Hermine Villinger
Aus dem Badener Land
Hermine Villinger

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Die Rechnung ohne den Wirt.

Die Sonne neigte sich den westlichen Bergen zu. Ein herrlicher Heuduft entströmte dem schmalen, langgestreckten Menzenschwander-Thal und überall, so weit das Wiesenland reichte, sah man rührige und thätige Menschen, alle beflissen, den reichen Heusegen unter Dach zu bringen.

Da kam ein Bub aus dem Dorf gelaufen, gerade auf den nächsten Heuwagen zu, der eben mit kühnem Ruck von der tiefer gelegenen Wiese auf die Landstraße fuhr. Ein junger Bursch führte die Kuh, der Bauer ging mit der Peitsche nebenher; an ihn wandte sich der Bub: »Mayer Fidel, Ihr 202 sollt schnell zum Pfitz in Lade komme; 's isch ein Herr da von Karlsruh, ein Professor soll's sein.«

»Ein Professor?« verwunderte sich der Bauer, »Sepp, fahr' zu! Will geh' schaue, was so einer von mir kann wolle; ich hab' nix gethan und bin gottlob kei'm Mensch' was schuldig.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat zögernd in das gleich am Eingang des Ortes liegende Lädchen mit seiner Auslage von Holzwaren, wie sie in dem kleinen Schwarzwalddorf und dessen Umgegend angefertigt wurden.

Der Sohn fuhr das Thal entlang nach Hintermenzenschwand, dessen tiefdachige Höfe sich in zerstreuten Gruppen bis zu den Füßen des Feldbergs hinzogen. Die Straße verengerte sich, der Bursche fuhr eine Anhöhe hinan und von dieser direkt auf den Heuboden des rauchgeschwärzten Bauernhofes.

Eine junge Dirne half beim Umladen des Heues, war noch einmal so flink als der Bursche, und fand trotzdem noch Zeit, alle paar Augenblicke den Kopf zur Dachluke des Heubodens hinauszustrecken. Der Bursche hatte ihr gesagt, wo der Bauer geblieben war, und als sie ihn heimkommen 203 sah, kletterte sie rasch wie eine Katze an der in die Scheune führenden Leiter hinunter und trat vor die Hausthür. Da stand auch schon die Bäuerin, das Gesicht mit einem Tuch verbunden, daß nur eine kleine, dicke Nase und ein paar verschwommene Äuglein von ihr zu sehen waren. »Eh au, Mayer-Fidel,« rief sie dem Bauern entgegen, »schon im ganzen Dorf weiß man's, daß Ihr mit einem professorische Herr hintereinander komme seid!«

Er grinste schadenfroh: »Natürlich, natürlich, gleich ist's da, das wunderfitzig Weibervolk! Geht aber nur mich 'was an, mich und den Sepp, und euch gar nix! Sepp!« schrie er, den Kopf nach der Stallthüre wendend, schob sich neben der dicken Mitbewohnerin vorbei und trat in seine Stube. Die Frauen folgten ihm jedoch auf dem Fuß, und als das Mädchen behauptete: »Was den Sepp angeht, geht gerad' so gut mich an,« schalt der Bauer sie einen frechen Spatz und wollte sie zur Thür hinauswerfen. »Eh au,« legte sich die Alte ins Mittel, »müssen Ihr denn immer händle mit'nander? 's Cilli meint ja nur, daß uns der Sepp so lieb isch, wie ein Eigenes, und des könnt Ihr dem Maideli doch nit in übel nehme!«

204 »Alles nehm' ich der Krott übel,« erklärte der Bauer und fuhr in gleichem Atem den höchst gelassen eintretenden Burschen an, warum er so lang auf sich warten lasse? Er nahm auf der Bank hinter dem Tisch Platz und legte die Arme übereinander, während Cilli vor Ungeduld fast verging.

»So setz' dich doch!« rief ihr die Mutter von der Ofenbank zu, »mir werde schon noch eine Weil' Geduld habe müsse –.«

Sie kannte den Hausgenossen und wußte, daß es kein größeres Vergnügen für ihn gab, als die Leute zu foppen und sich wichtig zu machen. Er war ein hageres, von innerem Ehrgeiz verzehrtes Männlein, der es trotzdem in seinem Leben zu nichts gebracht hatte. Er suchte sich einigermaßen dadurch zu entschädigen, daß er wenigstens gegen die Mitbewohner des Hauses den Überlegenen hervorkehrte und sich bemühte, ihnen das Leben so sauer wie möglich zu machen.

