Richard Voß
Die Sabinerin
Richard Voß

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Viertes Kapitel.

Marcantonia verrichtete den Dienst ihres Bruders, dessen Tod sie nicht nach Rom melden konnte, da es ihr an einem Boten fehlte. Täglich sah sie nach den Herden, täglich mußte sie die Steppe zwischen dem Tiber und dem Walde von Castel-Fusano durchreiten. Die Tiere kannten sie bereits und folgten ihrem gellenden Rufe. Wenn der kleine schwarze Renner des armen Francesco mit der bunten schlanken Gestalt angetrabt kam, streckten die Ochsen ihre silbergrauen, mächtig gehörnten Häupter der Reiterin entgegen, und die Pferde, welche in halber Wildheit auf der Prärie lebten, sprangen in hellen Haufen heran, schnaubend und wiehernd die junge Hirtin umdrängend.

Trotz dieser mühseligen Ritte, auf denen sie ihres Bruders Büchse mit sich führte, und obgleich sie nichts andres als Brot und Oel genoß, blieb sie vollkommen gesund. Doch geschah es häufig, daß sie plötzlich von einer schweren Müdigkeit überwältigt wurde. Sie stieg vom Pferde ab, warf sich in den spärlichen Schatten eines wilden Oelstrauches oder einer Steineiche nieder und schlief sogleich ein, durchaus gleichgültig gegen die Gefahr, im Schlaf den Keim des Fiebers einzuatmen. Sie befand sich überhaupt in einem Zustand gänzlicher Apathie, in den sie weniger ihres Bruders Tod versetzte, als vielmehr der Umstand, daß die Madonna, der sie für sein Leben ein Gelöbnis gethan, ihn dennoch hatte sterben lassen; nicht einmal daß sie ihm die Frist gegönnt, mit den heiligen Sakramenten versehen zu werden. In dumpfem Glauben dahinlebend, hatte sie sich fest auf die Wirkung ihres Gelübdes, auf die Hilfe der Gottesmutter verlassen. Nun war der Sabinerin zu Mute, als hatte der Himmel an ihrem Bruder einen Mord, an ihr selbst ein Verbrechen begangen. In dem grenzenlosen, unbedingten Vertrauen zu der Madonna hatte sich das ganze Seelenleben dieses Geschöpfes der sabinischen Felsenöde konzentriert; nun sah sie sich von der Gottesmutter im Stich gelassen und wußte plötzlich weder aus noch ein in der Welt.

Die ersten Tage nach dem Tode Francescos ließ der Nachbar von Torre San Michele sich nicht in Ostia blicken: aber von Crocetta kam einer der Mönche, um nach der Einsamen zu sehen. Er fand das Mädchen vor der Thür kauernd und abwesenden Geistes vor sich hinstarrend; kaum daß sie den Bruder grüßte, der ihr doch noch vor kurzem als ein halber Heiliger erschienen war. Er redete sie an: »Heh, Marcantonia, wie geht dir's?«

»Nicht schlecht.«

»Bist du noch immer hier?«

»Freilich bin ich noch immer hier.«

»Wenn du nun auch das Fieber bekämest?«

»Ich bekomme das Fieber nicht.«

»Jeder von uns bekommt es,« sagte der Mönch, dem die Krankheit aus den Augen glühte, mit vollem Gleichmut.

Eine Pause entstand. Der erschöpfte Mönch setzte sich neben das Mädchen; er war sehr hungrig.

»Kannst du mir etwas zu essen geben?«

»Brot und Oel.«

»Eine Frittata könntest du mir wohl nicht backen?«

»Ich habe nur Brot und Oel.«

Der Mönch unterdrückte einen Seufzer.

»So bringe mir davon. Sor Baldassare hat unserm Kloster eine Spende versprochen. Erinnere ihn doch daran.«

»Wie viel wollt Ihr?«

Sie stand auf, um aus dem Hause Brot und Oel zu holen.

»Sor Baldassare wird gewiß daran denken,« sagte hastig der Mönch, der mehr zu bekommen hoffte, als die Sabinerin ihm zu geben vermocht hätte. Aber Marcantonia wollte für ihren Bruder selbst bezahlen.

»Ist ein Scudo genug?«

»Ein Scudo ist wenig.«

Marcantonia entschied: »Mehr als einen Scudo bekommt Ihr nicht. Es ist Geld genug dafür, daß die Seele meines Bruders im Fegfeuer brennen muß.«

Der Mönch versuchte zu steigern.

