Richard Voß
Die Sabinerin
Richard Voß

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Zweites Kapitel

Es war in diesem Jahre kaum Frühling geworden, als bereits schon der Sommer folgte. In den Sciroccotagen verblühten die Blumen, die in einer Ueppigkeit ohnegleichen, rings um Torre San Michele, die Steppe bedeckten: brodelnder Dunst umhüllte das braune Land, ein fahles Licht schwamm auf dem Meere, welches mit langsam heranrollenden, wilden Wogen gegen die Küste schlug.

So war es seit Wochen gewesen.

Salvatore hatte schwere Zeit. Durch das anhaltende Wehen des Wüstenwindes an Leib und Seele völlig ermattet, vermochte er kaum sich aufzuraffen, um sich etwas Speise zu bereiten, vollkommen gleichgültig dagegen, was es war. Hatte er sein Amt besorgt, so lag er in seiner Turmruine halbentkleidet auf dem Bette mit geschlossenen Augen, in völliger Dumpfheit aller Sinne, und hörte wie im Traum auf das Rauschen der Wellen und das Schreien der Falken und Möwen, die einzigen Laute, die außer dem Seufzen des Windes und dem Brausen des Sturmes in seine Einsamkeit drangen. Schaute er auf, so brannte ihm der glühende Tag in die Augen, und er sah durch das offne Fenster, dessen fehlende Scheiben ölgetränktes Papier ersetzte, gleichsam ins Leere hinaus; denn Himmel, Erde und Meer umdampfte der fahle Brodem der Sciroccoluft.

Erst gegen Abend erhob er sich wieder, um das Signal zu entzünden und, wenn er sich fieberfrei und nicht allzu ermattet fühlte, einen kurzen Gang ans Meer, an die Tibermündung oder nach dem Wächterhaus im alten Ostia zu thun.

Eines Abends hatte er einen weitern Weg vor. Es war der 23. Juni, und am nächsten Morgen verließen die Einwohner des neuen Ostia ihren verpesteten Wohnort, um für beinahe ein halbes Jahr nach dem Albanergebirge auszuwandern. Salvatore wollte den Scheidenden lebewohl sagen; wer wußte, ob er sie noch einmal wiedersah.

Wie jemand, der von einer schweren Krankheit kaum genesen ist, schlich der junge Mann den Pfad dahin, der vom Turm über die verbrannte Steppe, dem Tiberufer entlang, nach dem alten Ostia führte. Noch niemals hatte die Stätte einen solchen totenhaften und gespenstischen Eindruck auf Salvatore gemacht, wie an diesem grauen Sciroccotage. Aus den verdorrten Blumen, dem verbrannten Grase stieg die versunkene Stadt mit braunem Gemäuer empor. Der Tiber bespülte die uralten Peperinquadern mit gelber, raunender Woge, und in die Steinmassen der Ruinen hatte der Fluß sich tiefe Grotten gewühlt, welche Schilf und Röhricht, wilde Weinreben und Epheuranken in natürliche Nymphäen umwandelten. Noch ragten die Säulen von Tempeln und Basiliken, Altäre lagen umgestürzt, Statuen zertrümmert, von den Blumen der Wildnis umwuchert. Auf den Polygonen einer antiken Straße gelangte Salvatore über das ehemalige Forum zu einem Platz, wo noch gewaltige thönerne Amphoren halb im Boden steckten.

Und ringsum er der einzige Mensch! Keine andern Laute, als das Rascheln der Lacerten oder einer Schlange im dürren Grase, als das Geflüster der Tiberwellen und das dumpfe Brausen des Meeres.

Er kam nach Ostia. Vor dem bischöflichen Palaste waren die Bewohner versammelt, elende, armselige Menschen, die nichts thaten, die sämtlich zu ermattet waren, um etwas zu thun. Sie hatten den größten Teil ihres Hausrates bereits zusammengepackt und auf den Platz geschafft; einige jammerten laut über den Wegzug aus der Heimat und den weiten, mühseligen Marsch, die meisten jedoch waren ruhig, gleichgültig, vollkommen apathisch.

