Hermine Villinger
Aus dem Badener Land
Hermine Villinger

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Ums tägliche Brot.

Der Gottesdienst war zu Ende, die Leute traten aus dem Kirchlein inmitten seiner schattenspendenden Linden, zu deren Füßen der kleine Friedhof im heitersten Blumenschmuck prangte. Einige Weiber wandten sich den Gräbern zu, während die Mehrzahl der Kirchgänger über den Platz eilte, am Rathaus und etlichen Häusern vorbei, der Landstraße zu, an der sich, halb im Grünen versteckt, die dunkelgebräunten, tiefdachigen Bauernhöfe hinzogen. Rechts und links von den im saftigsten Grün prangenden Wiesen bauten sich 82 die Berge auf, die sich in schönen Wellenlinien unterhalb des Thales zu vereinigen schienen. Doppelt heiter wirkten unter diesem fröhlichen Himmel die rotgefütterten Samtröcke der Bauern und die bauschigen Hemdärmel der Frauen und Mädel, die ihre weißbestrumpften Füße so zierlich zu setzen verstanden. Hoch wirbelten sie den Staub der Landstraße auf; ein altes Mütterchen, das hinter ihnen ging, bekam ihn in die Augen, so daß es zu blinzeln anhub und stille stand. Ein paar rasch des Wegs kommende Bursche rannten die Alte fast gar über den Haufen.

»Oho,« schrie einer, »Mutter Lene« – und hielt sie am Arme fest.

Sie kicherte: »Jo, jo, mit Achtzig, da steht man nimmer wie ein Fels, aber mit dem Laufen, Gott sei Dank, da geht's noch hurtig.«

Sie trippelte davon, rechts in den schmalen Wiesenpfad hinein, der zu dem Steg führte, über die lustig dahinfließende Gutach.

Das Mütterchen in seiner schwarzen, mit einer breiten Spitze besetzten Haube blieb plötzlich stehen und sah ins Gras, als ob es ihr die blauen Vergißmeinnicht, die da am Ufer des Wassers aus dem Gras lugten, angethan hätten.

83 »An was mahnen mich jetzt auch die Blümle?« sprach sie leise vor sich hin.

Sie bückte sich, brach ein paar Vergißmeinnicht ab, schaute sie einen Augenblick wie weltverloren an und steckte sie dann mit einem zerstreuten Kopfschütteln vornen ins Brusttuch. Hierauf fing sie wieder an zu rennen, denn sie hatte es sehr eilig. Da hinten im Thal wohnten ihre beiden Kameradinnen, die letzten, mit denen sie jung gewesen war; hinfällig und bettlägerig warteten sie mit Schmerzen auf den Sonntagsgast, der ihnen für ein paar Stunden die Zeit vertreiben sollte. Dafür bekam sie das Mittagessen und einen Kaffee, und darauf freute sich die alte Pfründnerin die ganze Woche. Freilich umsonst flogen ihr die guten Dinge nicht in den Mund; die Vordereck-Bäuerin war fromm und wollte die Predigt erzählt haben, und Mutter Lene passierte es seit Jahr und Tag, daß sie in der Kirchenbank allemal ihr bestes Schläfle machte, sobald der Herr Pfarrer oben auf der Kanzel mit seiner Rede begann. Sie mußte sich also ihre Predigt selbst erfinden, denn wenn sie es der Kameradin gestanden hätte, welche Schwäche sie allsonntäglich heimzusuchen pflegte, so wäre die 84 Vordereckerin leicht im stand gewesen, sich einen andern Sonntagsbesuch anzuschaffen und sie, Mutter Lene, hätte ihr gutes Mittagessen gesehen. Die Hintereck-Bäuerin aber, die hatte wieder eine andre Passion, die wollte was erzählt haben, und zwar einen rechten Skandal, je ärger je lieber, das vertrieb ihr die Zeit am besten. Und so hatte denn die alte Pfründnerin die Woche über genug zu thun, um ihren beiden Kundinnen gerecht zu werden, die mit ihrem Tadel nicht hinter dem Berg hielten.