»Auch zwei Scudi wären noch wenig. Bedenke, daß es für die Madonna bestimmt ist; die Madonna wird' für deinen Bruder bitten. Gib uns zwei Scudi.«

Ohne den Bruder einer Antwort zu würdigen, ging Marcantonia ins Haus und kehrte bald mit dem Essen und dem Gelde zurück: fünf Lire in lauter einzelnen Soldi. Sorgfältig zählte der Mönch das Geld nach, entdeckte eine ungültige Münze, lamentierte über die Schlechtigkeit der Welt, und daß diese immer nur darauf bedacht sei, die Kirche um das Ihre zu bringen, band das Kupfergeld in sein Taschentuch und machte sich mit Gier über das Essen her. Er riß das Brot in kleine Stücke, begoß jeden Brocken reichlich mit Oel, murrend, daß es keine Frittata sei.

Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, setzte er das Gespräch mit dem Mädchen fort: »Höre du, betest du auch fleißig für die Seele deines Bruders?« Sie hatte sich wieder niedergekauert, stierte teilnahmslos vor sich hin und murmelte: »Was soll das helfen?«

»Was dein Gebet deinem Bruder helfen soll?«

»Ich möcht's wissen.«

»Du bist ja eine wahre Gotteslästerin! Du solltest der Madonna ein paar große Kerzen und ein Schleiertuch geloben.« »Fällt mir nicht ein.«

Der Mönch unterließ vor Entsetzen, einen besonders fetten Bissen, davon das Oel auf seine Kutte tropfte, in den Mund zu stecken. Mit allem Gleichmut erklärte ihm die Sabinerin, warum ihr nicht einfiele, etwas an die Madonna zu wenden: »Sie gibt mir ja doch nichts dafür.«

Der Mönch schien zu überlegen, auf welche Art dieser sündhaften Ansicht am kräftigsten beizukommen sei, meinte indessen mit mehr Toleranz, als sich rechtfertigen ließ: »Die Madonna gibt dir gewiß etwas dafür. Bedenke doch, wem alles sie zu geben hat; da kann es schon vorkommen, daß sie den einen oder den andern vergißt. Auch solltest du für deinen Bruder eine Messe lesen lassen. Wir wollen es wohlfeil machen: für zwölf Paoli.«

Aber Marcantonia wollte nicht.

»Also für acht Paoli.«

Aber Marcantonia wollte auch nicht für acht Paoli, Der Mönch war allen Ernstes erzürnt: »Du bist ja eine wahre Heidin und Lutheranerin. Hast du dir wenigstens die Todesstunde deines Bruders gemerkt?«

»Warum?« »Wegen des Lotto.«

»Hier kann ich mir ja doch keinen Zettel schreiben lassen.«

»Aber später, wenn du wieder zu Hause bist. Dein Bruder ist in der siebenten Stunde gestorben. Wenn du dazu noch ›Fegefeuer‹ und ›Fieber‹ nimmst, gewinnst du sicherlich eine Terne.« In ihre Gestalt kam Leben.

»Wenn ich wieder in San Polo bin, will ich mir die drei Nummern aufschreiben lassen.«

Der Mönch erhob sich.

»Also ich soll für die Seele deines Bruders im Fegfeuer keine Messe lesen?«

»Es hilft ihm doch nichts.«

»Vielleicht besinnst du dich. Höre!«

»Heh?«

»Weißt du, daß Sor Baldassare in dich verliebt ist?«

»Was geht's mich an?«

»Nimm dich in acht.«

»Ja. ja.«

»Komm doch einmal zu uns beichten.«

»Ich komme schon einmal.«

»Lebe wohl und sei gesegnet.«

»Lebt wohl.«

Der Mönch entfernte sich, Marcantonia blieb sitzen. Zuerst dachte sie an den Scudo, welchen sie ihm hatte geben müssen, ohne daß es ihrem Bruder nützen würde; dann fiel ihr Sor Baldassare ein und daß er in sie verliebt sein sollte, was sie mit einem dumpfen Staunen erfüllte. Es war noch niemand in sie verliebt gewesen, es war ihr noch niemals eingefallen, jemand könnte sich in sie verlieben. Auch war sie noch so jung, noch keine sechzehn Jahre! Wenn Sor Baldassare in sie verliebt war, wollte er sie also heiraten: denn zu diesem Zwecke verliebte sich ein Mann in ein Mädchen, das heißt: er kam eine Zeitlang jeden Abend zu der Schönen und redete darauf mit den Eltern, und dann bekam er das Mädchen, oder er bekam es nicht. Waren die Eltern der Erwählten tot, so sprach der Freier mit dem Bruder; war auch der Bruder tot – doch für diesen Fall wußte Marcantonia kein Beispiel, so sehr sie auch darüber nachsann. Was that der Freier, wenn der Bruder des Mädchens tot war? Was das Heiraten anbetraf, so wußte Marcantonia Bescheid: wenn der Mann, welcher das Mädchen zur Frau haben wollte, den Eltern oder dem Bruder recht war, so war er auch dem Mädchen recht. Dann gingen die beiden eines schönen Tages zum Priester in die Kirche und wurden Mann und Frau; sie wohnten zusammen in einer Hütte, die Frau kochte für den Mann, wusch für den Mann, trug Lasten für den Mann, ließ sich von dem Manne schlagen und gebar ihm Kinder.

