Hermine Villinger
Aus dem Badener Land
Hermine Villinger

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Vater und Sohn.

Der pensionierte Hauptlehrer Streicher saß im Schlafrock hinter einer hübschen Anzahl Schulhefte, die er für seinen Sohn, den Lehrer, durchsah. Der Stoß war so hoch, daß der alte Herr von seiner ihm gegenübersitzenden Gemahlin nur gerade noch den grauen Scheitel und ein paar runde, lebhafte Augen zu sehen bekam. Sie strickte und hatte stets ein Wort auf den Lippen, das sie jedoch immer wieder durch des Gestrengen »Pscht« hinunterschlucken mußte. Sie hatten in den beinah vierzig Jahren, die sie miteinander zugebracht, einen ehrlichen, 4 hartnäckigen, aber erfolgreichen Kampf miteinander geführt, indem jedes das andere anders haben wollte, als es war; da sie jedoch absolut in ihrer Eigenart verharrten, bewies am besten, daß sie sich weder durch Ärger noch Kränkung in ihrem Wesen geschädigt hatten.

»Ich bitt' dich, Streicher,« fuhr die kleine Frau endlich in heller Ungeduld auf, »so guck' doch nicht so unverwandt in die stupiden Hefte hinein, als hinge das Wohl des Landes von den paar Fehlern in diesen Aufsätzen ab –«

»Thut's auch,« sagte er, »ordentliche Kinder geben ordentliche Leute, denn Ordnung ist –«

»Ich weiß, ich weiß,« unterbrach sie ihn, »nur keine Reden jetzt, in mir fiebert alles – bist du denn gar nicht stolz, nicht außer dir, daß unser Heinerle an die Bürgerschul' nach Konstanz kommt, in so eine große Stadt, von unserem kleinen Thiengen weg, und nur wegen seiner musikalischen Anlagen, über die du von jeher nichts als geschimpft hast –«

»Über seine Richtung, ja, schimpf' ich noch heut',« unterbrach sie der Alte und streckte den Zeigefinger aus, was er immer that, wenn er 5 eine längere Rede im Sinn hatte, »diese Wagnermusik ist für einen vernünftig organisierten Menschen einfach nicht zum aushalten; das ist ein Lärm, ein Getöse, um aus der Haut zu fahren; ja, in die Kirche bringt er mir sogar dies Unentwirrbare, nicht zu Begreifende –«

»Aber die Leut' sagen, 's wär' 's Schönste von der ganzen Kirch',« warf Frau Streicher ein.

»Weil sie nichts verstehen, was wissen denn die, was Musik ist, wer weiß das überhaupt noch heutzutag?«

»Ja, aber gerad wegen seiner Musik kommt er ja nach Konstanz –«

»Wird ihm übel genug bekommen, wenn ich nimmer hinter ihm steh'; wie sieht denn der Bub die Hefte durch? Ganz dein Leichtsinn; deine Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit; denn hast du in den langen Jahren unseres Zusammenseins auch nur das geringste von mir gelernt? Du weißt heute noch nicht, wo der Wind herkommt, obwohl ich dich schon einige hundertmal über die Windrichtungen belehrt habe.«

»Bist du jetzt fertig?« Die kleine Frau stützte das Kinn auf den Heftenstoß und sah den wieder 6 darauf los korrigierenden Gatten mit einem durchdringenden Blick ihrer runden Augen an, »o Streicher, Streicher, was sind meine Splitterle neben den ungeheuern Balken in deinem eignen Auge; bist außer dir und machst ein Gesicht drei Tage lang, wenn man sein altes Kanapee überziehen lassen möcht', und hat unser Bubele einen Kittel gebraucht, nix war schlecht genug; bist aber gleich im nächsten Augenblick über die Gass' gerannt, um irgend einem schmutzigen Peterle oder einem Mariele ein Paar Stiefel oder einen Rock anmessen zu lassen; für die anderen war nie nix gut genug, für die eignen ist alles zu viel; schaust bei Gott heut' noch dem Heinrich auf die Finger, wenn er sich ein zweites Gläsle Wein einschenkt, und all' seine guten Eigenschaften existieren nicht für dich, obwohl 's deine eignen sind –«

»Da wär' ich froh, denn dann wär' er anders, allein ich habe meine Gründe –«

»Ich weiß, ich weiß,« rief sie, »und kann nur sagen, Gott sei Lob und Dank, daß unser Heinerle fortkommt, denn die altväterliche Bescheidenheit, in der du ihn hältst, ist längst aus der Mode; heutzutag traut sich jeder was zu, 7 wagt was und gewinnt deshalb auch was; unser Bub aber hat seiner Lebtag hören müssen – du bist nichts und kannst nichts – und wenn ihn der Karlsruher Professor nicht hätt' in der Kirch' spielen hören und nicht ganz entzückt –«

»Ach was,« unterbrach er sie.

»Ja wohl, ja wohl, da ist er hereingekommen, der Herr Professor, und hat gesagt: Ihr Sohn ist ja ein sehr musikalischer Mensch – gottlob, ich bin dabei gestanden und hab's mit meinen eigenen Ohren gehört, sonst thätst du wieder die ganze Geschicht' verkleinern –«

»Wie du sie vergrößerst –«

Sie wollte schon auffahren, lachte aber plötzlich übers ganze Gesicht und eilte nach der Thüre: »Der Bub, der Bub – da kommt unser Heinerle!«

Der hereintrat, war ein langer, hagerer Mensch von ungefähr dreißig Jahren; er hatte ganz das Gesicht des Vaters, denselben rührend bescheidenen Ausdruck mit dem gleichsam nach innen gerichteten Blick.

»Nun, was sagte der Herr Pfarrer zu deiner so plötzlichen Versetzung?« fragte der alte 8 Streicher, »er hat dir gewiß eine Menge guter Lehren mit auf den Weg gegeben?«

Der Sohn lächelte: »Nicht eine, Vater, er sagte nur immer: ist's denn auch möglich, einen größeren Nagel zum Sarg hättst mir nicht schmieden können, als daß du gehst –«

Die Mutter nahm ihren Einzigen beim Schopf: »Das hab' ich mir gleich denkt –«

»Gedacht, gedacht,« korrigierte sie der Gatte.

»Denn wer soll ihm wieder so gute Musik machen wie unser Bubele! Die werden horchen, die Konstanzer!«

»Ei,« fuhr der Alte ärgerlich auf, »immer dieses sanguinische ›das Beste hoffen‹; man muß stets im Leben auf das Schlimmste gefaßt sein, und ich gestehe dir, Heinrich, daß ich sehr besorgt um deine Zukunft bin, denn du ließest wieder in einem Heft den Accusativ für den Dativ stehen –«

»Herrgott,« rief die Mutter aus, »und die Welt ist nicht aus ihrer Achsel gegangen –«

»Aber um Gottes willen, eine Schullehrersfrau,« ereiferte sich der Alte, »Achse! die Welt dreht sich um ihre Achse –«

9 »Ich bitt' dich,« unterbrach sie ihn, »das ist ja doch so einerlei –«

»Nein, liebe Mutter, das solltest du dir wirklich merken,« sagte der Sohn; aber sie gab ihm einen leichten Schlag auf die Wange: »Bist halt dein ganzer Vater!«

»Wieso, inwiefern?« begehrte Herr Streicher auf, »das möchte ich doch wissen!«

»Besinn' dich einmal, Alter, hat es nicht eine Zeit gegeben, in der sich für dich die Welt auch um ganz andre Dinge drehte, als um eine Atzel?«

Heinrich lachte laut auf, während der Alte plötzlich verlegen wurde und ein ängstliches: »Aber, meine Liebe, du wirst doch nicht,« stotterte.

Sie lachte ihn unbarmherzig aus, sich offenbar an seiner Verlegenheit weidend, denn der alte Herr sah aus wie einer, der in Todesangst schwebt, irgend ein von ihm schamhaft gehütetes Geheimnis preisgegeben zu sehen. Das Pochen an der Thüre, das in diesem Augenblick ertönte, war ihm daher sehr willkommen, und er rief mit großer Beflissenheit: »Herein!«

Ein Bäuerlein trat über die Schwelle, etwas zaghaft, nicht recht imstande, den Blick zu dem 10 Hausherrn zu erheben, der ihm freundlich die Hand bot.

»Ah, ah, mein lieber Aberle, Ihr bringt mir gewiß die Zinsen, das freut mich, das ist schön; hast nicht noch ein Schüssele Kaffee, Frau?«

»Ja,« sagte sie, »er soll eins haben, aber daß er uns die Zinsen bringt, das glaub' ich nicht, denn es steht ihm auf dem Gesicht geschrieben, daß er sie nicht bringt.«

»Will nicht hoffen, will nicht hoffen!« meinte der alte Herr, während das Bäuerlein um einen halben Kopf kleiner wurde.

»Ach Gott, Herr Streicher, ich kann gewiß nix dafür, 's Weib ist halt wieder krank – 's ist schrecklich mit dem Weib!«

»So, was fehlt ihr denn?« fragte Frau Streicher.

»Hm, wir haben halt wieder ein Kleines kriegt.«

»Daß doch das Weibervolk das Kinderkriegen nicht lassen kann,« sagte Frau Streicher, indem sie sich mit untergeschlagenen Armen vor den Bauer hinstellte, »ihr Mannsleut' seid recht übel dran –«

»Die Frau Streicher ist alleweil lustig,« 11 stotterte das Bäuerlein, »ja, ja, wer halt 's Auskommen hat, der kann lachen; ich wollt' ja gern zahlen, aber ich hab' nur noch eine Kuh – eine Kuh und fünf Kinder, drei davon sind tot, Gott hab' sie selig, sie sind wohl aufgehoben; meine Frau hat mir aufgetragen, einen schönen Gruß, und ob's der Herr Streicher verlangt, daß wir auch noch die letzt' Kuh verkaufen?«

»Nein, nein,« sagte er und kratzte sich das Kinn, »fatal, fatal, aber davon kann keine Rede sein –«

»Gelt aber, ich hab's gewußt, ich hab's gewußt, der Herr Streicher drängt die armen Leut' nicht, Gott vergelt's, Gott vergelt's Ihnen tausendmal!« rief der Bauer, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und wollte sich mit vielen Bücklingen entfernen, allein Frau Streicher stellte sich ihm in den Weg:

»Noch eins, Mann Gottes, Ihr geht doch hoffentlich auch manchmal ins Wirtshaus?«

»He, allemal am Sonntag, so ein Stündle, Frau Streicher, wenn's Gott's Wille ist.«

»Freilich,« sagte sie, »wer vergunnt's Euch denn, das Mannsvolk muß sich erholen, das ist 12 von jeher in der Ordnung gewesen; langt's nicht, dann spart man an Weib und Kind, wenn nur die drei Märkle für Wein und Bier rauskommen –«

»Eh, was denken Sie auch,« ereiferte sich der Bauer, »so werd' ich doch nicht hausen, Frau Streicher, drei Mark versaufen, ich bitt' Ihnen!«

»Nun, da werden's zwei machen!« meinte sie.

»Das könnt ehnder stimmen,« gab er zu.

