häufig war sie so geschwächt, daß sie kaum zu gehen vermochte, sorgte jedoch für Mann, Kind und Haus in derselben Weise wie früher in ihren gesunden Tagen.

Längst war sie gewohnt, von ihrem Manne heftig angefahren, gescholten und mißhandelt zu werden, was sie geduldig ertrug, ohne dabei etwas andres zu denken, als daß es sein Recht sei, mit seinem Weibe nach Belieben zu verfahren, und ihre Pflicht, sich in alle seine Launen zu fügen. Aber niemals wäre ihr beigefallen, daß sie ihm zur Last werden oder daß er es jemals als eine Schmach empfinden könnte, sie zum Weibe genommen zu haben.

Eines Morgens wollte sich Salvatore zur »heiligen Insel« hinüber begeben. Es war Frühling, die Zeit, wo aus Afrika die Wachteln zurückkehren und die Jagd auf diese Vögel, die sich nach der langen Meeresreise ermattet an der Küste niederlassen, viele Römer in die Wildnisse des lateinischen Sumpflandes führt. Salvatore nahm seine Büchse, hängte die Leinwandtasche um, rief seinen Hund und verließ den Turm. Längs dem Tiber ging er über die in voller Blütenpracht stehende Steppe zu einer unmittelbar am Strom gelegenen Ruine, wo während der guten Jahreszeit ein Schiffer wohnte, der die Jäger und Vogelsteller über den Fluß setzt, nach der heiligen Insel hinüber, einer langen und schmalen Sandbank zwischen dem Tiber und dem Kanal von Fiumicino, deren Name von einem berühmten Heiligtum des Apollo herrührt und die seit Jahrhunderten nur noch von Ochsen und Büffeln bevölkert wird.

Jenseit des Flusses angelangt, machte Salvatore seine Waffe schußbereit und trat seinen Jagdgang an.

Das merkwürdige Eiland lag in tiefster Einsamkeit. Der silberhelle Flugsand hatte die Insel mit hohen, leuchtenden Hügelketten überflutet, die zum großen Teile von goldigen Immortellen, von weißen und purpurfarbigen Cistusrosen und blaublühendem Rosmarin bewachsen waren, so daß es aus der Ferne erschien, als wären prächtige Teppiche über die Dünen geworfen, während die Tiefen baumhoher Ginster, Mastix und Myrten und die schönen Pflanzen der Asphodelen füllten, unter deren Schutz Cyclamen und Meerlilien blühten.

Salvatore hatte Mühe, durch die Dickichte und die weichen, tiefen Sandwellen bis zu einer Stelle vorzudringen, wo nach dem Meere zu die Wildnis sich lichtete. Hier dauerte es nicht lange, und seine Tasche war mit Wachteln gefüllt. Gerade als er heimkehren wollte, begannen von allen Seiten die Schüsse zu fallen; in der Luft schwirrte es von aufgescheuchten, geängstigten Vögeln; die in der Nähe des Strandes ruhenden Ochsen erhoben sich schwerfällig und zogen sich in das Buschwerk zurück.

Vorsichtig die Stellen vermeidend, an denen er Jäger oder Vogelfänger vermutete, machte sich Salvatore auf den Weg. Aber ein tückischer Zufall wollte, daß er seinem Schicksal gerade in die Arme lief.

Denn plötzlich vernahm er ganz in seiner Nähe fröhliche Stimmen, Gelächter und laute Zurufe. Salvatore blieb stehen, er befand sich in einer Betroffenheit, als hätte er etwas durchaus Ungewöhnliches vernommen. Und etwas Ungewöhnliches war es auch, an diesem Ort, mitten in der Wüstenei der heiligen Insel, Frauen zu begegnen, und zwar nicht Frauen aus dem Volk, sondern, den Stimmen nach zu urteilen, Damen, jungen, fröhlichen, vielleicht schönen und reizenden Damen.