Anders wußte Marcantonia es nicht. Aber sie hatte keine Eltern mehr; auch ihr Bruder war gestorben, und es gab einen Mann, der in sie verliebt sein sollte, der sie also zur Frau haben wollte, damit sie bei ihm wohnte, für ihn kochte, wusch und sonst alles that. Daß der Mann sie hätte lieben sollen und sie ihn, davon wußte sie nichts. Und sie fuhr fort, darüber zu grübeln, mit wem Sor Baldassare wohl reden könnte, da doch ihre Eltern und ihr Bruder tot waren. Der Fall erschien ihr schwierig.

Am nächsten Abend kam Salvatore. Er brachte ihr ein Fiascho Wein, einen frischen Oelkuchen und ein Paar großer Sumpfvögel mit, die sie zum Abendbrot kochen sollte. Da sie nicht wußte, wie das Geflügel zuzubereiten – hatte sie doch niemals Fleisch gegessen – so gab er ihr alles an, wobei sie sich ziemlich geschickt benahm. Doch wollte sie weder von dem Gerichte essen, noch von dem Weine trinken; sie hatte auch noch niemals in ihrem Leben Wein getrunken. Während Salvatore es sich schmecken ließ, saß sie ihm gegenüber, kaute ihren Oelkuchen und starrte ihn an. Endlich fragte ihr Nachbar, was sie nun anzufangen gedachte.

»Du kannst doch hier nicht bleiben. Weißt du, was du thun solltest? Du solltest mit mir kommen. Das wäre doch prächtig! Was meinst du?«

Sie meinte gar nichts! sie aß ihren Oelkuchen und schien für nichts andres Empfindung zu haben.

»Heh, Marcantonia!«

Sie schaute erwartungsvoll auf. »Ich fragte dich, ob du mit mir kommen willst. Wir sind beide allein, und – – und dann mußt du wissen, daß ich dir gut bin.«

Nun hörte sie auf zu kauen; nach einer Weile sagte sie in klagendem Tone: »Meine Eltern und mein Bruder sind tot. Ich weiß auch nicht, mit wem Ihr reden sollt.«

»Mit wem ich reden soll? Worüber denn?«

»Darüber, daß Ihr mich heiraten wollt.«

Die Sabinerin sagte dies in aller Einfalt, mit heiligem Ernst, ohne eine Miene zu verziehen, den Verliebten aus ihren mächtigen schwarzen Augen ruhig anblickend. Salvatore verlor für einen Augenblick die Fassung, dann lachte er laut auf.

»Daß ich dich heiraten will – – du meinst also, daß ich dich heiraten will und nur nicht wüßte, mit wem ich die Sache bereden sollte?«

»Meine Eltern und mein Bruder sind tot.«

Salvatore ward still und betrachtete das braune junge Geschöpf der Felsenberge voll Erstaunen. Seine Augen blieben an ihren Lippen hängen. Plötzlich wurde er bleich, zwang sich zu einem neuen Ausbruch von Lustigkeit und rief: »Vielleicht rede ich mit dir selber; einstweilen könntest du mir auf unsere zukünftige Brautschaft hin einen Kuß geben.«

Und er wollte sie heftig an sich ziehen.

Sie aber fuhr in die Höhe, stieß ihn von sich und sah ihn feindselig an. Da nahm sie gleichmütig wiederum am Herde Platz und begann zu spinnen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Nach einer Weile ging der Abgewiesene in hellem Zorn davon.

Am andern Abend erschien Salvatore wieder, forderte sie nochmals auf, zu ihm zu kommen, erhielt kurzen, abschlägigen Bescheid, lief wütend fort, kam ein drittes Mal und machte ihr die leidenschaftlichsten Erklärungen, die sie gar nicht verstand. Bei seinem nächsten Besuche fand er das Haus verschlossen. Er pochte und rief, drohte und bat, gab der spröden Schönen die glühendsten Versicherungen, die heiligsten Versprechungen. Aber im Hause blieb alles dunkel und still.