Allein in Cilli war ihm allgemach ein kräftiger Widerpart erwachsen; sie wußte recht wohl, daß dem Mayer Fidel das Prahlen vor leeren Stühlen kein Vergnügen war. »Komm, Mutter,« 205 sagte sie, »mir gehe, mir brauche uns nit zum Narre halte lasse!«

»Hi, hi,« höhnte der Bauer, »als wenn ich nit wüßt', daß eher die Welt unterging, als daß ihr die Stube verließet, bevor ihr nit g'hört, was ich weiß. Jo, jo, ich red', ich sag's, weil ich ein gutmütiger Mann bin, und nit so einer, der 's Best für sich b'halt; ganz 'was anders thätet ihr verdiene, denn wert seid ihr – nix, aber ich bin gerecht. Und so drum: wer kennt ihn nit zu Menzenschwand, wer hat nit schon hundertmal vom hier geborenen Franz Xaver Winterhalter gehört? Mei Vader selig isch mengmal mit g'laufe, wenn der alt' Fidel Winterhalter mit seine Bube drübe im Berg Schwämmle g'sucht hat. War geringer Leut' Kind, der Franz Xaver, und isch ein berühmter Mann worde, der nur noch an Fürstetafle 'gesse hat. Jo, jo, so geht's, so kann's über einmal gehe. – Zieh' dich an, Sepp, mach' dich fein, wir geh'n in Adler, dort sitzt der Herr Karlsruher Professor; er hat deinen verzierte Holzrahme beim Pfitz im Lade g'seh', und jetzt soll ich dich bringe und wirsch sehe, eh' du dich's versiehsch, da hasch's und bisch berühmt, und sie hänge dein Bild, auch wie 'm 206 Franz Xaver seins, beim Bürgermeister in der Stube auf. So, ihr Weibsleut, jetzt habt ihr's, und wenn ihr dran erstickt, so kann mir's recht sein!«

»Eh au, eh au!« rief die Bäuerin aus und schlug ihre dicken Hände ein übers andremal zusammen, »eh, das isch jetzt auch ein Glück, eh, isch's denn auch möglich, der Sepp ein Berühmter!«

Die Cilli sagte nichts; sie stand am Fenster und rieb mit ihrer Schürze die Scheibe blank.

Vater und Sohn verließen die Stube; kein Wunder, daß der Alte so vergnügt seiner Wege trippelte. Endlich kam's, endlich sollte er's erleben, der Sepp konnte ihn reich machen.

»'s erscht isch,« zischelte er neben seiner Pfeife hervor, »wir kaufe den Hof, und die Lenze und 's Cilli, – 'naus, 'naus mit dem Weibervolk! Vielleicht heirat' ich wieder, vielleicht auch nit, denn 's müßt eine sein, reich, jung und schön. Jetzt leg' dich an Lade, Sepp, und sei nit blöd und sag dem Herr, was du kannsch, denn wenn du unser Glück jetzt nit machst, wo's vor der Thür steht, hau ich dich kurz und klein.«

207 Der Sepp schwieg, was von jeher seine Haupteigentümlichkeit war; schon in der Schule sah er immer aus, wie aus den Wolken gefallen, so oft eine Frage an ihn gestellt wurde, denn statt aufzupassen, schnitzte er allerlei Männlein und Tierlein in den Schultisch und ließ nicht nach, so viele Strafen ihm auch diese Nebenbeschäftigung eintrug.

Er war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt, sah aber mit seiner schmächtigen Gestalt und seinem schmalen Mädchengesicht wie achtzehnjährig aus. Der Militärdienst ward ihm erlassen, denn er litt an einer Schwäche an den Beinen, was ihm von der englischen Krankheit, die er als Kind gehabt, zurückgeblieben war. Solang er lebte, war er nicht aus seinen Heimatbergen hinausgekommen; ihn kümmerte es wenig, was draußen in der Welt geschah; er hätte nicht einmal gewußt, was der Nachbar trieb, wenn ihn Cilli nicht über die Ereignisse des Dorfes auf dem Laufenden gehalten hätte. Sie hatte das, was ihm zum Vorwärtskommen abging: Energie und Ehrgeiz.

Das Ereignis mit Sepp, und was sein Vater über dessen Zukunft gesagt, hatte denn auch ein lebhaft bewegtes Nachspiel.

208 Die Frauen waren hinübergegangen in ihre eigene Wohnung, eine Stube, in der die peinlichste Sauberkeit, die schönste Ordnung herrschte; auf einem Tisch am Fenster stand ein Stickrahmen, sorgsam mit einem Tuch umhüllt.