So schlimm aber wie heute war es der Alten auf ihrem Besuchsweg noch nie zu Mute gewesen. Sie hatte sich abgemartert die ganze Woche – kein Gedanke, keine Idee, nicht die Spur eines Einfalls – die Quelle war wie versiegt, der alte Kopf wollte nichts mehr hergeben. –

Sie war jetzt da hinten angekommen, wo der Weg zwischen dichten Reihen von Obstbäumen zu dem stattlichen Hof des Vordereckers führte. Der Rauch stieg aus dem Schornstein, und Mutter Lene legte unwillkürlich die Hand aufs Herz, denn es roch schon auf zehn Schritte Entfernung so schön nach Sauerkraut. Mit einem Blick voll Hochachtung schritt sie an dem Haus vorbei, durch den kleinen 85 Blumen- und Gemüsegarten mit seinen hohen Sonnenblumen, in denen die Bienen summten. Am Ende des Gärtchens, im dichten Gebüsch der Haselnuß- und Holunderstauden, lag der Ausgeding der alten Vordereckerin. Ein paar Stufen führten auf den schmalen Vorplatz, von da ging's gleich in die Stube, an deren Thüre Mutter Lene mit großer Bescheidenheit anklopfte.

»Herein!« rief eine weinerliche Stimme.

»No, wie geht's denn?« fragte die Alte, indem sie eintrat.

»Wie wird's gehen,« jammerte die Bäuerin hinter ihrem rot und weiß karierten Federbett hervor, »schlecht, schlecht, nit zum leben und nit zum sterben, und da lieg ich und wart' und wart', und du kommst wieder so spät, hast in all' den 86 Jahren nit einmal lernen können auch ein wenig pünktlich zu sein; 's ist ein Jammer! 's ist ein Jammer!«

»Aber Resele, was thust mir auch unrecht,« verteidigte sich Mutter Lene, »schau, ich bin so gelaufen, daß mir's den Atem verschlagen hat.«

»Ja, ja,« unterbrach sie die Kranke, »immer haltst mir dein Laufen vor, daß ich's doppelt empfinden muß, da zu liegen und mich nit rühren zu können, wo ich doch noch dazu so viel jünger bin, als wie du.«

»Ja freilich,« gab die Lene zu, »so gar viel jünger, ein ganzes Jährle macht's aus, was könntest du noch 's Leben g'nießen, Resele, wenn die bös Krankheit nit wär'.« –

Die Bäuerin streckte ihren hagern Arm aus: »Dort, nimm 's Tüchle aus der Lad' und wisch' mir schön ab – mich besorgt ja niemand recht mit so einer Schwiegertochter; die ganz' Woch' seh' ich sie nit und ihre Maidle auch nit, gottlob! Sie sind gerad so wunderfitzig wie ihre Mutter und wollen mir nur immer an mein Sach; der Sohn kommt manchmal, aber da hockt er und schwätzt kein Wörtle; die Langweil', die Langweil', die ich aussteh'; wenn 87 man dran sterben könnt', ich wär' schon lang tot. Gelt, Lene, davon weißt du auch wieder nix, wie die Langweil' eins martern kann?«

Die Alte trippelte herbei: »Was denkst auch, zu so was hat unsereins keine Zeit, das ist für die reichen Leut', ja, die haben's gut; wir im Armenhaus, da giebt's halt so viel, so viel, und dann die Kopfarbeit, die ich immer hab', ja, das ist 's ärgst', die Kopfarbeit wegerm Ern'stin.« –

Die Bäuerin schlug mit den Händen auf ihr Bett: »Ich sollt' nur einmal aufstehen können, ich wollt's im Ern'stin sagen! Hast du denn nie den Mut, Lene, endlich einmal aufzubegehren: Ern'stin, ich thu's nimmer – 's ist eine Sünd' vor Gott, ich laß mich nimmer drauf ein.«

Die Alte seufzte: »Ich hab' nie nit so mit den Leuten reden können, wie du, Resele, so eine arme Schneiderswitwe, wie ich eine bin.« –

»Ja, das war mir immer ein Rätsel, wie hast nur auch den buckligen Schneider nehmen können?«

»Freilich, schön's war's nix, aber was kann man denn für zwanzig Gulden Besseres verlangen? Und doch, bei aller Plag' und mitsamt seinem 88 Bückele, ich hätt' ihn gern noch am Leben, denn er hat gar so ein freundlichs Wesen an sich gehabt.«

»Ja, das ist immer deine strafwürdige Neigung gewesen, überall die gut' Seit' rauszufinden, und 's hat doch bei Gott 's wenigst' auf der Welt eine gute Seit'; nimm nur 's Ern'stin mit seinen bösen Gelüsten, immer nur wüste Geschichten hören zu wollen.«