»Seht,« frohlockte sie, »da hätten wir's gleich, Ihr begnügt Euch in Zukunft mit einer Mark, und ich komm' jeden Sonntag bei Euch vor und hol' mir die andre Mark – macht im Jahr 52 Mark und 60 betragen Eure Zinsen; denkt Euch, wie bequem, auf die Art behaltet Ihr Eure Kuh, braucht nicht an Weib und Kind zu sparen und kommt noch außerdem nicht jeden Sonntag mit einem Rausch heim.«

Das Bäuerlein schielte zum Herrn Streicher hinüber: »Ein ganz nett's G'späßle; Frau Streicher ist immer lustig, wohl, wohl, ich empfehl' mich –«

»Aberle,« rief ihm der alte Herr nach, »seid nicht so pressiert, der Gedanke meiner Frau wäre des Überlegens wert; wenn Ihr wirklich zwei 13 Mark alle Sonntagabend vertrinkt, das ist entschieden zu viel, das habe ich mir in meinem ganzen Leben nicht erlaubt. Begnügt Euch also in Zukunft mit einer Mark, mein Lieber, denn was ein braver Mann ist, der schränkt sich ein, wenn er Schulden hat; habt Ihr mich verstanden, Aberle?«

Der erhob den Zeigefinger: »O, Herr Streicher, man muß die Weibsleut' nicht so ins Kraut schießen lassen, sonst ist's bald aus mit dem Frieden in der Welt; denken Sie an mich, denken Sie an mich!«

Der Mann verschwand, und Frau Streicher brach in ein herzliches Gelächter aus: »Siehst du, Alter, daß ich auch zu etwas gut bin? Ich verwalt' das Amt der auswärtigen Angelegenheiten, denn ließ ich dich machen, ging all unser Erspartes für die anderen Leut' drauf. So und jetzt solls ein wahres Sonntagsabendessen geben, Schinken und Pfannenkuchen –«

»Warum nicht gar,« fuhr Herr Streicher auf, »am hellen Werktag –«

»Ich nenn's einen Festtag, an dem unser Bubele die Ehr' erlebt hat, nach Konstanz versetzt zu werden.«

14 Der Alte schüttelte das Haupt: »Weib, Weib, was würde erst aus uns, wenn ich die inneren Angelegenheiten nicht –«

»Weiß, weiß,« unterbrach sie ihn, »nichts blieb übrig, als der Abfall der Niederlande – damit ihr seht, daß ich auch was aufgeschnappt hab', ihr gelehrten Prinziper!«

Sie schoß in die Küche, und der alte Streicher meinte kopfschüttelnd: »Wenn das nun wieder jemand gehört hätte!« worauf er und der Sohn sich über die Hefte hermachten, die sie stillschweigend zu Ende korrigierten. Die Mutter hatte die Lampe gebracht und weinte nun draußen beim Kochen über das baldige Scheiden des Sohnes aus dem elterlichen Hause. Auch dem Vater ging der Abschied nah, er suchte jedoch seine Gefühle hinter einer besonders gestrengen Miene zu verbergen, die aber Heinrich recht wohl zu deuten wußte. Verstohlen irrten seine Blicke durch die behagliche Wohnstube hin zum Klavier, mit den beiden Notenständern rechts und links; auf dem schmäleren lagen des Vaters Noten, gegenüber die seinen – die heißgeliebten Klavierauszüge der Wagnerschen Werke. Wie gerne hätte er in diesem Augenblick 15 seine ebenso freudige als schmerzliche Bewegung in Tönen ausgesprochen, allein dies war nicht ratsam heute, denn seine Musik verdarb dem Vater die Laune, und Heinrich hatte eine Bitte auf dem Herzen und zwar eine so große, daß er fürchtete, niemals den Mut zu finden, sie gegen den Vater auszusprechen.

Als die Mutter mit der Platte Schinken hereinkam, begegnete sie dem Blick des Sohnes, und da wußte sie gleich: der will was!

Sofort bekam der Alte den Hof gemacht, die saftigsten Stücke wanderten auf seinen Teller, er allein bekam vom guten Wein, dem Sohn wurde ein Glas vom sauern hingestellt; das entsprach dem Prinzip des Vaters, und er wurde aufgeräumt, während ihn nichts mehr verdroß, als wenn es der Frau einfiel, den Sohn wie einen Erwachsenen zu behandeln.

»Nur die Kinder nicht verwöhnen,« fing er an, denn dies war sein Lieblingsthema, »keine traurigere Mitgift als Prätentionen; die Verwöhnung der Jugend ist der große Fehler der Neuzeit, und ich habe noch nicht gehört, daß etwas Gutes daraus entstanden wäre –« damit schenkte 16 er dem Sohn vom guten Wein ein, und Frau Streicher wußte: jetzt war der Moment gekommen, der Gatte hatte sich auf seinem Steckenpferdlein getummelt, da durfte man etwas wagen –

»Heinerle,« hub sie an, »du siehst mir so kurios drein heut abend, hast vielleicht was auf dem Herzen? Geh' schäm' dich, wenn man so gute Eltern hat, sollte man nicht lang Sparglamenten machen, gelt du, Alterle, so ein dummer Bub, als ob man ihm heut' einen Wunsch versagen könnt'?«

Der alte Streicher machte »Hm« – und der junge räusperte sich, nahm in die Rechte die Gabel und in die Linke das Messer und sah in seinen leeren Teller:

»Nämlich, ich meinte nur, lieber Vater – wenn du nichts dagegen hättest, ich möchte so sehr gerne, bevor ich mein Amt antrete und somit gefesselt bin –«

Die Mutter schlug schon einen Marsch auf der Tischkante und zwar so lebhaft, daß der Gatte ihr mit einem »Pscht« beide Hände festhielt.

»Nämlich,« wagte sich der Sohn etwas weiter, »ich möchte für's Leben gern einer Wagneraufführung in Karlsruhe beiwohnen –«

17 »Um des Himmels willen,« brauste der Herr Streicher auf, »bist du nicht schon verrannt genug, willst du völlig verrückt werden? Ich hätte dich wirklich für vernünftiger gehalten, Heinrich –«

»Das Herz hängt mir daran, Vater, und außerdem wäre die Gelegenheit jetzt gerade so günstig,« sagte der Sohn, »in dieser Woche finden die Nibelungen in Karlsruhe statt und ich bin frei bis nächsten Montag, wo ich in Konstanz eintreffen soll; ich könnte also sämtliche Opern –«

»Sämtliche auch noch,« fuhr Herr Streicher auf, »nicht eine, sag' ich dir, das sind ganz und gar unnötige Ausgaben, bei denen nicht das geringste herauskommt; und niemals gebe ich die Erlaubnis zu einem solchen Unsinn.«

»Streicher –« Die kleine Frau legte die Hand auf ihres Mannes Arm, beugte sich ein wenig vor und flüsterte ihm leise zu: »und Jenny Lind?«

Der Eindruck, den dieser Name hervorbrachte, war ein bedeutender; Herr Streicher wußte sich einfach nicht zu helfen; erst wurde er rot, dann, dem Blick seines Sohnes begegnend, begann er zu husten und pusten, als sei er am Ersticken, 18 schließlich sprang er vom Stuhle auf und fing an wie besessen durchs Zimmer zu rennen, er, der sonst die Bedächtigkeit und Langsamkeit in Person war. Frau Streicher, die sich innerlich über alle Maßen an dem Gebaren des Herrn Gemahls ergötzte, kam ihm doch zu Hilfe, indem sie allerlei plauderte und so des Sohnes Aufmerksamkeit von ihm ablenkte.

Die Aufregung des alten Herrn hatte sich in einem leisen, beinahe andächtigen Pfeifen Luft gemacht, wobei er den Zeigefinger wie im Takte bewegte, während seine alten Augen ein jugendlicher Glanz verklärte. Er öffnete das Klavier, schlug ein paar Accorde an und begann dann mit seiner altmodischen steifen Fingerhaltung die Arie: Ei, so komm doch – aus der Nachtwandlerin zu spielen. Heinrich schnitt ein Gesicht, und nur der Respekt vor dem Vater hielt ihn davon ab, sich die Ohren zuzuhalten. Als aber die Musik gar kein Ende nehmen wollte, denn wenn der Alte einmal am Klavier saß, so that er's nicht unter der halben Oper, da sprang Heinrich mit einem leisen: »Mutter, das halt' ich nicht aus,« von seinem Stuhle auf und machte sich davon.

19 »Das allein ist Musik,« erklärte Herr Streicher nach einer guten Stunde und drehte sich schweißgebadet auf seinem Klavierstuhl herum. Es war aber niemand mehr anwesend als die Gattin, die bereits ein Vorschläfchen machte, nachdem sie Kanapee und Stühle für die Nacht mit Überzügen versehen und auch das eigne Haupt in eine Nachtmütze gesteckt hatte. Der alte Herr wiederholte sehr ärgerlich: »Hast du gehört, das allein ist Musik.«

Sie fuhr auf: »Freilich, freilich, für mich ist alles Musik, was ein Gedudel macht.«

»Und der Heinrich ist natürlich wieder davongelaufen, das thut er immer, wenn sein Vater ans Klavier sitzt.«

»Und du machst es gerad' so, wenn er spielt, Alter, ihr habt darin einander gar nichts vorzuwerfen – jetzt aber hab' ich was im Sinn und zwar nichts anderes, als dir ein paar Thatsächlichkeiten vorzuhalten, damit du wieder einmal siehst, wie du anno 1846 gewesen bist, denn das scheinst du total vergessen zu haben.«

Sie hatte, während sie sprach, ein kleines blau angestrichenes Kästchen aus dem Schrank geholt und führte nun den laut brummenden Gatten, 20 der behauptete, es sei die höchste Zeit zum Schlafengehen, zum Tisch hin, wo sie ihn in den bereits überzogenen Lehnstuhl drückte. Sodann packte sie den Inhalt des Kästchens aus – eine verblichene Zeitung, etliche morsche Lorbeerblätter, ein völlig vergilbtes Spitzenhäubchen und ein dicker Brief, an dem noch die Reste roter Oblaten klebten.

Der alte Streicher warf einen halb ärgerlichen, halb neugierigen Blick auf diese Zeugen seines einstmaligen Fühlens, aber bevor er recht im reinen war, ob er gehen oder bleiben wolle, hatte ihm die Gattin schon die Brille von der Nase genommen und sie auf die eigne gesetzt, und gleich nach den ersten paar Zeilen vergaß der alte Herr zu protestieren und war die Aufmerksamkeit selbst. Der Brief lautete:

Karlsruhe, den 31. November 1846.

        Geliebte Braut!

In deinen Busen will ich sie niederlegen, alle die Erinnerungen dieser zum Teile gemeinsam verlebten, so unvergeßlich schönen Zeit, damit sie niemals verblasse, sondern in dem Schacht unsres Gedächtnisses sich in ewiger Frische erhalte:

Es war zu Johanni 1846, als ich an die 21 Bürgerschule der alten Festungsstadt Rastatt versetzt wurde.

Von mütterlicher Seite her mit nicht geringen musikalischen Anlagen begabt, verfolgte ich damals mit nicht zu beschreibendem Eifer den wahrhaft phänomenalen Triumphzug dieses ersten Sternes der göttlichen Gesangeskunst, der von ganz Europa gefeierten Jenny Lind.