Mutter Lenze hatte sich mit dem Ausdruck vollkommener Ratlosigkeit auf einen wackeligen Holzstuhl niedergelassen, und so, die Augenbrauen bis unter das Kopftuch gezogen, die Hände auf die Kniee gestützt, schaute sie ihre Cilli an, die dünn wie ein Gertlein vor ihr stand und unter heftigem Schluchzen erklärte, sie wolle auch berühmt werden, gerad' so berühmt, wie der Sepp, denn sie sei ihr Leben lang klüger gewesen als er, und ob das die Mutter nicht sagen müsse, daß er alleweil ein Daps gewesen sei?

»Eh au, freilich!« gab die Bäuerin zu, »ein rechter Daps, aber gut z'habe, kein bös' Aderle isch in dem Bub, und g'schickt isch er auch, das isch g'wiß, recht g'schickt isch der Sepp.«

»So, und ich?« schrie Cilli, »hab ich nit, wie ich noch ganz klein war, allemal die schönste Strümpf' zur Ausstellung in die Schul' 'bracht? Und meine Gitterstopfet, der Maschestich und erscht mei 209 Muschtertuch! Hab' ich nit eine Belobung kriegt von der Frau Großherzog? Und wenn sie erscht mei Goldstickerei sieht?«

Sie riß das Tuch von ihrem Rahmen und wies diesen energisch der Mutter hin.

»Eh au, freilich!« rief die Bäuerin aus, indem sie die feinen Goldblättchen auf schwarzem Sammet vorsichtig mit dem Finger betastete, »aber gelt, 's Müschterle hat dir der Sepp zeichnet?«

»Was isch ein Müschterle,« fuhr Cilli auf, »ich könnt's gerad so gut selber, wenn ich wollt! Mir hat d' Industrie-Lehrerin g'sagt, schöner wie ich thäten sie nit einmal in Karlsruh im Kurs sticke.«

»Jo, jo, d' Industrie-Lehrerin,« seufzte die Alte, »die hat viele neue Mode zu uns 'rauf 'bracht; wem wär's auch früher eing'falle, sich alleweil zu wasche und so viel d' Fenschter aufz'sperre? Mer hat auch g'lebt, und viele sind recht alt worde, die nie ein Lüftle in ihr Stube g'lasse.«

Sie erhob sich und watschelte zum Kachelofen, auf dem ein großer Topf stand.

»Komm,« sagte sie, »hol 's Brot aus der Lade, mir wolle z' Abend esse.«

210 Sie schenkte den schon mit Milch gemischten Kaffee in zwei irdene Schüsseln, setzte sich nieder und ließ sich mit Behagen vier, fünf Schüsseln des schwärzlichen Getränkes schmecken.

Nicht so Cilli; sie stand am Fenster und lugte aus, wurde erst rot und dann blaß, als sie die beiden kommen sah, und fragte sich im stillen: Ob der wüscht Mayer Fidel an der Thür vorbeigeht, oder nit?

Er kam herein, mit einem Gesicht wie ein Hahn, der zu krähen gedenkt, den Sepp nach sich ziehend, der unwillig folgte.

»Cilli, geh hol zwei Schüssele!« sagte die Lenze. »Ihr trinke doch ein bißle Kaffee?«

»Bewahr' mich Gott!« schrie der Bauer, »trinkt die alt' Schnitzbrüh' selber! Unsereins hat mit dem Herr Professor Braten gespeist, einen ausgezeichneten Braten, und er hat gesagt, ein Talent sei er, der Sepp, ein Talent, und er will ihn nach Karlsruh in die Kunstgewerb-Schul' nehme; ich soll nach St. Bläsi zum Landsvader gehe und ihn bitte, daß er dem Sepp ein Stip – Stip –«

»Ho ho,« höhnte die Cilli, »der Mayer Fidel 211 weiß nix!« Er erhob seinen Stock, aber die Cilli flüchtete sich hinter den breiten Tisch, an dem die Lenze noch immer saß und Kaffee trank und kopfschüttelnd die Dinge gehen ließ, wie sie gingen. Da schnitt der Mayer Fidel dem Mädchen eine Nase: »Berühmt werde mir aber doch, da beißt keine Maus den Fade ab, und wenn dich der Zorn halb umbringt!«

»So weit sind wir noch nit,« meinte das Mädchen, »denn leicht könnt's sein, daß Ihr die Rechnung ohne den Wirt macht, und, und dann isch's Lache an mir!«

»O!« schrie Cilli, nachdem die Hausgenossen die Stube verlassen hatten, »der schlecht' Mensch, der falsch', heimtückisch'! Zur Thür 'naus g'hört er g'worfe, und Ihr bleibt sitze, Mutter, und saget kein Wort und lasset ihn schimpfe und schelte und mich mit Verachtung behandle!«