Nun ließ er einige Tage nichts von sich hören. Eines Nachts wurde Marcantonia, die den Schlaf einer Katze hatte, durch ein leises Geräusch am Fenster geweckt. Sie stand auf, nahm die geladene Büchse, die an der Wand lehnte, schlich zum Fenster, drückte aufs Geratewohl ab und vernahm einen Aufschrei. Gleichmütig machte sie Licht, schloß die Thür auf und ging hinaus. Draußen fand sie Salvatore gegen die Mauer gesunken. Als sie ihm ins Gesicht leuchtete, blickte er sie stumm an, aber gar nicht wie mit Haß.

»Komm herein, damit ich sehe, wo ich dich getroffen habe, und deine Wunde verbinde.«

Sie ging voraus und er folgte ihr schwankend; fast daß er am Herde niedergefallen wäre. Der Schuß war in die linke Schulter gegangen, die Wunde blutete stark und er litt große Schmerzen. Behutsam half Marcantonia ihm aus seinem Rock, schnitt das Hemd auf, wusch die Wunde, zerriß ihr Schleiertuch und legte ihm einen Verband um, alles mit größter Sorgsamkeit, ohne ein Wort zu sagen. Auch er blieb stumm, durch keinen Laut verratend, daß er Schmerzen ausstand. Darauf brachte sie ihm von dem Wein, den er ihr geschenkt hatte, und ließ ihn trinken.

»Jetzt mußt du dich niederlegen; denn dein Arm wird bald anschwellen, weil die Kugel noch in der Wunde steckt. Ich kenne das und weiß auch, was zu thun ist.«

Salvatore wollte mit Gewalt nach Hause; doch die Schmerzen wurden plötzlich so stark, daß ihn ein Schwindel befiel und er zu Boden gestürzt wäre, hätte Marcantonia ihn nicht umfaßt und aufrecht gehalten. Sie leitete ihn zu ihrem Lager, auf das er in halber Bewußtlosigkeit niedersank. Nachdem sie seinen Kopf in eine bequeme Lage gebracht und ihm ihren besten Rock untergeschoben hatte, machte sie von dem Reste ihres Schleiertuches eine Kompresse und kauerte sich neben dem Kranken nieder, die Nacht hindurch nasse Umschläge auf die Wunde legend. Gegen Morgen begann Salvatore heftig zu fiebern und in Phantasieen zu verfallen. Marcantonia verdoppelte ihre Sorgfalt, blieb im übrigen aber ziemlich teilnahmslos, bis der Verwundete mit wilder Zärtlichkeit ihren Namen rief; da fuhr sie zusammen, begann zu zittern und wendete kein Auge von ihm.

Bereits war es heller Tag, als er stiller wurde und bald in schweren Schlummer sank. Leise erhob sich Marcantonia, schlich zur Thür hinaus, die sie hinter sich abschloß. Sie lief auf die Weide, lockte ihr Pferd und ritt nach Crocetta. Es dauerte wohl eine halbe Stunde, ehe man ihr öffnete.

»Der Frate soll sogleich zu Sor Baldassare kommen.«

»Was ist's mit dem? Hat er das Fieber?«

»Er ist verwundet.«

»Von wem?«

»Ich habe auf ihn geschossen.«

»Du?«

»Nun ja, kommt nur! Die Kugel steckt noch in der Wunden ich kann sie nicht herausziehen. Macht schnell! Ich geb' Euch einen halben Scudo, wenn Ihr schnell macht.«

Man war in Crocetta auf solche Fälle vorbereitet. Der Frate kam, schwang sich aufs Pferd, Marcantonia lief nebenher.

»Warum schießest du denn auf die Menschen, wenn du sie nachher pflegen willst? He, du! Weshalb hast du auf den Sor Baldassare geschossen'?«

Aber das wollte sie nicht sagen; so heftig der Priester auch in sie drang, so eindringlich er auch forschte und mahnte, sie blieb stumm.

Salvatore war noch immer ohne Bewußtsein. Erst unter der äußerst schmerzhaften Operation des Bruders erwachte er; seine ersten Worte waren: »Sobald ich wieder besser bin, komme ich mit Marcantonia zu Euch nach Crocetta. Ihr müßt nämlich wissen, daß ich die Marcantonia heiraten will.«


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