»Du hast schon recht, Resele,« gab die Lene zu, »aber weißt, was die Frau aussteht mit ihrer Famill', das ist nit zum sagen; sie hängen halt alle so an der Großmutter, und jedes kommt und klagt ihr sein Leid und will Geld oder einen Rat, und sie möcht' halt alleweil helfen können und sitzt da und simuliert und kann dem Elend nit absehen. Da hab' ich ihr halt einmal, 's reut mich noch heut, von einem kleinen Skandal erzählt, der passiert war, und damals hat sie's verschmeckt und zu mir gesagt: Schau, Lenele, das hat mich jetzt unterhalten, da hab' ich mich ein bißle drüber vergessen, so mußt mir alle Sonntag was verzählen – und hat mir ein Gläsle von ihrem guten Kirschwasser eingeschenkt. Ich trink's gar gern, und da hab' ich halt 's nächst'mal wieder so ein G'schichtle 'bracht, und so ist's fort'gangen und 's hat mir 89 ordentlich ein Ansehen beim Ern'stin 'geben, wie ich's früher nit gehabt hab'. Aber leicht war's nit, das kann ich dir sagen, denn wenn ich noch so 'rumg'stöbert hab' nach bösen Geschichten, so viele passieren denn doch nit, daß ich auf Jahr und Tag alle Sonntäg hätt' können dem Ern'stin mit einem Skandal oder einer Schauergeschicht' aufwarten. Und da hab' ich mich halt müssen ans Erfinden machen, und zuletzt war sie so verwöhnt, daß wenn's ihr nit grausig genug gewesen ist, da hab' ich kein Schnäpsle 'kriegt. Heut aber bin ich auf die Neige 'kommen, nit um die Welt ist mir was eingefallen, denn du glaubst nit, wie heikel sie ist, gleich riecht sie den Braten, wenn ich ihr was Alt's ein bißle 'rausputzen möcht'. Ich bin am Brunnen gestanden und hab' den Maidle zugehört; in der Linde, wie sie 'tanzt haben, hab' ich an der Thür' gelauscht; im Armenhaus, kein's hat einen Brief 'kriegt, in den ich nit 'neingeschaut hätt' – endlich hab' ich zum Hans-Joseph gesagt, der so ein düstres Aug' hat: ich flick' Euch Euern alten Kittel wieder zusammen, wenn Ihr mir 's Allerärgst' aus Euerm Leben verzählen thut. 's Allerärgst', hat er gesagt, da brauch' ich mich 90 nit lang zu besinnen, das ist mir noch ganz klar, obwohl's über vierzig Jahr' her sind – wie selbigsmal so ein Hallunk von einem Quacksalber mir mit Teufelsgewalt einen gesunden Zahn 'rausgezogen hat, und den kranken hat er sitzen lassen – was Ärgers ist mir nach der Geschicht' nimmer passiert. – O Jesesle, mit so was darf ich im Ern'stin schon lang nimmer kommen, aber da sieht man erst im Leben, wenn man so auf die Suche geht, wie viel Anständigkeit es doch auf der Welt giebt, und man sollt's nit glauben, daß so eine brave Frau wie 's Ern'stin, lieber von Schlechtigkeiten hören mag.«

»Ja, aber du hast die Hauptschuld,« sagte die Bäuerin, »denn du hast angefangen; wenn du halbwegs ein bißle Karekter hättst, so thätst den Stiel umkehren und 's Ern'stin wieder an anständige Geschichten gewöhnen.«

»Das wird schwer halten,« seufzte Mutter Lene.

»Wenn man noch so rennen kann,« fuhr die Bäuerin auf, »so hat man die heilig' Verpflichtung, 's Gute zu verbreiten und nit 's Schlechte; das merk' dir und bring's noch in Ordnung, bevor dich unser Herrgott ins Jenseits abruft. Oder denkst du denn nie an deine Todesstund?«

91 »Ich könnt's nit gerad loben,« sagte Mutter Lene, »wo soll ich auch die Zeit hernehmen? Da packen sie mir immer alle ihre Kinder auf, wenn sie auf's Feld gehen, und das ist eine Aufgab', denn wenn mir was einfallt, so muß ich's still um mich haben, weil ich's dann immer zwanzigmal vor mich hinsagen muß, daß ich's nit vergeß. – Und wenn ich dann in die Händ' schlag' und ruf: still, still, 's fallt mir was ein! – so giebt's freilich eine Weil' Ruh'; aber dann über einmal macht mich das los' Völkle nach und tanzt um mich herum und lacht mich aus, und zuletzt lach' ich halt selber mit.«