»Weisch, Maideli, er isch einmal so; ein dürrer Ast treibt keine Blüte, das kann man nit verlange; aber unterhaltlich isch er darum doch, und ich kann's oft nit erwarte, bis der Mayer Fidel heimkommt, denn er weiß alleweil ebbes Neu's.«

Cilli seufzte, nahm ihr Strickzeug und ging 212 damit hinters Haus. Hier war ein schmaler, mit Dielen ausgelegter Platz unter dem weit vorstehenden Dach, das noch den friedlich plätschernden Brunnen deckte. Längs der Wand des Hauses war das zum Bearbeiten bestimmte Holz in schönen, gleichmäßigen Scheiten bis zum Dach aufgebaut.

Es dämmerte, der Sepp saß, in Betrachtung verloren, auf seiner Schnitzbank und pfiff vor sich hin. Der junge Mensch war wie eins mit dem Frieden rings umher, mit dieser anspruchslosen, Poesiedurchwobenen Abendlandschaft, deren Schönheit seine künstlerisch veranlagte Seele stets von neuem erfreute.

Als Cilli erschien, entfuhr ihm ein Seufzer; er wußte, jetzt kamen die Vorwürfe; denn sie, mit ihrem Eifer, das, was sie als recht erkannt, zu verteidigen und durchzusetzen, begriff den Jugendgefährten nicht, für den es nichts Schrecklicheres gab, als Händel, und der sich um des Friedens willen lieber alle möglichen Unterlassungssünden zu schulden kommen ließ. Aber Cilli blieb heute stumm; sie stand mit hochroten Wangen da, strickte, wie besessen, darauf los und erweckte in dem Burschen das unbehagliche Gefühl, daß ein Sturm 213 im Anzug war. Schüchtern sah er nach ihr hin, räusperte sich und meinte: »Fort soll ich von daheim –«

Cilli zuckte die Achseln, als sei ihr das ganz einerlei; im nächsten Augenblick jedoch knäulte sie ihren Strickstrumpf wie einen Lumpen zusammen und warf dem Jugendgefährten einen zornglühenden Blick zu: »Und wenn du dann so ein großer 214 Herr bischt, wie dem Winterhalter sein Bild beim Bürgermeister, kommscht dann auch ersch wieder heim, wenn du alt bisch?«

»Was denksch!« der Bursche schüttelte heftig das Haupt, »ich will ja nur 's Anmale lerne, so wie der Pfitz die Holzware von Nürnberg kriegt; weisch, mit Farbe drauf; bei uns kann's keiner, und das möcht' ich lerne.«

»Un bisch dann ein Berühmter?« erkundigte sich Cilli.

»'s wird nit so arg sein,« meinte er.

Sie sprang auf: »Und bisch's, – bisch's, – so, so wart' nur, dann sollsch auch 'was an mir erlebe!« –

Was, davon hatte sie freilich selbst keine Ahnung, sie war sich nur des einen bewußt: der Sepp durfte ihr nicht über den Kopf wachsen, und sein Vater, der Mayer Fidel, nicht recht behalten.

Sepps Vater kehrte mit der Nachricht von St. Blasien zurück, es sei alles in Ordnung, der Landesvater freue sich sehr, daß der Sepp nach Karlsruhe komme, und er wolle auch alle Tag nach ihm sehen und ihm die ganze Residenz zeigen, flunkerte er dazu.

215 »Eh au, Maideli,« sagte die Lenze-Mutter zu ihrer Cilli, »was bisch auch so unstet auf einmal, tragsch mir ja alle Ruh' aus dem Haus! Setz' dich lieber her und hilf mir ein bißle im Sepp seine Wäsch' ausbessere; das will ich nit erlebe, daß er wie ein Kesselflicker aussieht, wenn der Landesvater nach ihm schaue thut. Nei, seine Wäsch' muß in Ordnung sein, und wenn ich von meinem eigene Sach' hergebe muß!«

So kam die Aussteuer zu stand, gering genug, denn sie hatte reichlich in der uralten, wurstförmigen Reisetasche Platz, an der das Schloß fehlte, das aber die Lenze mit einer dicken Schnur zu ersetzen wußte. Cilli rannte alle Tage ein paarmal ins Vorderdorf, zur Industrie-Lehrerin, mit der sie gar Wichtiges zu verhandeln hatte, und die es ihr immer wieder in die Hand hinein versprechen mußte, ihrer besten Schülerin zu gedenken, sobald die Landesmutter nach St. Blasien komme.