Welches aber waren meine Gefühle, als eines Tages die Nachricht unsere Stadt durchlief: Jenny Lind wird in Karlsruhe gastieren! Mein Freund, sagte ich zu mir selbst, was du besitzest, ist wenig, allein stehe darum nicht an, alles für den Genuß hinzugeben, etwas Unvergleichliches in dich aufzunehmen, das dir Zeit deines Lebens Zinsen tragen wird, indem es dich erleuchten und kräftigen soll in dem kommenden Ungemach, das jeden Sterblichen an der Pforte des Alters erwartet. Ich schrieb also unverzagt an den Kassier des Großherzoglichen Hoftheaters, er möchte die Güte haben, mir ein Billet im Parterre zu besorgen für das erste Auftreten der Jenny Lind in der Nachtwandlerin am 30. November. Der Herr Oberlehrer war so gut, mich für einen halben Tag in 22 der Schule zu vertreten, meine Hausfrau flocht mir von den Blättern meiner Epheustöcke einen wunderschönen Kranz, mit welchem ich mich am Morgen des bewußten Tages in nicht zu beschreibender Aufregung auf den Weg machte.

Da mir die ganze Postfahrt von Rastatt nach Karlsruhe zu teuer gewesen wäre, legte ich die vier Stunden bis Ettlingen zu Fuß zurück: Es war jedoch etwas Schnee gefallen und viel Glatteis, so daß ich statt um ein Uhr, erst gegen drei in Ettlingen anlangte, wo mir gerade noch Zeit blieb, über Hals und Kopf in den Postwagen zu stürzen, unter welchen Verhältnissen ich natürlicherweise an ein Mittagessen nicht denken durfte. Der Postillon, ein junger Bursche, beantwortete meine Frage, ob unter der obwaltenden großen Glätte der Straßen nicht ein Umsturz des Wagens zu befürchten sei, mit der Versicherung: »'s geschieht nur manchmal, aber net immer.« Ich nahm also mein sehr schmal zugemessenes Plätzlein ein, rechts hatte ich die Wand, links zwei hohe Schachteln, hinter denen eine Modistin saß, die auf ihrer anderen Seite wiederum ein hohes Schachtelgebäude stehen hatte. Ich sah sie nicht, hörte sie dagegen 23 fortwährend sprechen, und da sich die beiden Mitpassagiere, ein Pferdehändler und ein Schweinehändler, auf das eifrigste unter einander unterhielten und gar nicht auf die Mamsell achteten, so mußte ich annehmen, daß ihre Reden an mich gerichtet waren. Für's Leben gern hätte ich mein Erstaunen ausgedrückt, wie es möglich sei, so nahe der Residenz von etwas anderem zu sprechen, als von der Jenny Lind, allein es war mir nicht möglich, der Beredsamkeit dieser Person auch nur für einen Augenblick Einhalt zu thun. Wir hatten eben das langgestreckte Rüppur im Rücken und eine trostlose Ebene nach allen Seiten that sich vor uns auf, als wir plötzlich mit einem vernehmlichen Krach in den neben der Landstraße liegenden Graben sausten. Unbeschreiblich war der Spektakel, der alsbald im Innern des Omnibusses vor sich ging. Die Männer fluchten und schimpften und schrieen nach dem Postillon, die Mamsell jammerte um ihre Hüte, und ich hatte nur zu thun, meinen Kranz vor der Vernichtung zu bewahren und die mich zu zerquetschen drohenden Schachteln von mir fern zu halten. Es gelang mir schließlich, die Thüre zu erreichen und diese zu öffnen.

24 »Warum,« rief ich den Postillon an, »läßt Er uns denn nicht aus dem Kasten?« Er antwortete: »Z'erscht komme d' Gäul, d' Deichsel isch wieder kaput, da führ' ich sie allemal gleich nei, nach Rüppur.« Nach diesen Worten schwang er sich auf eines der Pferde und trabte mit ihnen davon, während ich den beiden wütenden Männern auf die Erde half; sie liefen fort, ohne von der armen Mamsell Notiz zu nehmen, die fürchterlich jammerte und sich vor dem Sprung aus dem Omnibus scheute. Ich nahm ihr also zuvörderst ihre Schachteln ab und redete ihr dann zu, in den weichen Schnee zu springen, was sie endlich nach langem Besinnen that, und nachdem ich ihr, auf dem Rade stehend, die Hand gereicht hatte, wobei wir miteinander platt in den Graben fielen. Sie beschwor mich unter einem fürchterlichen Thränenstrom, sie doch um Gottes willen nicht mit ihren Hüten mutterseelenallein in dieser Einsamkeit zu lassen, welche Unmenschlichkeit ich natürlich nicht im Sinne hatte, sondern meinen Epheukranz um den Hals hing und zwei der größten Schachteln aufpackte, während die Mamsell die anderen beiden nahm. So machten wir uns auf den Weg; über das Feld 25 pfiff ein schneidiger Wind und das Frauenzimmer schwatzte wieder ganz fidel, während ich in der Todesangst lebte, am Ende zur Kassenöffnung zu spät zu kommen. Wie aber beschreibe ich meinen Schreck, als plötzlich ein Windstoß den Deckel meiner obersten Schachtel aufriß und einen großblumigen Hut daraus entführte, der sofort seinen Weg querfeldein nahm. Die Person sank heulend am Weg nieder, schrie nach ihrem teueren Hut und behauptete, selbigen mit ihrem ganzen 26 Vermögen nicht bezahlen zu können. Was blieb mir anders übrig, als dem Hut nachzusetzen über Stock und Stein, wobei ich der Glätte wegen alle paar Schritte auf die Nase fiel, mir Ellenbogen und Kniee zerschund und meinen besten Rock beschmutzte. Aber wie erstaunte ich, als ich endlich, mit dem eroberten Hute zurückkehrend, die Person zwischen ihren Schachteln sitzend, in einem solchen Gelächter begriffen fand, daß sie ein paar Minuten lang außer Stande war, sich von ihrem Platz zu erheben.