»Lach' du nur, ja, lach' du nur!« schalt die Bäuerin aus ihrem Bett, »aber eines Tages wirst es schon bleiben lassen, wenn sich in deiner letzten Stund' deine bösen Geschichten an dir rächen thun.«

»Ach Gott!« – Mutter Lene wurde ganz klein vor Zerknirschung, »ich hab' ja selber keine Freud' dran, Resele, ich thu's ja nur ums täglich' Brot; wenn ich den Sonntag nit hätt' mit dem guten Essen, ich wär' gewiß schon lang nimmer auf der Welt, und das Schnäpsle allemal, das wärmt mir so gut den Magen.« –

»Das ist keine Entschuldigung,« sagte die 92 Bäuerin, »bild' dir nur so was nit ein, daß eins sündigen dürft nach Gutdünken, gesund bis zuletzt und dann nur grad so 'neinspazieren in die Ewigkeit.« –

»He nein!« verteidigte sich Mutter Lene, »für so unbescheiden wirst mich doch nit halten; wenn's halt einmal ans Sterben gehen sollt'« –

»Aber nit vor mir, das bitt' ich mir aus,« unterbrach sie die Kameradin, »ich brauch' dich noch so lang ich leb', denn meine Predigt alle Sonntag, das ist ja noch 's einzig, was ich hab'.« –

Mutter Lene lächelte: »Wenn man so gesund ist wie ich, da hat's keine Gefahr, Resele, daß ich vorher geh' – aber freilich, was hab' ich denn noch auf der Welt, wenn du nimmer da bist« –

»Geh, sei still, 's ist dir doch nur wegen dem Mittagessen,« fiel ihr die Bäuerin in die Rede, »da kommt's gerad'.« –

Die Thüre ging auf, und die Magd brachte auf einem Brett das Essen der Bäuerin. Mutter Lene richtete sie im Bett auf und das Essen wurde vor die Kranke hingestellt. Sie nahm einen Löffel und rührte in allem herum:

»Die Supp' hat wieder Fettaugen, die Nudeln 93 dürften feiner sein – 's Rindfleisch ist wieder hart wie Schuhleder und 's Sauerkraut hat wie allemal nit lang genug gekocht. – Ja, das war anders bei mir – das war anders bei mir. – So, jetzt fang' deine Predigt an und mach's recht erbaulich, das bitt' ich mir aus, Lene.« –

Diese sog mit angehaltenem Atem den Geruch all' der herrlichen Speisen ein, die die reiche Bäuerin so mürrisch tadelte und wie jedesmal bemächtigte sich ihrer eine namenlose Angst, die kranke Frau möchte plötzlich von einem guten Appetit 94 heimgesucht werden und sämtliche Töpfe leer essen. Sie sah ihr zu, wie sie sich mit ihrer langen, hageren Nase über die Mahlzeit beugte und dann und wann den Löffel oder die Gabel zu dem kleinen, völlig eingesunkenen Munde führte.

Das Gesicht der Lene war noch faltenreicher und verschrumpfter, viel mehr von Not und Entbehrung gezeichnet als das der Bäuerin, aber noch heute verriet der Mund der Achtzigjährigen, trotz der unzähligen Fältlein, die ihn umgaben, daß er Zeit seines Lebens der Verkünder einer heitern Gemütsart gewesen.

Und Mutter Lene, die Augen auf das Essen gerichtet, die Hände gefaltet, begann ihre Predigt:

»Unser heutiges Evangelium lehrt: wer bestraft des Reichen Übermut – wer –«

»Schon wieder?« begehrte die Bäuerin auf, »weiß denn der Herr Pfarrer nix andres als immer wieder über die reichen Leut' herzufallen?«