So war Cilli, als für Sepp die Abschiedsstunde schlug, der einzige Held und sah den Jugendgefährten ohne Thränen im Innern des Postwagens verschwinden. Sepp machte den Eindruck eines Menschen, der ins Gefängnis abgeführt wird. Sein 216 Vater dagegen gebärdete sich um so lauter, schrie nach dem Reisesack, der auf der Decke des Postwagens lag, schwitzte vor Angst, den Zug in Titisee zu verfehlen, und fing Händel mit dem Kutscher an, der nicht vor der üblichen Stunde abfahren wollte. Als sich der Omnibus endlich in Bewegung setzte, hatte die Lenze-Mutter bereits ihre ganze Schürze von oben bis unten mit Thränen durchnäßt.

In Karlsruhe nahmen sich zwei Kunstgewerbeschüler des weltunerfahrenen Schwarzwälders an; der Professor, der sich für Sepp interessierte, hatte die jungen Leute darum gebeten, sich ihres schüchternen Mitschülers zu erbarmen. Sie ließen ihm ein Bett in ihrer Stube herrichten und nahmen ihn mit zu ihrem Mittagstisch. Allein ihr strammes Wesen, sie waren Norddeutsche, ihre rasche Art, zu sprechen, waren wenig dazu angethan, dem ungewandten Schwarzwälder die Zunge zu lösen. Sie hielten ihn mit seinem mädchenhaften Erröten und den verwundert aufgerissenen Augen für ein Wesen untergeordneter Natur, das nicht ernst zu nehmen sei. Sepp, der das wohl empfand, hüllte sich in seinen Bauerntrotz und setzte den Reden 217 und Fragen der jungen Leute ein unwirsches Kopfschütteln entgegen. Sie ließen ihn bald in Ruhe und gingen des abends ihrer Wege, Sepp seinem Schicksal überlassend. Aus Angst, sich zu verlaufen, traute er sich nicht aus der Zähringerstraße heraus, – er wohnte in derselben, – und ging nun unablässig die Gasse auf und ab, nach einem Lädchen spähend, das ihm unansehnlich genug erschien, um es wagen zu dürfen, sich darin sein Abendbrot zu kaufen. Er lag immer schon lang im Bett und schlief, wenn die beiden Schlafkameraden lärmend und guter Dinge in die Stube gestürmt kamen. Ihr Schwatzen und Lachen riß ihn aus dem Schlaf, eine unbeschreibliche Sehnsucht nach den Lauten seiner Heimat preßte ihm das Herz zusammen, so daß er zu winseln begann wie ein junger Hund, was sich allmählich zu einem verzweiflungsvollen Schluchzen steigerte. Als kein Fragen, kein Fluchen und Schelten ihn zum Schweigen brachte, kamen die Brüder miteinander überein: »Er muß ›Haue‹ haben, damit er wenigstens weiß, warum er brüllt.«

Dies geschah, und Sepp dachte bei sich selbst: ›Wär' ich wie die Cilli, dann ließ ich mir's nicht gefallen.‹

218 Er selber aber machte keinen Versuch, sich gegen die wacker Zuhauenden seiner Haut zu wehren.

In der Kunstgewerbe-Schule zeigte er sich dann freilich von einer anderen Seite; was sich die Genossen mit Mühe anzueignen suchten, das ging ihm alles wie spielend von der Hand. Allein die freundlichsten Ermunterungen, das beste Lob, das ihm der Professor zu teil werden ließ, alles prallte an dem jungen Menschen ab. In ihm lebte nur ein Wunsch, eine Sehnsucht: sobald als möglich heimzukommen. Und als er die ersten Anfänge der Zeichenkunst inne hatte und ein wenig mit den Farben umzugehen verstand, hielt er sein Ziel für erreicht, sagte keinem Menschen ein Wort, packte sein Bündelchen und fuhr nach Haus.

Aber der Mayer Fidel war nicht der Mann, die große Zukunft des Sohnes so leichten Kaufes aufzugeben; er brachte ihn wieder nach Karlsruhe zurück und verabschiedete sich von Sepp mit der Versicherung: »Wenn du wieder kommsch, bring' ich dich um!«

Der Professor nahm sich nun des jungen Menschen besonders an: »Es wäre schade,« sagte 219 er zu ihm, »wenn Sie Ihre Zeit nicht aushielten, denn was Sie bis heute gemacht, zeigt eine entschiedene Begabung für das Ornament. Sie fangen schon an, die verschiedenen Stilarten in ihrer Eigenart zu begreifen, wie ich aus Ihren Arbeiten ersehe. Nun braucht's noch, um Neues schaffen zu können, das Studium der Tier- und Pflanzenwelt, und ich hoffe, es lockt Sie doch mehr, ein tüchtiger Zeichner zu werden, dem die ganze Welt offen steht, als auf Ihrem Schwarzwald zu sitzen und Schachteln anzumalen.«