Es waren noch wenige Minuten bis fünf, als wir am Ettlinger Thor ankamen; um fünf Uhr aber war die Kassenöffnung. Gott verzeihe mir die erste und hoffentlich auch letzte Rücksichtslosigkeit meines Lebens – ich setzte der schreienden Mamsell die Schachteln vor die Füße und flog wie ein Wahnsinniger über den Marktplatz und Schloßplatz und kam gerade noch recht, um mir mit Einbüßung meines Hutes, aber mit hocherhobenem Kranze, einen Platz im Parterre zu erobern. Und nun, meine vielgeliebte Braut, kommt der Moment: ich hatte einen Eckplatz und neben mir, im dichtesten Gedränge, standest du, ganz an mich hingedrückt, und obgleich ich mich vor 27 Müdigkeit fast nicht mehr regen konnte, der hilflose Blick deiner großen braunen Augen ging mir so tief zu Herzen, daß ich mich sofort erhob und dir meinen Platz anbot. Allein schon während der wundervollen Ouverture der Nachtwandlerin übermannte mich die Erschöpfung, daß mich erst ein rasender Applaus zu mir selber brachte: wie durch einen Schleier sah ich eine hold lächelnde, sich oftmals verneigende Gestalt, suchte nach meinem Kranz und hatte mit einemmal die Empfindung, ihn auf meinem eigenen Haupte zu tragen. Dies kam mir so schmählich vor, daß ich mir die erdenklichste Mühe gab, mich klein zu machen, was mir jedoch nicht um die Welt gelingen wollte. Plötzlich fühlte ich einen stechenden Schmerz im Ohrläppchen, und nun bemerkte ich zu meinem namenlosen Entsetzen, daß ich mit dem Gesicht auf deiner Schulter lag, während du mir mit puterrotem Gesichtchen zuflüstertest: »Schreien Sie nicht, ich habe Sie ins Ohr gestochen, damit sie endlich aufwachen, Sie schrecklicher Mensch!« In diesem Augenblick fiel der Vorhang und ich Unglücksmensch hatte den ganzen ersten Akt verschlafen. Aber glücklicherweise schien es nicht 28 bemerkt worden zu sein, denn alles um mich her schrie und applaudierte und erging sich in Ausdrücken der Bewunderung und des Entzückens. Ich aber richtete meine demütigste Bitte um Verzeihung an das junge Mädchen, indem ich ihr auseinander setzte, unter welch erschwerenden Umständen ich Karlsruhe erreicht hatte, und daß ich seit dem Morgenkaffee nichts mehr zu mir genommen. Und nachdem ich dir das Postunglück beschrieben, sowie das Abenteuer mit der Modistin, lachtest du hell wie ein Glöcklein auf und deine Worte waren: »Jesses, was müssen Sie für ein unpraktischer Mensch sein!« Zugleich aber standest du dem körperlich Ermatteten mit wohlgeschmiertem Butterbrötlein aus deinem Ridicüle bei, und diesem mir so edel geopferten Labsal hatte ich es zu danken, daß ich, Gott Lob und Dank, dem ferneren Verlauf der Oper mit ganzer Andacht zu folgen vermochte. O du unvergleichliche, gottbegnadete Gesangeskünstlerin, du Rührerin der Herzen, wie soll ich mich ausdrücken, um deinem vollendeten Genius gerecht zu werden! Herrin aller undenkbaren technischen Mittel und Fertigkeiten, hat ihr die Natur eine Grazie und einen wahrhaft 29 himmlischen Ausdruck des Auges verliehen; dieses zauberische Mädchen entzündet die Herzen und wären sie von Stein; ihr dargestellter Schmerz erweckt tiefes Mitgefühl, ihre Freude und Seligkeit findet das Echo in unserem Busen; kurz, nur ein gänzlich Herz- und Gemütloser kann hier kritisieren und zerlegen, so siegreich ist der Eindruck, den sie auf Schauer und Hörer hervorbringt. Ich kann es leider mit dem besten Willen nicht notieren, wie oft die große Künstlerin gerufen worden ist, auch war es ein unbeschreiblicher Anblick, in welcher Masse die Kränze von den Galerien und aus den Logen geflogen kamen; sogar mit einer mächtigen Rosenkrone ist sie beschenkt worden – wirklichen echten Rosen zu dieser Jahreszeit –, was müssen die gekostet haben! Was meinen Kranz anbelangt, den ich aus so vielen Wirrsalen glücklich gerettet hatte, er war dahin, mir entschlüpft und unter die Füße des Publikums gekommen; als ich ihn suchen wollte, sagtest du: »Ich bitt' Sie, lassen Sie ihn liegen, der ist doch nimmer präsentabel.« Zum Schluß der herrlichen Oper fiel noch ein Kranz aus einer Loge hinter uns, und an diesem Kranze hing ein weißes 30 Spitzenhäubchen, das wahrscheinlich einer Dame im Fluge vom Kopf gerissen worden war, und welcher Zufall! es fiel dir auf das braune, schön gescheitelte Haar. Dies erschien mir wie ein Omen und erfüllte meine Seele mit einer solchen Kühnheit, daß ich wagte, was ich sonst niemals gewagt haben würde: nämlich ich ergriff das Häubchen, wies es dir und sprach die Worte: »Gott will Sie unter die Haube haben, liebes Jüngferle,« worauf du antwortetest: »O Sie Unartiger!« Kurz, ich war von einer doppelten Trunkenheit erfaßt, und es muß dahin gestellt bleiben, war es der Enthusiasmus, den der Gesang der göttergleichen Jenny Lind in mir entfacht, oder war es die Liebe zu dir, welche in meinem Herzen die Oberhand gewann – ich fürchte, dies wird ein ewiges Rätsel bleiben müssen. Genug, ich folgte dir zum Theater hinaus in der Absicht, dir beim Suchen deines Vaters behilflich zu sein, der dir versprochen, dich nach dem Theater abzuholen. Wir suchten aber umsonst, die Leute hatten sich längst verlaufen, und wir konnten deinen Vater nicht finden. Statt aber unter diesen Verhältnissen in Verzweiflung zu geraten, bliebst du ganz vernünftig und sagtest 31 mit einer Ruhe, die die in der Nähe der Residenz Aufgewachsene verriet: »So sind die Männer, sie brauchen nur zu einer Weinversteigerung zu gehen, so giebt's für sie keine Zeit und kein Versprechen mehr. Es ist freilich ein bißle viel verlangt, aber ich wär' Ihnen arg dankbar, wenn Sie mich bis ans Durlacherthor begleiten thäten, dort hat der Vater einen Hauderer zum Heimfahren hinbestellt – Blamasch nennen die Karlsruher so ein Wägele, sitzen aber doch 'nein – kommt der Vater nicht nach einer Weil', so fahr' ich nach Durlach und schick' den Hauderer wieder zurück.« Wir gingen also mit einander über den hell beleuchteten Schloßplatz, und du teiltest mir mit, daß die Gaslaternen an diesem Abend zum erstenmal brannten und zwar nicht allein am Theater, sondern der ganze obere Teil der Stadt, vom Mühlburgerthor bis zum Marktplatz, in dieser glänzenden Beleuchtung prange. Dieser Umstand aber machte sich doppelt bemerkbar, als die höchste Leuchtabilität, der Mond, nicht anwesend war. Die Karlsruher schienen aber auch alle aus dem Häusle zu sein, denn obwohl es bereits neun Uhr vorüber war, promenierte noch alles auf dem 32 Marktplatz und in der langen Straße herum. Jedenfalls kann unsere aus dem Walde gehauene Residenz mit ihren 25,000 Einwohnern nun an Eleganz und Schönheit mit den größten Städten Deutschlands konkurieren. – Je näher wir aber dem Durlacherthor kamen, wo noch die alten Öllampen mit ihrem matten Totenlicht glimmten, desto schwerer wurde mir's ums Herz, denn noch hatte ich nicht jenes Wort gesprochen, das zum ewigen Bunde führt oder für immerdar trennt. Am Durlacherthor stand wirklich der Hauderer, aber das Männlein, das auf unser Rufen aus dem Wagen kroch, hatte sich unter Anwendung von Spirituosen so 33 stark eingeheizt, daß ich erklärte, das Jüngferlein nun und nimmer dem Schutze dieses unzurechnungsfähigen Kutschers anzuvertrauen. Mit Mühe und Not brachte ich ihn, nachdem wir noch eine Zeitlang auf den Vater gewartet, auf den Bock hinauf, wo er, wie ein Schilfrohr im Winde, hin und her schwankte. Aus dem dunklen Gewölk des Himmels war der Mond gebrochen und geheimnisvoll leuchtete sein Licht durch die kahlen Pappeln am Wege. Und wir saßen Seite an Seite, es war mir endlich vergönnt, dir zu sagen, daß ich das Amt eines Schulmeisters bekleidete, daß auch mein Vater Schulmeister war, und ich zu Gott hoffte, einstens meinen Sprößling denselben Weg wandeln zu sehen; und nachdem ich mich in einer längeren Rede über das Glück der Ehe ausgesprochen und mich dir eben als sehnsüchtigen Aspiranten dieses Sakramentes nennen wollte, da jagtest du mir keinen geringen Schrecken ein, indem du plötzlich unter merklichem Gähnen die Frage thatest, ob ich immer so ausführlich sei. O Himmel und ich verneinte! Die Angst, du könntest mich im Falle der Bejahung am Ende nicht lieben, machte mich feig genug, zu einer Lüge 34 meine Zuflucht zu nehmen. Allein, als ich eben im Innern zu mir selber sagte: Kann ein Glück bestehen, das auf einer Täuschung aufgebaut ist? brachest du in völliger Ahnungslosigkeit in die Worte aus: »Herrgott, wo ist unser Kutscher hingekommen? Was ist mit unserem Kutscher geschehen?« Und richtig, es war nur allzu wahr, der Mann war nicht mehr da! Das Rößlein aber ging seinen lahmen Trab weiter, und als ich »Öööh« rief, stand es augenblicklich still. Ich sagte dir, daß, obgleich mein Herz des Unausgesprochenen voll sei, ich auf der Stelle umkehren müsse, um dem verunglückten Manne beizustehen. Als ich jedoch im Begriff war, auszusteigen, riefest du aus: »Ja, was wollen Sie denn wieder, Sie unpraktischer Mensch, wenn dem Mann was passiert ist, können Sie ihn doch nicht auf Ihren Armen nach Durlach tragen – wir kehren natürlich mit einander um –« Engel, dachte ich, Erzengel! – getraute mir aber selbstverständlicherweise nicht, es laut zu sagen, sondern griff in die Zügel des Rosses. Indes des Fahrens unkundig, scheine ich das Leitseil nicht richtig gehandhabt zu haben, denn um ein Haar wären wir im Landgraben neben der 35 Allee gelegen. »Jesses,« riefest du aus, »Ihnen merkt man's auch an, daß Sie immer in die Bücher gucken, statt in's gewöhnliche Leben!« Damit nahmst du die Zügel und kutschiertest höchst flott, indem du im Wägele standest, den Weg zurück. Jetzt, dachte ich, jetzt nur schnell die Zeit benutzt – und fing mit einem Seufzer an, dem ich hinzufügte: »O Sie mein wertes und liebes Jüngferle, wenn Sie wüßten –« da deutetest du nach rechts: »Liegt dort nicht was Schwarzes?« Ich schnellte auf: »Es ist der Schatten der Pappel – ich bitte Sie um alles in der Welt, lassen Sie mich endlich gestehen –« »Aber dort liegt was Schwarzes!« riefest du und deutetest nach der entgegengesetzten Seite, – »Aber das ist ja der Schatten einer anderen Pappel,« rief ich aus. – »Himmel,« sagtest du, »aber dort torkelt etwas des Wegs daher, und das ist gewiß keine Pappel; wie gescheit, wenn's der Vater wär', dann könnten wir ihn auch gleich mitnehmen. Ja, richtig,« setztest du hinzu, »er ist's und gut geladen – he he, Vater, steigt ein, Vater, ich bin's –« Der Mann saß kaum im Wägele, wobei ich ihm behilflich war, als er mit beiden Fäusten über mich herfiel: »Er 36 Lump, er ist natürlich wieder betrunken und laßt mich da die halb' Allee rauf laufen.« »Haltet, Vater,« legtest du dich ins Mittel, »das ist ein völlig unschuldiger Herr und nicht der Kutscher, den suchen wir auf der Landstraß', habt Ihr ihn nicht vielleicht am Weg liegen sehen?« »Freilich,« sagte mein von mir bereits im stillen verehrter Schwiegervater, »am Weg ist freilich was gelegen, und ich bin auch noch drüber gestolpert, aber wer denkt denn, daß der Mensch so einen Rausch haben kann, daß er nicht einmal weiß, wo er liegt – hä hä hä!« lachte der Mann, dehnte sich so behaglich aus, daß er mich fast zum Wägele hinausdrückte, und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Gottlob, daß ich in mei'm Bett lieg'.«

Wir fanden auch noch den Kutscher, den ich sorgsam neben den schnarchenden Mann legte, worauf ich mich, mit dem Hut in der Hand, an dich, meine Erkorene, wandte, die du übermütig lachend auf dem Bock saßest. »Leben Sie wohl,« sagte ich, »und erlauben Sie mir, Ihnen morgen in der Früh dasjenige zu sagen, wozu mir heute die Gelegenheit nicht günstig gewesen ist?« »Ja, wissen Sie denn, wer ich bin und wo ich wohne?« 37 fragtest du, »Theresle heiß' ich, und mein Vater ist der Traubenwirt in Durlach; Sie sollten gescheiter mit uns umkehren und dort übernachten.« »Nein,« sagte ich, »denn erstens wäre es zu viel für das arme abgehetzte Pferd, und zweitens habe ich meinem Vater versprochen, im Mohren in Karlsruhe zu übernachten, weil er dort einmal vor vielen Jahren gewohnt hat.« Ich wollte gehen, da riefest du mir nach: »Ich weiß ja gar nicht, wie Sie heißen!« Schnell wandte ich mich um: »Johann Xaverius Streicher, Lehrer zu Rastatt, gebürtig aus Krotzingen, Amt Freiburg.« Nun fuhr sie weiter und das letzte, was ich hörte, war Lachen mit dem silberhellen Klang. »O Gott,« sagte ich zu mir selber, sollte ich wirklich das unbegreifliche Glück erleben und einen solchen Engel heimführen dürfen.« Indem ich so die Allee entlang rannte, bemerkte ich plötzlich, daß ich den Hut in der Hand hielt und wollte ihn aufsetzen. Zu meiner Verwunderung jedoch stieß ich auf einen Gegenstand auf meinem Haupte, griff danach, und wer beschreibt meine Überraschung, ich hatte bereits einen Hut auf dem Kopfe – das heißt eine Kappe, und das, was ich in der Hand hielt, war 38 ebenfalls eine Kappe, wohl die Kopfbedeckungen der beiden Männer im Wägele, die ich mir in der Zerstreutheit und Aufregung, Gott weiß wie, angeeignet hatte. Hattest du deshalb bei unserem Abschied so herzlich gelacht? Ach wenn du mich doch auf meinen Irrtum aufmerksam gemacht hättest, wie viel besser wäre es für mich gewesen! Nämlich als ich nach Verlust meines Hutes bei der Kassenöffnung barhäuptig neben dir herging, machtest du die Bemerkung, es sehe aus, als sei ich nichts Rechts, und es war dir sehr daran gelegen, mit mir so bald als möglich aus der hellen Gasbeleuchtung wegzukommen. Nun, da ich zwei Kopfbedeckungen hatte, kam ich mir mit denselben erst recht wie nichts Rechtes vor, und ich erlaubte mir nicht, mich des fremden Eigentums zu bedienen, sondern zog es vor, beide Kappen in der Hand zu tragen. Da ich den Plan der Residenz genau inne hatte, wurde es mir nicht schwer, den westlichen Teil der Stadt aufzufinden, wo der »Mohren« sich Ecke der Stephanien- und Linkenheimerstraße befinden sollte. Es war jetzt elf Uhr des Nachts und eine Todesstille in den Gassen, als ich nicht weit von mir, auf dem 39 Akademieplatz, einen Herrn in seiner ganzen Länge über das Trottoir fliegen sah, wobei ihm der Cylinder davonrollte. Ich griff sofort nach demselben, half dem Herrn, der sehr wohl gekleidet war, in die Höhe und offerierte ihm meinen Arm. Er nahm ihn, indem er sich beklagte, er habe sich sehr weh gethan und könne Gott danken, daß wenigstens noch ein Mensch unterwegs gewesen sei, indem sonst gewöhnlich, wenn er von seiner Gesellschaft nach Hause gehe, keine Seele mehr zu sehen wäre. Hierauf fing er an wieder zu schimpfen, indem er mir erzählte, kein Mensch sei mehr in diesem Karlsruhe seines Lebens sicher, indem man sich alle Augenblicke an etwas Neues gewöhnen müsse; so habe man bisher bequeme, mit Steinen ausgehauene Rinnen gehabt und nun sei man plötzlich auf die unglückliche Verbesserung verfallen, die Trottoirs zu erhöhen, und da man an die abgeflachten gewohnt sei, so riskiere man, bei jeder Gelegenheit Hals und Bein zu brechen.