»'s giebt halt so gar viel reiche Bauern zu Gutach,« meinte die Lene, »da drauf wird er anspielen, wenn er sagt: Die Reichen thun ihre Seelen mit Fressen und Saufen und Üppigkeiten beschweren, und die armen Schlucker mit ihren langen Mägen 95 stehen vor der Thür, wie der Lazarus, der nachher in Abrahams Schoß ein schönes Ende genommen. Schrecklich aber ist das Sterben, wenn einer in Purpur gegangen und in Freuden gelebt und keinem was 'gunnt hat. Nach dem Tode giebt's keine Buße, aber mit jedem Stückle, das der Reiche hienieden wegschenkt, kommt er eine Sproß weiter hinauf an der Himmelsleiter, die bis zum Gottvater reicht. Ober allem aber wird verdammt der Geiz, o meine christliche Gemeinde, da hilft alles nix, zu unterst in die Höll' kommt er, der Geizkragen, für jedes Brösele, das er seinem geliebten Nebenmenschen abgezwackt hat, geht's ihm an den Kragen, und er wird niemals Gott anschauen auf seinem himmlischen Gnadenthron. Wer aber die Hand offen hat, der sitzt zur Rechten des Herrn Jesu Christi und darf ihn preisen ewiglich –«

»Amen,« sagte die Bäuerin mit bittersüßer Miene, »so gar nix wie die Predigten allweil wert sind; ich kann dir kein gut's Zeugnis geben, Lene, aber 's Essen kannst in Gottesnamen nehmen, denn ich gehör' nit zu denen, die andern Leut' nit auch was gunnen.«

Mutter Lene hatte sich gleich ans Werk 96 gemacht, indes so gut hatte sie's nicht, daß sie ihre Mahlzeit unbehelligt von den Blicken der Bäuerin hätte zu sich nehmen dürfen; diese sorgte dafür, daß es der armen Pfründnerin nicht allzuwohl ward.

»Ja, ja,« jammerte sie, »so ungleich ist's verteilt in der Welt, jetzt muß ich im Bett liegen und kein Essen schmeckt mir und kein Tröpfle Wein, und die einfältig Person schlingt alles 'runter wie ein Drescher und laufen kann sie auch wie ein Wiesel. Hat's wirklich in der Predigt geheißen, der Geiz sitzt zu unterst in der Höll', oder hast mir was vorgelogen?«

»Zu allerunterst, zu allerunterst,« nickte Mutter Lene, von ihren Töpfen aufblickend und aß darauf los, so schnell sie konnte, denn sie wußte aus Erfahrung, daß der Bäuerin Gewissensbisse nie lange anzuhalten pflegten. So rief sie auch heute: »Gleich stellst mir 's Kraut und den Speck auf den Abend zurück, ich könnt' noch Gelüsten kriegen.«

»Eh, das ist mir jetzt auch leid!« alterierte sich Mutter Lene, »jetzt hab' ich aus Versehen gerad diesmal mit dem Kraut angefangen, und 's Fleisch ist auch schon weg. Jetzt nimm mir's nur nit übel, daß ich so vorschnell war; ich bitt' tausendmal ab!«

97 »Hm,« brummte die Bäuerin hinter ihrer Bettdecke hervor, »so ein interessiert's Frauenzimmer, wie du aber auch eins bist! Ich thät' mich schämen!«

»Hast freilich recht, Resele,« seufzte die Gescholtene, »aber weißt, wann ich so drinsitzen thät' wie du, wär's gewiß auch nit so arg. Auf meinem Spitalsüpple sind nie Fettaugen, und Kraut und Speck thät' ich nie sehen ohne deine Güte. Kann ich dir sonst noch was thun, Resele, so bleib' ich gern noch ein halbes Stündle da.«

»Nein!« kam's knurrend aus dem Bett, »du schwätzt mir zu viel; geh, geh, sonst wird mir's völlig übel.«

»Dann vergelt's Gott,« sagte Mutter Lene und trippelte nach der Thüre; kaum hatte sie diese hinter sich geschlossen, als die Bäuerin wie am Messer schrie: »Lene! Lene!« Diese kehrte schleunigst zurück: »Daß du mir nur nit vergißt, und wieder so spät kommst am nächsten Sonntag; was hab' ich denn sonst auf der Welt als das bißle Unterhaltung; und 's wär' eine Niedertracht sondergleichen, wenn du mir das auch noch verkürzen thätst!« –

»Jeses, ich komm' ja,« versicherte Lene, »hab' keine Angst, ich laß dich gewiß nit im Stich, Resele!«

98 »Ist noch gut ab'gangen,« meinte sie unterwegs, als sie den schmalen Pfad zwischen Gärten und Wiesen entlang eilte, zur Mühle, deren Rad jetzt ruhte.