Was den Sepp mehr lockte, erwies sich gleich in den nächsten Tagen, indem er abermals eine Flucht ins Werk setzte; er wurde jedoch bei seinem Vorhaben ertappt, und von nun an bewacht, wie ein Verbrecher. Er bekam nie mehr Geld in die Hand, als er für den Tag brauchte, und wenn seine Schlafkameraden des Abends oder am Sonntag ausgingen, mußten sie den trübseligen Schwarzwälder, weder zu ihrem, noch zu seinem Vergnügen, überallhin mitschleppen.

Sepp fügte sich anscheinend, und der Professor glaubte, schon gewonnen zu haben; denn der junge Mann zeigte sich in seinen Arbeiten so 220 tüchtig, daß der Lehrer seine helle Freude an ihm haben mußte.

Es war an einem köstlichen Frühlingssonntag; die Kinder kamen mit großen Buschen Palmenkätzchen aus dem Wald, in dem alle Vögel jubilierten.

Die Kameraden Sepps, ihren Schwarzwälder hinter sich, wollten durch den Wald zum Schützenhaus gehen. Sepp weigerte sich, mit ihnen einzukehren, und da sie wußten, daß er ohne Geld war, ließen sie ihn laufen. Er träumte von einer neuen Flucht, und wie sie ohne Mittel wohl zu bewerkstelligen sei. Auf dem Weg, parallel mit dem seinen, schritt ein langer Zug von jungen Mädchen, die zwei und zwei mit einander gingen, lustig plaudernd, mit Palmensträußen in den Händen. Einige der Mädchen trugen ländliche Trachten, und Sepp, der eben mit einem scheuen Blick nach der fröhlichen Schar um die Ecke biegen wollte, blieb plötzlich wie versteinert stehen. Träumte er denn, war er denn bei Verstand? Wandelte da nicht ein goldgesticktes Häubchen vor ihm her, so wie es die Frauen in seiner Heimat trugen, schwarzgrundig, mit flatternden 221 Bändern? Dem Sepp hatte es förmlich den Atem versetzt, er rannte über die Wiese, direkt auf den Zug los, den Blick wie verzaubert auf das goldigflimmernde Häubchen gerichtet, stolperte über eine Baumwurzel und fiel auf die Nase. Einige der Mädchen wandten sich nach ihm um, ein Gekicher entstand, er richtete sich verlegen auf, – da, wer war's, der vor ihm stand und ihm beide Hände hinstreckte: »Sepp, Sepp, o, grüß dich Gott!«

»Cilli!« schluchzte er auf und fiel ihr um den Hals; sie lachten und weinten und waren so fassungslos in ihrer Freude, daß der ganze Zug still stand und dem Schauspiel zusah.

Das Mädchen fand sich zuerst wieder, schnell schob sie den Sepp, der ihre Hand nicht freigeben wollte, von 222 sich weg. »Geh' geh'!« flüsterte sie ihm zu, »das gehört sich nit, daß du da nebe mir herlaufsch!«

Aber dem Sepp fiel's nicht ein, das so unverhofft gefundene Stückchen Heimat so schnell wieder los zu lassen.

»Seit wann bisch denn hier?« fragte er, das Mädchen mit einem seligen Lächeln anblickend.

»Im Jänner bin ich komme,« gab sie rasch, um ihn los zu werden, zur Antwort. »Die Industrie-Lehrerin hat's im Sommer bei der Frau Großherzogin ausgewirkt, daß ich in Karlsruh einen Kurs mitmache darf.«

»Und du haltsch's aus?«

»Versteht sich!«

»Ich sterb' vor Heimweh.«

»Schäm' dich!«

»Komm, mir lasse alles liege und stehe und geh'n heim.«

»Seiner Lebtag nit,« fuhr sie auf, »was solle denn d' Leut' denke, wenn wir gerad' so dumm heimkomme, als wir gange sind! Und ich bitt' dich, jetzt geh'! D' Aufseherin hat schon zweimal herg'schaut.«

Er machte jedoch keine Anstalten, und durch 223 die Mädchenreihen ging ein leises Gekicher. Cilli wußte sich nicht zu helfen. Er that ihr ja im Innern recht von Herzen leid, – sein Gesicht war so mager geworden, und wenn er sie mit seinen blauen, unbeschreiblich kindlichen Augen ansah, war ihr gerade, als müsse sie ihn wirklich und wahrhaftig bei der Hand nehmen und mit ihm laufen, laufen, bis sie in ihren Bergen ankamen. Aber dann, – ja dann waren sie beide nichts geworden, und die alte Armedei fing von vorne an. Nein, eins von ihnen mußte Mut haben und Standhaftigkeit, und das war sie!