Die Versuchung, zu bleiben und zu spähen, war zu mächtig für den Mann, der seit vielen Jahren keine solchen Stimmen vernommen hatte. Sie klangen dem verwilderten Gatten Marcantonias wie Stimmen aus einer andern Welt, einer Welt, der auch er einst angehört hatte und bei deren Klang ihn plötzlich, wie auf Zauberschlag, alle jene Gebilde und Gestalten umgaukelten, die er hatte verlassen müssen. Leise rief er Garibaldi zurück, der lauschend stehen geblieben war und jetzt bellend vorstürzen wollte; behutsam bog er die Zweige auseinander und sah: Vor ihm lag, unmittelbar unter einer hohen Düne, eine Lichtung, welche soeben von einer Gesellschaft von Damen und Herren betreten wurde. Die letzteren trugen das Kostüm römischer Vogeljäger: einen grauen Leinenanzug, hohe Gamaschen von braunem Leder, helle, breitkrämpige Hüte; doch verriet der kokette Schnitt die unverfälschte Jeunesse dorée. Die Damen waren in bunten Toiletten, welche sich für das elegante Biareggio oder das vornehme Livorno besser geeignet hätten als für die wilde Küste des alten Latium. Salvatore, der wie gebannt hinblickte, sah die zierlichsten Sonnenschirme und Hüte, die sicher den Stempel einer Pariser Firma trugen. Um die Gesichtszüge der einzelnen erkennen zu können, befand sich die Gesellschaft zu weit von ihm entfernt; ihm aber war es, als spürte er den Duft der seinen Welt bis herüber in sein Myrtengebüsch. Seltsam beklommen ward ihm zu Mute. Am liebsten wäre er entwichen. Dennoch blieb er.

In einiger Entfernung folgten mehrere Diener, beladen mit bepackten Körben und kleinen Säcken für die erbeuteten Wachteln. Denn auch diese eleganten Leute wollten sich an der Vogeljagd vergnügen, und es waren bereits tags zuvor die für diesen Sport nötigen Vorbereitungen getroffen worden.

Längs der Düne waren hohe Stangen aufgesteckt und dazwischen Netze gezogen, in deren Maschen die dagegen flatternden, vom Fluge übers Meer ermatteten Wachteln hängen blieben. Ein Teil der gefangenen Vögel würgte sich selbst, die meisten aber lebten noch. Die Damen kreischten beim Erblicken der reichen Beute vor Entzücken laut auf, warfen Fächer und Schirme fort, nahmen ihre Kleider in die Höhe und erkletterten mit Hilfe der Herren unter Jubel und Lachen die steile Düne, woselbst die Diener die Stangen aus dem Sande zogen und vorsichtig die Netze mit den zappelnden Vögeln herabließen. Und nun begann das Vergnügen. Die Thätigkeit der Herren bei diesem Sport beschränkte sich darauf, die Vögel aus den Maschen zu lösen. Was bereits tot war, wurde achtlos beiseite geworfen, die lebenden Wachteln jedoch den Damen übergeben, welche, zierlich behandschuht, die Köpfchen der hübschen Vögel sorgfältig für die Hinrichtung zurechtlegten, sodann mit einem Druck des Daumens die Hirnschale auf das anmutigste eindrückten.

Bald entstand unter den Schönen ein Wettstreit, wer in kürzester Frist die meisten Vögel umzubringen vermöchte. Nicht schnell genug für den Eifer des zarten Geschlechtes konnten die Herren die Vögel darreichen; die Diener mußten helfen, und manche reizende Hand riß die Opfer selbst aus der Schlinge. Es war ein herrliches Vergnügen! Die Wangen glühten; sie jauchzten und schrieen vor Mordlust. Salvatore stand und blickte mit leuchtenden Augen zu den lebhaft bewegten jugendlichen Gestalten der mordenden Römerinnen hinüber.