»Gewiß habe ich mich stark beschädigt,« schloß der Herr, »denn ich kann kaum gehen und bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich bis zu meiner Wohnung, Stephanienstraße 9, begleiten möchten.«

40 Bei der nächsten Laterne sah mich der Herr an und meinte: »Sie haben ja zwei Kappen?« »Allerdings zu viel für einen, der den Kopf verloren,« gab ich zur Antwort. »Etwas zu viel getrunken?« fragte er. »Nicht im geringsten,« sagte ich, »sondern ich bin auf so unerklärliche Art zu diesen zwei Exemplaren gekommen, von denen keines mir gehört, daß es am Ende ein eigentümliches Licht auf mich werfen könnte, wollte ich Ihnen erzählen, wie ich in aller Unschuld zum Dieb geworden bin.« »Hm,« sagte der Herr und nahm schnell seinen Arm aus dem meinen, »so so, nun, ich will Ihnen etwas sagen, ich werde mich nicht lange wehren, – nehmen Sie, nehmen Sie –« damit drückte er mir einen Geldbeutel in die Hand, der jedoch zur Erde fiel, und während ich mich darnach bückte, lief der Herr mit einer Geschwindigkeit davon, daß er mir schon nach wenig Minuten aus den Augen verschwunden war. Mein Schreien und Rufen: »Ich will Ihr Geld nicht, was glauben Sie von mir?« wurde nicht gehört, und so blieb mir nichts anderes übrig, als den sonderbaren Herrn laufen zu lassen und mich in meinen Gasthof zu verfügen, wo ich völlig 41 erschöpft auf mein Lager sank, von den Strapazen des Tages ein gelieferter Mann.

Zum erstenmal in meinem Leben habe ich, sage! bis um acht Uhr geschlafen und wollte gerade voll Seligkeit dein gedenken, als mir die zwei auf dem Tisch liegenden Kopfbedeckungen mit samt dem Geldbeutel ins Auge fielen. Ich durfte also nicht gleich zu dir eilen, sondern meine erste Pflicht war, jenem sonderbaren Herrn sein Geld zurückzubringen und ihm darzulegen, daß sein Verdacht ein falscher gewesen, und er es mit keinem Dieb zu thun gehabt.

Ich bog also um die Ecke und läutete an dem wenige Schritte vom »Mohren« entfernten Haus. Eine Magd öffnete und gab mir den Bescheid, der Herr Geheimrat liege noch im Bett und pflege nicht vor zehn Uhr aufzustehen. So gab ich das Geld ab mit der Bemerkung, dasselbe sei in der Nacht an den Verkehrten gekommen, und ich lasse dem Herrn Geheimrat eine gute Besserung wünschen. Als ich zum Hause hinaus ging und die Thüre hinter mir schloß, blieb ein Zipfel meines Mantels dazwischen eingeklemmt und zwar so unglücklich, daß es mir unmöglich war, mit der Hand den Schellenzug zu erreichen.

42 So stand ich höchst unbequem festgenagelt und wartete auf einen Vorübergehenden, damit er mich erlöse, denn außer der Sehnsucht nach dir, mein geliebtes Theresle, plagten mich die beiden unglückseligen Kappen, deren Zurückerstattung an ihre Eigentümer mir vor allem am Herzen lag. So war meine Absicht mir – erstens einen neuen Hut zu kaufen, zweitens bei S. Modl, Vorderer Zirkel 20, anzukehren, wo ich einen gepriesenen Kleiderstoff, namens Jenny Lind für dich erstehen wollte, um drittens mich so schnell wie möglich nach Durlach zu verfügen. Allein, so sehr ich mich auch bemühte, die Straße auf und ab zu schauen, es kam kein Mensch. Ach und meine Zeit war so kurz bemessen! Um vier Uhr schon sollte ich in Rastatt zur Singstunde eintreffen, um zwölf ging die Post nach Ettlingen, dort wollte ein mir befreundeter Bauersmann warten und mich auf seinem Leiterwagen mit nach Rastatt nehmen. Und nun stand ich da, und der Stundenzeiger der Zeit rann unaufhaltsam seinen Weg. Ach, wie entsetzlich ist doch für uns Kleinstädter so eine große Stadt, welche Hilflosigkeit bemächtigt sich einem, wenn man in einem solchen Labyrinth von Straßen keine 43 einzige bekannte Seele weiß. Sonst pflegen doch wenigstens Kinder auf der Gasse zu spielen, in dieser Stephanienstraße war nicht einmal ein Hund sichtbar. Zehn Uhr hatte es längst geschlagen, und der qualvolle Gedanke, daß du mich für einen Wortbrüchigen und dein Vater mich für einen Kappendieb halten möchten, brachte mich in einen Zustand so gewaltiger Desperation, daß ich, völlig meiner Bürgerpflicht vergessend, so lange mit dem Schirm gegen die verdammte Hausthür losschlug, bis er mit einem Krach entzwei brach. Vor mir aber stand ein finster blickender Polizeidiener, der wohl hinter meinem Rücken hergeschlichen sein mochte, und fuhr mich barsch an:

»Wie heißen Sie? Wer sind Sie?« Ich nannte meinen Namen, den er aufschrieb –

»Sie werden sich wegen Ruhestörung zu verantworten haben, kommen Sie mit mir,« sagte er. Als ich jedoch keine Anstalt machte, ihm zu folgen, wurde er noch gröber und schrie mich wütend an: »Sie sollen diesen Platz verlassen, Sie!«

»Ach, lieber Herr Polizeidiener,« gab ich ihm freundlich zur Antwort, »das will ich ja schon seit heute früh um halb neun Uhr, aber ich bin 44 eingeklemmt und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich aus meiner entsetzlichen Lage befreien wollten.«

Gott sei dank, dies geschah, dann aber fragte mich der unglückselige Mensch: »Sie haben wohl gebettelt da drin?«

»O nein,« rief ich aus, »wo denken Sie hin?« »Ja, was ist denn dann mit der Kapp', die Sie in der Hand tragen?« »Die gehört allerdings nicht mir,« gestand ich, »und ebensowenig die, die ich auf dem Kopfe trage, Sie werden deshalb 45 begreifen, welche Qualen ich ausstand, stundenlang an dieses Haus gefesselt zu sein, während ich keinen anderen Wunsch habe, als diese Kappen an ihre Eigentümer zurückzuerstatten. Vielleicht, wenn ich mich recht beeile, könnte es gerade noch langen –«

»Nix da,« sagte der Polizeidiener und hielt mich am Arm fest, »Sie sind mir sehr verdächtig mit Ihrer Kappenaffäre, kommen Sie mit mir auf die Polizei.«

»Aber um Gottes willen,« stotterte ich, »ich bin ja der Lehrer Johann Xaverius Streicher aus Rastatt.«

»Das kann jeder sagen,« fuhr mich der wütende Mensch an, »nur mit und nicht ausgekniffen.«

So ging ich denn, indem ich bei jedem Schritt in die Erde zu sinken glaubte, neben dem unbarmherzigen Menschen her, dem Akademieplatz zu und besann mich umsonst auf einen Menschen in der großen Stadt, dessen Gutstehen für mich, mich hätte aus der schrecklichen Lage befreien können, da – o wer beschreibt mein Glück, meine Freude, meine grenzenlose Seligkeit! Rot vor Scham, hob ich beim Herannahen von Menschen den gesenkten 46 Blick ein wenig, und wer war's, der daher kam, an der Seite eines dicken, heftig mit den Armen gestikulierenden Mannes? – Du, mein Theresle, mein vielgeliebtes Bräutlein, du kamst als rettender Engel laut lachend auf mich zu: »Ich hab' mir's gleich denkt« (im stillen nahm ich mir vor, dir als glücklicher Ehemann in unseren Musestunden Sprachunterricht zu erteilen), also du riefest: »Ich hab' mir's gleich denkt, Ihnen passiert was, und hab' dem Vater keine Ruh' gelassen, er hat mit her müssen.« Und ohne die geringste Verblüffung wandtest du dich an meinen Begleiter: »Was wollen Sie mit ihm, Herr Polizeidiener?« Der sagte: »Es handelt sich hier um eine Geschichte mit Kappen –«

Aber du lachtest laut auf und ließest ihn nicht ausreden, sondern nahmst deinem Vater den funkelnagelneuen Hut vom Haupte und setztest ihn mir auf, während du deinem Vater die tuchene Mütze aufstülptest. »So, sehn Se, Herr Polizeidiener, so g'hört sich's, das gestern Abend sind nur so ein paar Verwechslungen gewesen, wie's vorkommt bei Männern, die den Kopf verloren. Lebe Sie recht wohl,« sagtest du und nahmst 47 meinen Arm, während dein Vater hinter uns herkam und immerfort lachte und rief: »Sie hat den Narre an Ihm g'fresse, sie hat den Narre an Ihm g'fresse!« Du aber, übermütiger Schalk, gestandest mir, du habest es wohl bemerkt, wie ich in der Zerstreutheit des Vaters Kappe aufgesetzt und beim Abschied auch noch die des Kutschers ergriffen habe, womit ich dir im Mondschein einen so schönen Diener gemacht, daß du vor Lachen nicht habest schlafen können. Ach wie gern hätte ich noch des längeren deiner holden Stimme gelauscht und deine beglückende Nähe empfunden, aber wir konnten nur noch bei S. Modl den Jenny Lind-Stoff einkaufen, dann war's Zeit für mich, zum Bären in der Karlfriedrichstraße zu eilen, wo der Omnibus schon zum Abfahren bereit stand. Du aber triebst deinen Vater in den Gasthof hinein, und als wir eben, du draußen auf dem Tritt, ich im Innern des Omnibusses, den ersten Kuß unseres Lebens wechselten, regnete es plötzlich einen Haufen Brötchen und Würste über mich her, eine Flasche Wein lag mir im Arm, und du riefest dem höchst verdutzt Dreinschauenden nach: »Ich hab' mir's denkt, Sie werden wieder nichts gegessen haben.«

48 Zum Schlusse setze ich hier das im Postwagen entstandene Gedicht an Jenny Lind hin, das im Karlsruher Beobachter einen ehrenvollen Platz einzunehmen gewürdigt worden ist:

                Jenny Lind.

Die goldne Zeit war längst geschieden
Wo noch ein segenvolles Band
Um Himmel sich und Erde wand,
Wo noch die Gunst der Uraniden
Den Sterblichen war zugewandt;
Ja, fast zur Sage war's geworden,
Daß über jenen Wolkenpforten
Die großen Götter noch, die alten,
In ihrem ew'gen Glanze walten.

Verödet standen die Altäre,
Verwittert war der Tempel Pracht,
Und kein Gebet hat kund gemacht,
Daß man die Götter noch verehre
Und preise ihre Huld und Macht:
Erloschen war der heil'ge Funken,
Und alles Göttliche versunken,
Und alles Himmlische entweiht
In niedriger Alltäglichkeit.

Da schuf der mächtige Kronide,
Dem Menschen wieder mild gesinnt, 49
Ein wunderbares Himmelskind,
Und schmückte mit der Gottheit Blüte
Die Himmelstochter – Jenny Lind;
Und alle Götter und Göttinnen
Wetteiferten mit reichen Händen,
Der Gaben schönste ihr zu spenden.

Und wieder ist der schöne Glaube
Ans Ew'ge, Schöne angefacht:
Schau', neu ersteht der Tempel Pracht,
Und alle Welt liegt in dem Staube
Und beugt sich vor der Götter Macht,
Und Millionen Gläub'ge wallen
Zu den geweihten Tempelhallen
Und hängen dort mit Herz und Sinn
Am Mund der Hohenpriesterin.