Salvatore trat zu den Wegziehenden, sprach einen und den andern an, nickte einem und dem andern zu, und damit war der Abschied abgemacht. Eine Frau fragte ihn, wie es ihm ginge. Er meinte, es ginge ihm nicht schlecht – das meinten alle, wenn sie gefragt wurden. Dann erkundigte er sich, wer den Sommer über in Ostia bliebe, was für ihn insofern von Wichtigkeit war, als der Zurückbleibende ihn nicht nur mit Brot, Käse, Oel und Ricotto versorgte, sondern ihm auch, wenn es nötig werden sollte, ein Grab schaufeln konnte. Die Frau, die er gefragt hatte, erwiderte: »Einer von den Sabinern bleibt hier.«

»Wer?«

»Francesco Latini.«

»Den kenne ich nicht.«

»Es ist ein Neuer.«

»Woher ist er?«

»San Polo heißt's. Er hat schon jetzt das Fieber; er will aber doch bleiben.«

»Warum will er bleiben?«

»Er bekommt fünfzig Scudi für den Sommer und hat in seinem Ort eine Verlobte: wenn er es aushält, kann er zum Winter heiraten. Er hat auch seine Schwester mitgebracht.«

»Was soll die hier?«

»Was weiß ich? Auch das Fieber bekommen! Sie meint aber, die schlechte Luft thäte ihr nichts. Wenn wir ihr sagen: Geh' doch wieder zurück, warum willst du hier sterben? – denn sie ist noch blutjung – so lacht sie, und der Bruder ist ein solcher Tropf, daß er sich vor dem Fieber nicht fürchtet, und er hat es doch schon. Wenn Ihr mit dem Francesco reden wollt, die beiden wohnen bei der Kirche. Ihr wißt schon.«

»Ich weiß. Addio, Giudetta!«

»Addio, Sor Baldassare. Laßt es Euch gut gehen.«

Er schlenderte, um den Sabiner aufzusuchen, der geschlossenen Kirche zu, die an den bischöflichen Palast stößt. Hier lagen einige ruinenhafte, ausgestorbene Gebäude mit zerbrochenen Fensterscheiben, aus üppigem Pflanzenwuchs aufsteigend, der auch die Treppen und die Höfe im Innern des Hauses bedeckte. Die Rede der Frau hallte in ihm nach. Sie ist noch blutjung, und sie lacht, wenn man sie fragt, warum sie hier sterben will. Wie gesund sie sich fühlen muß, voller Jugend und Lebensdrang. Dabei ist sie lustig. Sie lacht, wenn man von Krankheit und Tod spricht. Salvatore vermochte nicht, sich eine Vorstellung davon zu machen, wie in dieser Wildnis ein Geschöpf leben konnte, das sorglos und heiter war und es immer zu bleiben dachte. Da hörte er sie singen.

Denn das konnte nur die Sabinerin sein. Von den Ostienserinnen sang keine; wer in Ostia lebte, dem starb der Gesang. Es war ein Ritornell, darauf die Sängerin keine Antwort erhielt: sie schien auch keine Erwiderung ihrer Liebesklage zu erwarten, wenigstens begann sie sogleich eine neue Strophe. Salvatore stand und lauschte auf die gellenden, schwermütigen Töne, die aus einem der Häuser durch die schwüle Stille des Sommerabends klangen. Es war kein Wohllaut in dem Gesang; aber niemand, der das Volk kennt, erwartet aus dem Munde dieses Volkes Wohllaut zu hören.