Sie schluckte ein paarmal, dann wandte sie dem Jugendgefährten ein völlig wütendes Gesicht zu: »Auf der Stell' gehsch deiner Weg! – Ich will nix von so einem Daps, wie du einer bisch – wenn du ein bißle Ehrgefühl hasch, so laßsch mich jetzt in Ruh!«

Völlig niedergedonnert blieb er stehen und starrte dem Zug nach. Daß die Jugendgefährtin, gleich nachdem sie gesprochen, unter heftigem Schluchzen ihren Weg fortsetzte, das konnte er freilich nicht sehen, sondern dachte nur das eine: »'s Cilli mag mich nimmer, – 's Cilli war herb zu mir!« –

224 Nun war er ganz verloren, nun war alles aus! Er ging heim, packte unter Thränen seine paar Sachen in den urväterlichen Reisesack und verfügte sich damit in die Wohnung seines Professors. Der, ganz betroffen über das verstörte Aussehen des jungen Mannes, fragte teilnehmend, was ihm sei, und Sepp gab zur Antwort: »Der Vader isch g'storbe, ich muß heim.«

Das, hatte er sich in seinem Gram ausgedacht, müsse wirken, und so war's in der That; der Professor gab ihm das nötige Geld zur Heimreise, und Sepp fuhr davon.

Als er St. Blasien im Rücken hatte, und die Gebilde seiner Heimatberge sich vor ihm aufthaten, – da nahm sich der Bursche in seinem tiefsten Innern vor: »Mich soll niemand mehr von daheim fortbringe!«

Und er blieb fest, ließ den Vater schimpfen und keifen und nahm seinen alten Platz ein, hinter dem Haus, auf der Schnitzbank. Wenn er auch kein Berühmter geworden war, so viel wenigstens hatte er gelernt, daß er mit seinen eigenartigen Holzschnitzereien mehr als das doppelte wie früher zu verdienen vermochte. Und wenn 225 sein Vater jammerte: »Jetzt könnt' der Kerl ein zweiter Franz Xaver Winterhalter sein und in dem gepriesenen Italien sitze, wo's immer warm sein soll,« – da dachte der Sepp: »Mein Heimatlüftle isch mir lieber, und wenn's noch so frisch von den Berge weht.«

Aber ganz zufrieden war er darum doch nicht; es fehlte etwas in dem öden Haus, das Leben, die Bewegung, es war so langweilig.

Wenn die Lenze-Mutter des Abends ein wenig vors Haus, zu dem Burschen saß, fing er immer an: »Ihr müsset 's Cilli nit so lang von daheim fort lasse, 's thut kei gut, glaubet mir! 's wird hochmütig da drunte, wartet nur, bis es Euch auch anfahrt, wie's mich angefahre hat; geschämt hat sich's meiner, und drum rufet's zurück, rufet's zurück, Lenze-Mutter, bevor's der Hochmutsdeufel ganz verderbt hat!«

»Eh au, eh au,« jammerte die Frau, »wenn ich auch nit so dumme Finger hätt', ich thät ihm ja gern schreibe, 's soll heimkomme, aber mit dene Finger, was isch da zu mache?«

»He, Lenze-Mutter, das Schreibe besorg' ich Euch gern,« bot sich der Sepp an, »Ihr brauchet 226 darum nit bekümmert zu sein, das isch gleich geschehe.«

Er ging ins Haus, und die Lenze-Mutter folgte ihm, ganz gerührt vor Dankbarkeit, so daß sie gleich mit Nadel und Faden kam, um dem Burschen die aufgetrennte Naht seiner Weste am Rücken zusammen zu nähen. Dabei schrieb er, das heißt, er zeichnete mit einer seltenen Leichtigkeit ihr beiderseitiges Wohnhaus auf den Briefbogen hin, ganz wie es war, mit dem tiefen Dach, sich selber, wie er an der Schnitzbank saß, und unter der Thüre stand die behäbige Gestalt der Lenze-Mutter, wie sie, das Gesicht mit der Hand beschattend, die Gasse entlang lugte. Um das Bildchen herum zeichnete er, wie zum Abschluß, ein allerliebstes eigenartiges Ornament, dessen Mittelpunkt ein rotfarbenes Herz bildete, das lichterloh brannte. Darunter standen die wenigen Worte:

Liebe Cilli!