Hätte er dabei sein können! Plötzlich bekam er einen gewaltigen Schrecken. Eine der Schönen, und zwar gerade diejenige, welche ihm gleich anfangs am meisten aufgefallen war – ihr Haar leuchtete in einem rötlichen Gold, sie trug den prächtigsten Hut, die längsten Handschuhe, ein Kleid, als wollte sie auf den Ball gehen – wurde von den Herren am eifrigsten mit Material versorgt, kreischte am lautesten und zeigte die wildeste Mordgier. Diese überaus stattliche und pomphafte Dame hatte das Unglück, einer Wachtel den Schädel nicht ganz einzudrücken, so daß das Tier, als sie es fortwarf, mit den letzten Kräften noch einmal aufflatterte, gerade auf das Buschwerk zu, hinter dem Salvatore stand. Die schöne Jägerin wollte keinen Vogel lebendig ihren Händen entkommen lassen und lief dem Flüchtling nach, vielleicht um den Beweis zu liefern, daß sie trotz ihrer eingezwängten Taille, der engen Röcke und hohen Absätze im stande war, wie ein »Reh« durch den Sand zu eilen. Die andern waren zu sehr mit ihrem Jagdvergnügen beschäftigt, um auf die kleine Episode sonderlich zu achten; nur einer der Herren wollte der Schönen nach, wurde indessen von den Damen einmütig zurückgehalten. So geschah es, daß die Schöne, die Gebüsche durchdringend, sich plötzlich einem Manne gegenüber befand, der das Aussehen eines Banditen hatte und der sie mit einem Blicke anstarrte, als ob er sie sogleich in die Macchie schleppen wollte. Aber der Schrei erstarb auf ihren Lippen, als sie sich von dem vermeintlichen Briganten bei ihrem Namen angerufen hörte: »Lucia!«

Trotz ihres gefärbten Haares, der stark gepuderten Wangen, der ummalten Augen und üppig gewordenen Gestalt hatte er sie sogleich erkannt, und trotz aller jener Zusätze fand er die einstmals Geliebte noch immer ein herrliches Weib, um derentwillen er zum zweitenmal hätte einen Mord begehen können.

Aber sie erkannte ihn nicht wieder. Mit fast erstickter Stimme rief er ihren Namen von neuem. »Lucia! O Lucia!«

Er wäre ihr am liebsten zu Füßen gestürzt, hätte sie am liebsten an sich gerissen; aber er wagte es nicht. Er kam sich so verwildert, so verkommen, ihrer so unwürdig vor; sie erschien ihm so hoch über ihm stehend, so unerreichbar, daß er vor Jammer zu vergehen meinte.

»Salvatore!«

Sie erblaßte unter ihrem Puder und machte eine Bewegung, als ob sie fliehen wollte. Aber Salvatore vertrat ihr den Weg. Er stammelte: »Du willst fort? Nach acht Jahren sehen wir uns wieder, und du willst fort?«

Sie nahm eine Pose an und rief pathetisch: »Was wollt Ihr von mir?« »Was ich von dir will?«

Sie streckte den Arm aus.

»Wir sind einander fremd geworden, wir haben nichts mehr miteinander gemein.«

»Ich habe um deinetwillen einen Mord begangen.«

Sie schauderte. Er, mit fast erstickter Stimme, fuhr fort: »Ich habe um deinetwillen mein Leben zerstört; ich habe um deinetwillen Not und Entbehrung getragen, soviel ein Mensch ertragen kann: ich habe um deinetwillen gelebt beinahe wie ein wildes Tier – –«

Sie murmelte: »Unglücklicher!«

Salvatore stand vor ihr und wendete kein Auge von ihr ab; aber auch die Dame, die ihren ersten Schrecken überwunden hatte, sah ihn an. Es war jedoch nicht die Erkenntnis, daß sie diesem Manne noch immer eine sinnlose Leidenschaft einflößte, daß sie in seinen Augen immer noch jung und schön war, die sie mit einer plötzlich erwachenden lebhaften Teilnahme für ihren ehemaligen Liebhaber erfüllte; sie ließ ihre Augen langsam und forschend über seine Gestalt hingleiten, welche durch das lange Leben fern von aller Kultur etwas Ungeschlachtes und Brutales angenommen hatte, und obgleich sie erkannte, daß diese Verwilderung sich nicht allein auf das Aeußere des Mannes erstreckte, flüsterte sie, ihm die Hand reichend: »Um meinetwillen hast du gelitten?«

Mit einem Aufstöhnen, welches den ganzen Mann erschütterte, warf sich Salvatore vor der modernen Circe nieder, ergriff die ihm gnädig dargereichte parfümierte Hand, preßte sie an seine Lippen, stammelte wirre Laute, seufzte, schluchzte.