Nun ging Salvatore weiter, von den Tönen in einen verwilderten Hof geführt. Hier stand die Sängerin. Gegen eine Mauer gelehnt, spann sie und schrie ihre Verse ab. Ihrer Gestalt nach war sie noch ein halbes Kind, groß, schlank und zart. Das schmale, braune Gesicht, darin Salvatore ein Paar schwarzer Augen und granatroter Lippen funkeln sah, wurde von dem Schleiertuch überschattet. Sie trug die gewöhnliche Tracht der Sabinerinnen: ein dunkles enges Unterkleid, über das ein Stück hochroten Tuches gelegt war, eine bunte gestickte Schürze und den steifen amarantfarbenen Busto. An den Ohren blitzten lange Goldgehänge, und den zierlichen Hals umschloß eine Korallenschnur. Mit der kleinen, wie Bronze leuchtenden Hand zog sie emsig den Faden, gerade vor sich hinschauend. Sie stand neben einem antiken Sarkophag, darin ein über und über mit Blüten bedeckter Oleander wuchs und auf dem in Hochrelief eine Scene aus der Endymionsage dargestellt war.

Jetzt erblickte sie den Fremden. Sie verstummte, fuhr indessen fort ihren Faden zu drehen.

Salvatore trat näher.

»Du bist doch das Mädchen von San Polo, das mit seinem Bruder den Sommer über in Ostia bleiben will?«

»Mein Bruder ist Francesco Latini von San Polo. Er ist in der Kammer, ich will ihn rufen.«

Salvatore hielt sie zurück.

»Du kannst deinem Bruder ausrichten, was ich ihm zu sagen habe. Aber wie heißest du?«

»Marcantonia.«

Sie war stehen geblieben und blickte ihn an. Salvatore dachte: Sie ist wirklich noch blutjung; ich wollte, sie lachte einmal.

»Höre, Marcantonia. Du mußt nämlich wissen, daß ich auch den Sommer über hier bleibe.«

»In Ostia? Dann seid Ihr wohl der neue Ministro? Fürchtet Ihr Euch auch vor dem Fieber?«

»So wenig wie du.«

Sie lächelte, wobei sie ihre blinkenden Zähne zeigte. »Haben sie es Euch schon gesagt? Warum soll ich mich fürchten? Ich war in meinem ganzen Leben noch nie krank. Die Madonna wird mich wohl behüten.« Und ihm näher tretend, fuhr sie mit unterdrückter Stimme fort: »Wenn Ihr der neue Ministro seid – mein Bruder ist nicht so stark wie ich, laßt mich einen Teil seiner Arbeit thun. Darum bin ich mitgekommen.«

Sie sah ihn bittend an.

»Ich bin nicht der neue Ministro.«

»Wer seid Ihr denn?«

»Ich wohne da draußen am Meer, wo der hohe Turm ist. Dein Bruder soll mir jede Woche Brot bringen und was ich sonst brauche. Ich will ihn gut bezahlen. Auch du, Marcantonia, könntest dich meiner annehmen und dich um meine Wäsche kümmern; denn ich bin ganz allein und fürchte mich vor der Einsamkeit, wie sich die andern vor der Malaria fürchten. Da wir die einzigen Menschen hier sind, wollen wir gute Nachbarschaft halten. Was meinst du dazu?«

»Ich will mit meinem Bruder reden. Habt Ihr kein Weib?«

»Nein.«

»Wer kocht und wäscht denn für Euch?«

»Das eine thue ich selbst, das andre besorgte mir bis jetzt eine Frau aus Fiumicino; wenn du aber – –«

Er brach ab. Francesco Latini hatte seine Schwester reden hören und kam heraus; es war ein hübscher Bursche, der allerdings nicht einer der stärksten zu sein schien. Dich bekommt das Fieber bald, dachte Salvatore. Dann begrüßte er den Gefährten in der Wildnis und brachte auch bei ihm sein Anliegen vor. Francesco zeigte sich sogleich bereit; nur was seine Schwester betraf, war er ungefällig, so daß Salvatore das Gespräch abbrach. Aber er mußte wiederum denken: Nicht lange, und das Fieber hat dich, und dann – werden wir sehen.


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