Du sollst auf der Stell heimkommen! Dieses

will Deine Dich liebende Mutter

und Dein Dich liebender

Sepp.«

227 Vierzehn Tage später, an einem Sonntag, in der Früh', kam die Antwort. Die Lenze-Mutter öffnete das Schreiben und sagte zum Sepp, den sie nicht erst hatte herbeirufen müssen:

»Geh', lies mir auch das nett Briefle; ich hab' so gar dumme Auge; wann ich nur 'was Geschriebenes seh', isch mir's gerad, als ob die Buchstabe Fangis miteinander spiele thäte.«

Schon die Anrede: »Liebe Mutter!« ergriff ihr leicht gerührtes Herz, und sie ließ sich's nicht nehmen, während der ganzen Dauer des Briefes darauf los zu schluchzen, als erfahre sie daraus die traurigsten Dinge der Welt. Daß dem jedoch nicht so war, bewies der Gesichtsausdruck des Mayer Fidel, der auf den Strümpfen herbeigeschlichen war und an der halboffenen Thüre lauschte.

Der Inhalt des Schreibens war folgender:

»Liebe Mutter!

Wie mich das schöne Bildlein gefreut hat, das der Sepp auf das Briefpapier gezeichnet, kann ich unmöglich mit Buchstaben ausdrücken, obwohl ich im Schönschreiben noch weiter hier gekommen bin, als in der Schul', wo ich bereits die 228 Best' war. Allein, ich werde von hier nicht abreise, ehe ich nicht meinen Stick-Kurs vollendet und die Kleidermacherei. Ich kann mir gratulieren, daß mich ein gütiges Geschick in Gestalt der Frau Großherzogin hieher befördert hat, denn nicht nur die Handarbeit, auch alle gute menschliche Eigenschaften werden mit erzogen, und ich habe schon viel zur Vollendung meines Charakters beigetragen. Denn besonders in der Schadenfrohheit bin ich noch nicht über dem Graben, und ich muß noch etwas Bescheidenheit lernen, wie es mir unsere liebe Vorsteherin, Fräulein Bedenk, sehr warm ans Herz gelegt. Aber einmal will ich es doch noch, bevor ich mich ganz verändert, sagen: Der Mayer Fidel soll sich nur auch bei der Nas nehmen; warum hat er immer so ein Gethu gehabt mit dem Sepp und mich meiner Lebtag veracht? Da hab' ich's freilich gemacht, wie die Geiß, die man zwickt, und die Hörner geweist, was mir jetzt noch als eine wüste Gewohnheit anhängt. Aber bis zum Juli hab' ich's hoffentlich weg, sowie meine anderen Fehler, und dann komme ich heim als geprüfte Stickerin und Kleidermacherin. Ihre Königliche Hoheit haben sich schon die Ehre 229 gegeben, bei mir Bestellungen zu machen: Zwei Hauben und zwei Mieder, wofür ich mich gnädig bedankt habe. Der Sepp soll aber nicht meinen, daß es mir damals im Hardtwald mit dem Daps Ernst gewesen; ich hätte ihn ja sonst nicht los gebracht. Aber wissen thu' ich jetzt, daß er 'was kann, und ich nicht allein, denn wir alle im Kurs, wenn wir noch so schön sticken können, wie's ans Mustererfinden geht, sind wir oft meistens auf den Kopf gefallen. Darum auch war meine Freude groß über das schöne Ornament, das der Sepp um die Zeichnung gemacht hat, und ich habe es gleich durchgepaust. Nur das Herz habe ich heraus, weil man sonst etwas meinen könnt'. Alsdann habe ich es Fräulein Bedenk aufrichtig gestanden, daß nicht ich das Muster erfunden, sondern der Sepp, da wir nicht nur erwerbungsfähig, sondern auch tugendhaft aus dieser schönen Anstalt scheiden sollen. Es ist nur schad', daß der Mayer Fidel nicht auch ein Mädel ist und so einen Kurs an seine Besserung wenden kann, denn dann müßte er seine Prahlerei klar einsehen und sich's gestehen, daß er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Sepp ist, Gott sei Dank, 230 kein Berühmter geworden, und ich dagegen habe mir auch schon etwas Achtung verdient, denn wenn der Sepp schöne Muster zeichnen kann, so kann ich sie sticken, und so Gott will, werden wir einstens wohlhabende Leut' und bleiben ewig zusammen bis an unser seliges End', wie ich es mir immer vorgenommen habe.

Eure unvergeßliche

Cilli.

 

 


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