»Was meinst, Streicher,« sagte die alte Frau und faltete das Schriftstück zusammen, »hast du dich verändert, oder hast du dich nicht verändert?«

Er saß in Gedanken versunken da und sah auf seine runzligen Hände herab, die er, während die Frau das Gedicht las, gefaltet hatte.

»Wenn ich so bedenke,« hub er an und reckte langsam den Zeigefinger, »was ist ein Menschenleben, wie viele Betrachtungen –«

»Ich bitt' dich, Alter,« unterbrach sie ihn, 50 »'s ist zehne vorbei, und sonst liegst du schon um neune im Bett.«

»Hm, ja,« meinte er und erhob sich, »allein, meine Liebe, was ich noch sagen wollte –«

»Ich weiß, ich weiß, daß er nichts davon erfahren darf –«

»Beileib' nicht, unter keiner Bedingung –«

Unter der Thür drehte er sich noch einmal um: »Du bist doch bis auf die heutige Stunde die leichtsinnige Unterländerin geblieben, Alte.«

»Ich wollt', ich könnt' das Gleiche von dir behaupten, denn dann thätst du's begreifen, daß die Jugend was anderes braucht, als das Alter, und hättest ein Einsehen, daß der Heinerle ebensogut wie du, in seinem Alter einen Ausbund von Vernünftigkeit abgeben kann.«

Der Herr Streicher kam noch einmal aus seiner Schlafstube heraus: »Mag er gehen, ich halt' ihn nicht, aber das sage ich dir, nicht in sämtliche Aufführungen, sondern nur in eine, und zwar in die letzte, denn ganz verrückt braucht er mir nicht zu werden.« –

Die kleine Frau lachte verstohlen auf, nahm die Lampe und verfügte sich damit hinüber zum 51 Sohn, der schon im Bett lag und beim Eintritt der Mutter halb aus dem Schlafe fuhr. Sie stellte die Lampe auf den Tisch, zupfte die Kissen zurecht und sorgte sich um das Behagen des Dreißigjährigen, als läge er noch als kleines Kind im Bett.

»Nämlich,« flüsterte sie ihm ins Ohr, »nämlich, Bubele, ich kann nicht schlafen, bevor ich dir's gesagt – sei nur ruhig, du darfst – du darfst nach Karlsruh' –«

Da wurde er völlig wach! »Wahrhaftig, ja, Mutter, wie hast du denn das fertig gebracht?«

»Sei zufrieden mit dem, was du weißt – und noch eins – thu' das dem Vater nimmer an, daß du davonläufst, wenn er seine Öperle spielt, am End' kommt auch einmal eine Zeit und dein Sohn will nichts mehr von deiner Musik wissen –«

»Unmöglich, Mutter,« fuhr Heinrich auf, »dagegen sprechen tausend Gründe, die ich dir –«

»Herrgott,« lachte Frau Streicher auf, »du weißt, für Gründe hab' ich nie Zeit – schlaf' wohl, Bubele!«

Zwei Tage später verließ der junge Lehrer 52 Streicher das kleine Landstädtchen Thiengen: der Vater sah ihm nach, um sich zu überzeugen, ob er nichts »Grünes« mitnahm, und Frau Streicher, die den Gatten durchschaute, meinte lachend:

»Er ist noch vernünftiger als du!«

Schon am folgenden Abend wandelte das Paar miteinander zur Bahn, still und in sich gekehrt, denn es sollte ihnen nur noch ein Tag des Zusammenseins mit dem Einzigen vergönnt sein. Wer aber nicht kam, war der Heinrich Streicher.

»Siehst du's, siehst du's nun, daß er deine leichtsinnige Natur hat,« polterte der Vater, »morgen ist Sonntag, übermorgen soll er in Konstanz eintreffen, da giebt's doch allerlei vorzubereiten, zu überlegen, ernsthaft zu beratschlagen, aber nein, das ist ihm alles eins, er macht's wie seine Frau Mutter, die das Zeiteinhalten auch immer auf die leichte Achsel genommen hat. Und der soll mein Ebenbild sein, der ich in meinem ganzen Leben nie habe auf mich warten lassen, denn welche Folterqualen ich damals in der Stephanienstraße ausgestanden, als ich meinte, meiner Pflicht fehlen zu müssen, von solchen Zuständen hast du 53 gar keine Ahnung, und von der Geduld, die ich damals an den Tag legte, auch nicht.«

»Nein,« sagte Frau Streicher, »die hätt' ich ganz gewiß nicht angewendet, sondern ich hätte den Mantel ausgezogen und wär' auf diese Weise ganz bequem zum Schellenzug gelangt.«

Der alte Streicher blieb in höchster Verblüffung mitten auf der Straße stehen: »Alte,« rief er aus, »alleweil hast du recht! Es ist sogar ein ganz ähnlicher Fall wie mit dem Ei des Kolumbus, falls du dich dieser Geschichte erinnern solltest?«

»Nein,« sagte sie, »erzähl' sie mir doch,« denn sie war ihm für die Beschämung, die er erfahren, die kleine Genugthuung schuldig.

Höchst ärgerlich und üblen Humors saßen sie am andern Morgen beim Frühstück; wie hatten sie sich geängstigt vor diesem Tag, vor dem letzten Zusammensein mit dem Sohn und dem endlichen Abschied! Nun brachte sie der Ärger ganz prächtig über das Schmerzliche dieser Stimmung weg, und sie schalten miteinander um die Wette auf den Sohn, der den letzten Tag im elterlichen Hause zu versäumen imstande war.

54 Der Eintritt des Briefboten machte der Unzufriedenheit des alten Paares ein Ende; Frau Streicher schrie nach der Brille; der Alte wollte die seine holen, es zeigte sich, daß auch diese nicht mehr an ihrem Platze war, und während er herum lief und suchte und jammerte, hatte die kleine Frau schon den Brief erbrochen:

»Schnell, schnell, Alter, siehst du nicht, daß ich mitsamt der Brille auf dich warte?«

Und sie zog drei fein beschriebene Bogen aus dem Umschlag.

»Da hast du sie, deine Ausführlichkeit,« triumphierte Frau Streicher, »ich für meine Person hab' nie mehr als drei Seiten auf einmal geschrieben, Gott sei Dank!« worauf sie zu lesen begann:

Karlsruhe, den 20. November 1895.    

Liebe Eltern!

Werde ich wohl imstande sein, die Dinge, die ich erlebte, so zu schildern, daß Ihr mich ganz versteht und mein selbständiges Handeln nicht als ein unkindliches aufnehmt, sondern als ein durch die Umstände gebotenes? Ich bin früh genug in Karlsruhe angekommen, um die wirklich 55 schöne mit dem Vorort Mühlburg nun 100 000 Einwohner zählende Residenz mit Muse besichtigen zu können.

Hinter der Stephanienstraße, von deren großen Stille du oft zu reden pflegtest, lieber Vater, hat sich ein wundervolles Villenviertel aufgethan mit kleinen Gärten und einem Platz, auf dem das Denkmal des Dichters Scheffel thront.

Hier war es, wo sich ein kleines wundernettes Kätzle zu mir gesellte, dessen unbeschreiblich bittender Blick mir so nah ging, daß ich es nicht über mich brachte, es von mir zu stoßen. Ich steckte es also in die Tasche und ging in mein Hotel zurück, Darmstädterhof, Kreuzstraße 2. Entschuldige, lieber Vater, ich konnte mich nämlich nicht im Gasthaus zum Mohren einlogieren, da es nur noch ein Wirtshaus für Fuhrleute ist. Ich trug das Kätzchen in mein Zimmer, gab ihm ein Schüsselchen Milch und ließ es ziemlich schweren Herzens auf meinem Bett zurück, wo es sich behaglich schnurrend zusammenrollte. Zu Eurer Beruhigung muß ich vorausgehen lassen, daß sich das Tierchen in jeder Hinsicht als ein durchaus wohlerzogenes erwies.

56 Als ich ins Theater gehen wollte, kam mir ein seltsam verwittertes altes Wesen entgegen, lächerlich gekleidet, mit einem Ausschnittlein am Hals und roten Schleifen am Hut; sie fuhr beständig mit ihrem Schirm nach rückwärts, dabei laute Drohungen ausstoßend, denn sie wurde von einer Rotte Buben verfolgt, die ihr »Rickele« nachriefen, »närrisch's, närrisch's Rickele!«

»Schämt euch,« wies ich die Kinder zurecht, »geht eurer Wege, denn was ihr thut ist schlecht.«

»Ich dank' Ihnen vielmals,« sagte die Person, »das wüscht', niederträchtig', verdammt' Bubenvolk bringt mich noch ins frühe Grab; wenn's eine Gerechtigkeit gäb auf der Welt, gehörten sie alle aufgehängt.«

»Das wär' ein wenig zu stark,« sagte ich, »aber wenn's Ihnen recht ist, begleite ich Sie.«

»Wo denken Sie hin,« schrie sie auf, »daß ich wieder ins Gered' komm', bin so so oft drin, denn die Karlsruher haben gar böse Zungen, kein junges Mädle lasse se in Ruh. Gehe Sie nur, gehe Sie, ich hab' mei Ehr zu wahren.«

Ich gab ihr ein Zwanzigpfennigstückchen, das die Arme hoch erfreute, und nahm mir von neuem 57 vor, vor allen Dingen danach zu streben, Mitleid in die Herzen meiner Schüler zu pflanzen, Mitleid mit jeder lebenden Kreatur, und nichts strenger zu rügen und zu verdammen, als Hohn und Spott gegen geistig Arme oder körperlich Zurückgebliebene. Der Umstand, daß ich der armen Person nicht dreißig, statt zwanzig Pfennige gegeben, der Gedanke an das Kätzchen in meinem Bett, und die Angst vor meiner Hotelrechnung belastete mein Gemüt auf das dreifache und schmälerte etwas meine Freude, als ich endlich im Theater saß und das Vorspiel zur Götterdämmerung begann. Dann aber war alles ausgelöscht, und ich versank in einem Meer der wonnevollsten Töne. O lieber Vater, daß ich, deine Ansicht gegen die Wagnerische Musik kennend, nicht darf, wie ich möchte, nämlich die Herrlichkeit dieses oder jenes Momentes erwähnen, vor allem der Darstellerin der Brünhilde, die mich zu einer bis dahin nie gekannten Begeisterung hinriß! –

O du unvergleichliche, gottbegnadete Gesangskünstlerin, du Rührerin der Herzen, wie soll ich mich ausdrücken, um deinen so vollendeten Genius –

58 »Hör' auf oder ich lauf' davon,« rief der alte Streicher und machte Anstalten, sich die Ohren zuzuhalten.

Seine Frau brach in ein lustiges Gelächter aus: »'s war nur ein kleiner Schabernack, Alter, der Heinerle hat das gar nicht geschrieben, es sind deine Worte aus dem Jenny-Lind-Brief – das ist für dein bärbeißiges Gesicht, wie der Bub von seiner Musik anfing –«

»Na, so lies weiter,« brummte der Alte, »und laß mich zufrieden mit solchen Dummheiten.«

Sie nahm verstohlen lächelnd ihren Brief auf:

Mit der Darstellung der Brünhilde war meines Erachtens das Höchste in der Kunst erreicht, und so lang ich lebe, werde ich den Eindruck nicht vergessen, wie Gunther die gebrochene und besiegte Gestalt an seinen Hof bringt; wie groß war der Moment, als sie sich von Siegfried verraten sah und in Verzweiflung ausbrach – so groß, daß ich zu meinem Schrecken laut aufschluchzte. Und wie ich eben tief beschämt mir nicht zu helfen weiß, wendet sich plötzlich ein in Thränen gebadetes Antlitz nach mir um, das mir ohne Worte sagte: ich empfinde wie du.