Als er sich wieder notdürftig beruhigt hatte, begann die Dame im Konversationstone: »Aber wie du mich erschreckt hast! Bist du auch auf der Wachteljagd? Welch ein Zufall! Du ließest ja niemals etwas von dir hören. Ich dachte so oft: einmal könnte er dir doch schreiben. Das hättest du wirklich gekonnt. Wußtest du denn nicht, daß ich wieder in Rom bin? Im Teatro Valle! Wir spielen schon seit Ende Karneval. Hast du mich eigentlich schon als Kameliendame gesehen? Alle Welt findet mich darin ebenso gut wie die Marini; Fürst Gaëtano sah in Paris die Sarah Bernhardt als Margherita und ist der Meinung, ich könnte es mit ihr aufnehmen. Meine Toiletten sind prachtvoll. – – Wie du aussiehst! Weißt du, daß ich dich für einen Briganten hielt? Der wilde Bart steht dir übrigens vortrefflich; aber ehe du zu mir kommst, mußt du ihn dir abnehmen lassen.«

Salvatore hatte sich auf seine Lage besonnen und sagte: »Ich werde nicht zu dir kommen.«

Sie warf ihm einen ihrer siegreichsten Blicke zu: »Bist du noch immer eifersüchtig? Das mußt du dir abgewöhnen, wenn wir wieder gute Freunde werden sollen. Aber meine Gesellschaft wird gar nicht wissen, wo ich so lange bleibe. Kennst du die Herren? Fürst Orsini ist dabei und der junge Marchese Muti. Die andern sind Kollegen. Wir amüsieren uns herrlich. Ich möchte dich meinen Freunden vorstellen. Was soll ich ihnen sagen? Denn wenn ich dich recht verstanden habe, mußt du dich wegen jener Angelegenheit immer noch verborgen halten.« »Noch immer.«

»Wie machst du es nur?«

»Wie soll ich es machen? Ich führe den Namen Baldassare Leste und lebe hier als Strandwächter.«

»Hier lebst du?«

»In Torre San Michele bei Ostia.«

»In diesen Sümpfen?«

»Nun ja.«

»Und du bist noch nicht umgekommen?«

»Noch nicht.«

Sie murmelte wieder: »Du Armer!« Dann erkundigte sie sich: »Und wer ist bei dir?«

Salvatore zuckte die Achseln; die Dame rief: »Du bist allein in dieser furchtbaren Einsamkeit?«

Salvatore stieß hervor: »Ich sagte dir, daß ich ein Leben führe wie eine Bestie.«

»Und du fürchtest dich nicht, entdeckt zu werden?«

»Ich habe es oft gewünscht; oft war ich nahe daran, nach Rom zu gehen und mich auszuliefern.« »Das wäre dumm gewesen.« Sie dachte nach: »Weißt du, ich werde mich deiner annehmen; ich habe gute Freunde in Rom.«

»Das glaube ich.«

»Im Ernst: du dauerst mich. Du mußt wieder nach Rom kommen, du mußt mich wieder besuchen, du mußt mich wieder im Theater bewundern, du mußt wieder mein Freund sein. Ich habe dich nämlich sehr lieb gehabt.«

»Lucia!«

Es war ein erstickter Aufschrei. Lucia lächelte.

»Du mußt aber thun, was ich dir sage.«

»Alles will ich thun, nur daß ich dich wiedersehen darf.«

»Das sollst du – wenn du vernünftig bist.«

»Toll bin ich! Du hast mich von neuem toll gemacht.« Sie lachte. »Findest du nicht, daß ich mich sehr verändert habe?«

»Ich erkannte dich gleich wieder. Du warst niemals schöner.«

»Lernt man in der Wildnis das Schmeicheln?«

»O Lucia –«

»Ich will dir glauben. – Jetzt gehst du mit mir zur Gesellschaft.«

»Wie kann ich das?«

»Laß mich nur machen.«

»Nein, nein.«

Sie neigte sich zu ihm. Er atmete den Duft ein, der ihrem gefärbten Haar entströmte, und es war ihm, als legte sich ein Nebel vor seine Augen.

Dann gingen sie.


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