59 Nämlich, lieber Vater, ich hatte mir erlaubt, einen Logenplatz im zweiten Rang zu nehmen, aus dem einfachen Grunde, weil ich zu wenig Schneid besitze, um mir auf Kosten anderer einen Sitz zu erobern. Übrigens hat es wohl im Buche des Schicksals gestanden, daß es so hat sein müssen, wie es ausgefallen ist, worüber Euch der weitere Inhalt meines Briefes aufklären wird.

Als in der Pause nach diesem unvergleichlichen Akt (nach welchem das Publikum unzähligemal: »Mailhac, Mailhac! gerufen hatte, so hieß die wunderbare Darstellerin der Brünhilde), sich die Logen geleert hatten, sah ich mich mit jener mitfühlenden Seele allein und groß war mein Wunsch, mich mit ihr ins Einvernehmen zu setzen. Es war nämlich ein Fräulein.

»Natürlich, da haben wir's,« platzte Frau Streicher heraus, »der dumm' Bub', der einfältig', ohne zu wissen, wer ihre Eltern sind, wer sie ist, und was sie hat, bändelt er da was an –«

»Aber meine Liebe,« unterbrach sie der Gatte, »ist es nicht ganz das Gleiche gewesen mit uns – erinnere dich doch –«

Sie las ungeduldig weiter:

60 Es war nämlich ein Fräulein. Aber was thun, wie die Unterhaltung beginnen? Ach, dachte ich, hätte ich nur eine Ader von meinem kecken Mütterle.

»Sickst,« lachte sie, »daß er nix von mir hat?«

Endlich nahm ich einen Anrann und setzte mich auf den leer gewordenen Platz neben sie, indem ich so that, als wollte ich ins Theater hinunterschauen. »Die vielen Menschen,« sagte ich. Sie sah mich erstaunt an: »Das heißt, jetzt in der Pause ist's ja ganz leer.«

»Ja, das ist wahr,« gab ich zu, und die Unterhaltung war im Gang, indem wir uns sogleich in ein eifriges Gespräch über die so eben gehörte Musik vertieften, womit ich Euch, liebe Eltern, nicht belästigen will, da ihr diese Freude nicht daran hättet, wie wir sie empfanden, und alles um uns her vergaßen, uns die herrlichsten Stellen in Erinnerung rufend, so daß einmal sie summte und einmal ich summte; sie hatte nämlich den Klavierauszug auf ihren Knieen liegen, in dem wir eifrig studierten, bis das Vorspiel zum zweiten Akt uns aus unserer Versunkenheit riß. Ich schnellte auf und wollte, mich auf das dringlichste 61 entschuldigend, auf meinen Platz zurück; da sagte der Herr, welcher ihn inne hatte: »Bitte, bleiben Sie nur, ich bin kein so arger Wagnerianer und trink' gern ein Glas Bier dazwischen.« Und nun dieser doppelte Genuß! Wir konnten uns ansehen bei all den Stellen, die uns entzückten, ja, wir stießen uns sogar manchmal an, und die Zwischenakte wurden uns zu Augenblicken des schönsten Austausches, in denen wir gegenseitig uns unser Inneres erschlossen. Ich erfuhr von meiner Nachbarin, daß sie in schönen, wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen sei, durch unglückliche Spekulationen hatte sich der Vater um alles gebracht und zuletzt aus Verzweiflung auch ums Leben; die Mutter war ihm bald nachgestorben, und das Kind fristete seither sein Leben mit Klavierstundengeben.

Ach, meine lieben Eltern, da war es auch schon in mir beschlossen: Die oder keine! Ja, auf meinen Händen will ich sie durchs Leben tragen, sobald sie einwilligt, mein geliebtes Weib zu werden –

»Aus Mitleid, aus bloßem dummen Mitleid,« alterierte sich die kleine Frau, »gewiß hat sie einen Kropf oder hinkt –«

62 »Kann man denn seinen Brief nicht mit Ruhe zu Ende hören?« mahnte der Gatte.

Sie las: Siegfrieds Tod! Unter den Klängen des Trauermarsches trugen sie den Recken langsam den Waldweg hinan – welch ein Bild! Welch eine Musik!

Tief erschüttert verließen wir das Theater, uns beeilend, mit unseren erregten Mienen der tageshellen Beleuchtung des elektrischen Lichtes zu entfliehen. Erst in dem trüben Licht der Gaslaternen wagten wir aufzublicken und unserer Begeisterung Luft zu machen. Ich sagte: »Ist man einer solchen Künstlerin gegenüber, wie die Darstellerin der Brünhilde eine ist, nicht in einer Art von Schuldverhältnis, so daß es angebracht wäre, ihr auf irgend eine Weise Dank zu sagen, dafür, daß sie unser Inneres erhoben und so zu sagen von den Schlacken der Alltäglichkeit gereinigt hat?« Sie antwortete: »Wie wär's, wenn wir ihr gemeinsam unsere Bewunderung ausdrückten, vielleicht in Gestalt eines Gedichtes und einiger Rosen; die letzteren übernehme ich, Sie das Gedicht.« – »Aber,« rief ich aus, »ich kann es nicht zugeben, daß Sie allein die Kosten tragen!« Sie lachte: 63 »Ist es denn der Rede wert, was heutzutage ein paar Rosen kosten?«

Darauf ging ich voll Eifer auf ihren Vorschlag ein, erzählte ihr noch, bevor wir schieden, von dem kleinen Kätzchen, das ich gefunden, und das mich in meinem Hotel erwarte, und zu meiner Freude erfuhr ich, daß sie nicht nur ein begeisterungsfähiges, sondern auch ein mitleidiges Herz hat, denn sie erzählte mir, daß sie auch einen 64 kleinen Kostgänger habe; das Kätzchen vom Bäcker Appenzeller komme alle Tage übers Dach zu ihr spaziert und teile das Abendbrot mit ihr.

Ich schied so rasch wie möglich von dem geliebten Mädchen, als wir vor ihrem Hause standen; was ich empfand, wollte ich ihr erst in abgeklärter Form, zugleich mit der Bitte um ihre Hand, zu einer geeigneteren Stunde aussprechen.

Allein wie erging es mir am anderen Morgen, welches war die Überraschung, die meiner wartete, als ich, mit dem Kätzlein in der Tasche, das ich ihr bringen wollte, mir plötzlich, auf der Straße angekommen, sagen mußte: »Ich weiß ja nicht, wie sie heißt, nicht einmal, wo sie wohnt!«

»Der Dummkopf!« rief der alte Streicher aus und schlug auf den Tisch.

Frau Streicher zupfte ihn am Ärmel: »Wie war's denn damals auf der Durlacher Allee? Hast du mich vielleicht nach meinem Namen gefragt? Wenn ich ihn dir nicht gesagt hätte, wüßtest du ihn heute noch nicht.«

»Das möchte ich denn doch bewiesen haben,« begehrte der alte Herr auf.

»Ach, sorgen wir uns nicht um uns, du hast 65 die 'kriegt, die zu dir 'paßt hat, daß aber unser arm's Bubele an so eine Musikalische kommen muß, die gewiß keine Supp' kochen kann und kein Quintle vom Pfund unterscheidet –«

»Das ist das alte Maß, nach dem längst nicht mehr gemessen wird –«

»So ein Schulmeister ist doch 's Ärgst' auf der Welt!« fuhr die kleine Frau los und las wütend weiter.

Nun, meine lieben Eltern, irrte ich wie ein Verzweifelter in den Straßen der Residenz herum, nach jenem Hause spähend, das sich mit samt seiner Umgebung leider nur unklar meinem Gedächtnis eingeprägt hatte. Ach, und wie schön hatte ich mir das Wiedersehen mit dem geliebten Mädchen ausgemalt; es war Sonntag; sie hatte mir gesagt, daß sie an diesem Tage selten vormittags ausgehe, sondern für sich Musik treibe, da hatte ich sie überraschen wollen, und nun konnte ich sie nicht finden und mir auch nirgends Rats erholen, denn wie hätte ich meine Fragen stellen sollen, ohne den Schein der Lächerlichkeit auf mich zu laden? Der einzige Trost auf meinen fruchtlosen Wanderungen war mir das kleine Kätzchen in 66 meiner Tasche, denn es that so vertraut, schnurrte und spielte, streckte das Köpfchen heraus und war ganz unsinnig vor Freuden, wenn ich ihm meinen Finger überließ. Es war zwei Uhr vorüber, und ich hatte noch immer nicht zu Mittag gespeist, so daß ich anfing, sehr hungrig zu werden, und mich in ein Gasthaus verfügte. Hier aß ich Kalbsbraten und Kartoffelsalat und trank ein Viertelchen vom billigsten Wein, der gerade so sauer war, als unser schlechter daheim. Plötzlich, während ich das Tierchen fütterte, fiel mir ein: sie hat ja auch von einem Kätzchen gesprochen, und zwar von dem des Bäckers Appenzeller. Das war ein Anhaltspunkt! Schleunigst ließ ich mir ein Adreßbuch geben und schlug nach und siehe, ich fand nicht nur einen, sondern sogar zwei Bäcker Appenzeller; der eine wohnte Kaiserstraße 71, der andere Amalienstraße 27. Ich entschloß mich für den ersteren und hatte einen weiten Weg zu machen, fast bis ans Durlacher Thor. Ich fand den Laden, trat hinein und kaufte ein Brötchen; der Bäcker sah mich so eigentümlich an, daß ich nichts herausbrachte und schnell noch ein Brötchen kaufte. Auf einmal sagte der Mann: »Sie haben ja da e Katz 67 im Sack!« Und siehe, wieder war das Tierchen mein rettender Engel! Vor lauter Vergnügen nahm ich ein drittes Brötchen, indem ich zugleich an den Bäcker die Frage stellte: »Sie haben gewiß auch Katzen?« – »Nein,« sagte er, »ich kann se net ausstehe.« – »Aber,« wagte ich zu bemerken, »eine vielleicht doch, eine Kleine?« – »Kei Halbe,« schrie der Mann, »wenn ich's Ihne sag', ich hab'n Rattenfänger, der ließ gar kei Katz' aufkomme.«

So wußte ich es also und erkundigte mich draußen bei einem Dienstmann nach der Amalienstraße; sie war im entgegengesetzten Stadtteil, beinahe am Mühlburger Thor. Es war schon halb vier vorbei, als ich beim Bäcker Appenzeller, in der Amalienstraße, eintrat. Hier kaufte ich einen Gipfel, hatte es aber schwer, ihn unterzubringen, denn in der Tasche rechts saß das Kätzchen, und die links war bis oben mit Brötchen angefüllt. Ich sagte mir daher: »Diesmal mußt du dich schneller entschließen!« Ich hatte bereits in jeder Hand einen Gipfel, als glücklicherweise von der Kaserne her Blasinstrumente ertönten, worauf ich an die freundliche Frau im Laden die Bemerkung richtete: »Eine sehr musikalische Gegend, gewiß 68 giebt es auch Klavierlehrer und Klavierlehrerinnen hier herum?« – »Ich weiß nur eine,« sagte die Frau Bäckermeisterin, »gerade um die Eck –« Ich stürmte hinaus, ich eilte um die Ecke, da, o Fügung des Himmels, was tönte mir entgegen? Der Trauermarsch aus der Götterdämmerung! Das Haus stand offen, der Gang war etwas düster, ich ging die Treppe hinauf, die Musik kam aus einer Mansarde, und ich stand lange vor der Thüre und lauschte, bis ich endlich anzuklopfen wagte. Niemand sagte herein, und ich klopfte stärker; jetzt ertönte ihre Stimme: herein! und ich öffnete und stand drinnen. Sie spielte aber weiter, ohne den Kopf nach mir zu drehen, und ich weiß nicht, wo ich mit einemmal den Mut hernahm, aber ich saß plötzlich auf dem zweiten Stuhl am Klavier und griff in die Tasten, sie schrie ein wenig auf, rückte sofort auf die Seite, ich setzte ein, wo sie aufgehört, und durch die niedrige Dachkammer brauste Wagners gewaltiger Trauermarsch. Ach meine lieben Eltern, sie spielt tausendmal besser als ich, es läßt sich nicht ausdrücken, wie mir zu Mute war! Denkt Euch eine ziemlich geräumige Mansarde, abgeteilt durch einen geblumten 69 Vorhang, hinter dem sie schläft. Zunächst am Fenster steht das Pianino, daneben ein Kanapee mit einem Tisch davor. An den Wänden hängen schöne Ölgemälde, wertvolle Kupferstiche und Radierungen, dicht nebeneinander, wie denn überhaupt die ganze Mansarde vollgestopft ist von schönen Sachen, daß man bei jedem Schritt Gefahr läuft, irgend etwas umzustoßen oder kaput zu machen. Aber glaubt nicht, daß ich das alles gleich auf den ersten Augenblick gesehen habe! O nein, ich sah so viel wie gar nichts und war auch, nachdem wir den Trauermarsch zu Ende gespielt hatten, außer stande, von dem Vorhaben zu sprechen, das mich hergeführt hatte, um so weniger, als sie sich so ganz anders zeigte, als am Abend zuvor, nämlich sehr zurückhaltend und förmlich, so daß ich sehr betroffen war und sagte: »Es wird wohl Zeit sein, daß ich gehe?« worauf sie erwiderte: »Ich kann Sie nicht halten, ich bin eingeladen.« An der Thüre deutete sie auf die beiden Gipfel, die ich auf die Kommode gelegt hatte; »Sie haben da etwas liegen lassen.« – »Ach ja,« sagte ich, »und außerdem habe ich ganz vergessen, weshalb ich eigentlich gekommen bin, nämlich –« und ich zog das schlafende 70 Kätzchen aus der Tasche, »ich wollte mir erlauben, Ihnen dieses arme heimatlose Tierchen zu bringen.« Sie nahm's gleich auf den Arm und streichelte es. »Nun will ich aber wirklich nicht mehr stören,« sagte ich und öffnete die Thüre: »Die Gipfel, die Gipfel!« rief Sie mir nach. Ich blieb an allen Gliedern zitternd stehen: »Und noch etwas anderes ist mir abhanden gekommen, nämlich mein Herz – o mein Fräulein –« – »Aber mein Herr,« sagte sie und wich zurück, »wer sind Sie denn?« Ich erschrak, denn das hätte ich ihr natürlich zuerst sagen sollen, ich holte es schleunigst nach, erzählte ihr, daß ich bisher in Thiengen Lehrer gewesen und nun in Konstanz angestellt sei, und mir alles daran läge, sie vor meiner 71 Abreise noch einmal sprechen zu dürfen. »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen,« antwortete sie, »trinken Sie den Kaffee bei mir und lernen wir uns dabei ein wenig kennen.« »Aber Sie sind ja eingeladen!« – »Ich bringe die Sonntagnachmittage bei einer befreundeten Familie zu, aber es schadet nichts, wenn ich einmal ausbleibe; nur bin ich nicht mit Brötchen versehen.« – »Damit kann ich dienen,« rief ich aus und entledigte meine Taschen ihres Vorrats, indem ich erzählte, auf welche Weise ich zu diesem Überfluß von Brot gekommen sei, und was ich alles ausgestanden, bis ich sie gefunden. Sie lachte auf das herzlichste, bereitete auf ihrem Maschinchen einen Kaffee, wie ich nie einen getrunken –

»Du lieber Gott, natürlich,« fuhr Frau Streicher auf, »ein Verliebter trinkt auch Bratenbrüh' für Kaffee –«

Und dann beim Lampenschein lernten wir uns kennen. Sie sagte mir, daß sie schon am Abend vorher nicht habe begreifen können, daß ich mich ihr nicht vorgestellt habe. Gänzlich habe sie mein Betragen bei meinem Kommen befremdet; sie habe geglaubt, es klopfe ein Schüler oder eine 72 Schülerin, um ihr die Stunde abzusagen, und darum habe sie nicht gleich den Eintretenden beachtet. Groß aber sei ihr Schrecken gewesen, als ich plötzlich in meiner ganzen Länge auf sie zugestürzt sei und ohne weiteres mit ihr zu spielen angefangen habe. Und sie gestand mir, daß sie nur aus Todesangst, ich sei nicht ganz bei Trost, auf mein Vorhaben eingegangen sei und den Trauermarsch mit mir zu Ende gespielt habe. Dann aber habe sie der Blick meiner Augen über meinen Geisteszustand beruhigt und mein weiteres Gebaren habe sie schließen lassen, daß ich weiter nichts, als ein unpraktischer Mensch sein müsse.

»Ja, mein liebes Fräulein,« sagte ich, »das ist der Streichersche Erbfehler, unser Leitmotiv, an das sich eine ganze Perlenschnur von Mißgeschicken reiht. Wenn mir der liebe Gott eine teure Lebensgefährtin schenken möchte, so würde ich folgendermaßen zu ihr sprechen: ›Unterstütze mich nicht in dieser Schwäche, so wie meine teure Mutter es meinem teuren Vater gegenüber gethan hat‹ –

»Oho! riefen die beiden Alten aus und rückten näher zusammen –

›sondern bekämpfe sie, indem du mir nicht die 73 Hindernisse aus dem Weg räumst, sondern mich anstachelst, ihrer Herr zu werden. Denn das schönste Verhältnis in der Ehe ist dasjenige, daß jeder sein Selbst zu bewahren wisse – ich meine, nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit gerate dadurch, daß er den anderen für eine Schwäche aufkommen lasse.‹ – Das ungefähr wäre die Rede, die ich im gegebenen Falle an meine Zukünftige halten würde, schloß ich, worauf das teure Mädchen erwiderte: »Auch ich hätte meine Bedingungen zu stellen, falls ich mich mit meinen achtundzwanzig Jahren noch zum Heiraten entschließen sollte; die Erfahrungen, die ich hinter mir habe, der Kampf, den ich zu kämpfen hatte, bis ich mir eine Existenz geschaffen, das alles hat mich reif, alt und vielleicht auch etwas zu selbständig gemacht; ich vermag die Musik, für die ich bisher lebte, nicht plötzlich an den Nagel zu hängen und ein Hausfrauendasein zu führen, ich könnte mich überhaupt nur unter der Bedingung entschließen, einem Manne als Gattin zu folgen, wenn es mir erlaubt wäre, die fehlende Mitgift durch den Erlös meiner Stunden zu ersetzen. Ich verdiene über zwölfhundert Mark im Jahr –«

74 »Potz tausend,« rief der alte Streicher aus, »das sind ja die Zinsen von einem Vermögen von beinahe –«

»Ich bitt' dich,« ereiferte sich Frau Streicher, »wenn ich dir den ganzen Tag so vorgeklimpert hätte –«

»Hm, für zwölfhundert Mark hätt' ich 's schon ausgehalten, aber so lies doch, sind sie denn einig, sind sie denn mit ihren Bedingungen ins reine gekommen?«

Frau Streicher hatte ein ganz erhitztes Köpfchen, als sie den letzten Briefbogen in die Hand nahm:

In dieser Stunde, meine lieben Eltern, fanden sich unsere Seelen zum ewigen Bund, und nun hab' ich keinen heißeren Wunsch, als daß Ihr sie kennen lernt; sie wird Euch übrigens selbst schreiben, Ihr aber müßt sie so bald als möglich einladen –

»Ja, wie denn, wenn ich nichts anderes von ihr weiß, als daß sie in Karlsruh', um die Eck' wohnt!« rief Frau Streicher aus, »es wird doch hoffentlich noch irgendwo ihr Name stehen?«

»Ich bin überzeugt, er weiß ihn selber nicht,« 75 sagte Herr Streicher, »es ist das ganz deine Ungenauigkeit, dein Leichtsinn –«

»Fehlgeschossen,« rief sie aus, »o Alter, wenn ich auch deine Wilhelme und Friedrich Wilhelme auf dem deutschen Thron untereinander werf', bei den Leuten, die mich was angehen, weiß ich Bescheid, wie in meiner Tasch'! Die Schwiegertochter, die gefällt mir gar nicht, aber er soll sie haben, nichts Dümmeres auf der Welt, als obstinate Eltern; und mögen sie auch vollkommener sein als wir und unsere Fehler nicht begehen, dafür machen sie andere, die vielleicht noch viel ärger sind, und darum sag, was du willst, ich lass' die zwei nicht allein in Konstanz sitzen! Den ganzen Tag von morgens bis abends Wagnermusik und vielleicht einen Wurstzipfel und sonst nichts! So laß ich mein Kind nicht verkommen, wenn 's denn schon eine Musikantin sein muß, so soll sie wenigstens das, was eine tüchtige Hausfrau ist, an ihrer Frau Schwiegermutter kennen lernen –« – »Amen,« sagte Herr Streicher.

Und wenn Ihr sie erst gesehen habt, las sie weiter, so werdet Ihr auch mein dankbares Erstaunen begreifen, daß der Himmel mich für würdig gehalten, einen solchen Engel heimzuführen –

76 Dem alten Streicher liefen die Thränen über die Wangen:

»Wahrhaftig, ja wahrhaftig,« murmelte er.

Seine Frau sah ihn lächelnd an:

»Du hast damals auch nicht begreifen können, wie du zu deinem Engel kamst, Alter, aber mit der Zeit hast du dich ganz gut daran gewöhnt.«

Und sie las, ohne die Gegenbemerkung abzuwarten, die er auf den Lippen hatte:

Ich brachte alsdann die halbe Nacht damit zu, an Euch zu schreiben, liebe Eltern, und das Gedicht an die Darstellerin der Brünhilde zu verfertigen, das ihr meine Braut morgen mit ein paar Rosen überreichen wird. Ihr aber sollt es hier zum Schlusse des Briefes zugleich mit der Versicherung erhalten, daß Euer Heinerle als der Glücklichste der Sterblichen morgen die Residenz verlassen und in Konstanz sein Amt antreten wird. –

              Pauline Mailhac!

»Heil dir, Brünhild', heil dir, Sonne –
Leuchtende Sonne neuen Tages,
Den du wecktest in den Herzen
Durch des Sanges heilige Macht.«

77 »Potz tausend, ist das alles!« rief Frau Streicher aus und machte ein ganz enttäuschtes Gesicht, »ei du lieber Herrgott, das ist ja ganz anders, als deine ellenlange Jenny-Lind-Epistel, das hätt' ja ich nicht kürzer und bündiger machen können!«

Der alte Streicher klopfte ihr lächelnd die Wange: »Er gehört uns eben beiden.«

 

 


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