's Ern'stin lag nicht zu Bett; ihr Leiden, die Wassersucht, erlaubte der Armen das Liegen nicht; sie saß noch ziemlich aufrecht in ihrem ledernen Lehnstuhl, eine starke Frau mit einem energisch geschnittenen Gesicht.

»Nun hat sie dir wieder dein bißle Essen recht vergunnt?« empfing sie die Jugendkamerädin, die sofort bereitwillig auf das Thema einging und erzählte, wie arg sie's wieder habe mit der Predigt machen müssen, um ihr bißle Mittagessen herauszuschinden.

»Ja, ja,« nickte die Ern'stin, »so ist's immer gewesen, 's Resele, und drum ist's jetzt auch allein, denn mit dem Geiz hält man niemand fest, nit einmal die eigenen Angehörigen.«

»Ja, und die Langweil', die's alleweil aussteht, das ist ihr ewig's Lamento.«

»Die bringt mich nit um, aber die Famill',« seufzte die Ern'stin. »Nimm nur, der Soldat, meiner Jüngsten ihr Bub – er ist mir allweil an der 99 Schürz' gehangen, wie er noch klein war – kommt der heut' in aller Gottesfrüh' aus Freiburg an, ihm hätt's geträumt, ich sei gestorben, und hat keinen Urlaub, und ist gerad nur auf und davon. Sein Vater ist gleich mit ihm zurückgefahren, und nun, was geschieht? Wird's nit am End' eine große Straf' absetzen, und ich sitz' da und kann nit helfen. Und dann die bösen Geschichten in der Famill' vom Ältesten; daß der Mann so jung hat sterben müssen – fünfundsechzig Jahr', das ist doch kein Alter! Seine Buben, seine Buben, die haben halt den Frieden nit, das sind unruhige Geister, die putzen ihr Sach' hinaus und eines Tages, ich seh's kommen, muß ihre Schwester, das arm' Burgele mit der schiefen Hüft', bei den Verwandten die Kindsmagd machen. Und dann mein Dritter, der vor dreißig Jahren auf die Wanderschaft 'gangen ist und nit schreibt, halt immer nit schreibt – – ist's ein Wunder, daß ich keine Ruh' find' bei Tag, und in der Nacht keinen Schlaf? – Hoffentlich, hoffentlich hast was recht Kräftigs im Vorrat, Lene, denn wenn's mich nit schauert, bringt's mich auch nit über meine Gedanken weg. Zuerst aber koch' einen guten Kaffee, und da steht auch wieder 's ganze 100 Schränkle voll Wecken und Gipfel, die sie mir 'bracht haben, auch frische Butter; nimm nur mit heim, Lenele, was übrig bleibt; ebenso kannst 's Kirschwässerle herstellen, ich weiß, das ist deine schwache Seit', drum kriegst es auch nur zur Belohnung, denn wenn ich damit auch so freigebig wär', hätt's mit den schönen Geschichten bald ein End' genommen, zudem daß du's nit gut vertragen thust.«

»Eh freilich,« meinte Mutter Lene, »das schon.« –

Aber die Freundin blieb dabei: »Bist allemal ganz duselig hinterher, und das ist nix in deinen Jahren.«

»Wenn ich krank wär',« meinte Lene, »wenn aber eins so gesund ist wie ich« –

»Beruf's nit,« unterbrach sie die Freundin, »man muß nie nix berufen, keiner soll den Tag vor dem Abend loben.«

Mutter Lene schwieg; sie hatte alle Ursache, kleinlauter Stimmung zu sein, denn nicht nur, daß sie keine Geschichte wußte, die Worte der Vordereck-Bäuerin saßen ihr noch außerdem in den Gliedern; daß sie das Gute und nicht das Schlechte zu verbreiten habe und sich die schlimmen Geschichten, 101 die sie erzählte, in ihrer letzten Stunde an ihr rächen könnten.

Als es nun zum Erzählen kam und sie auf ihrem hölzernen Hockerchen vor der kranken Kameradin saß, hatte sie den ernstlichen Wunsch, keine neue Sünde zu begehen, weshalb sie sich auch ein wenig von dem kleinen Tisch, der neben der Ern'stin stand, abwandte, um das Kirschwasser nicht vor Augen zu haben.

»Nun also,« drängte die Ern'stin, »wird's bald?«

Mutter Lene seufzte und faltete ihre harten 102 braunen Finger in völliger Hilflosigkeit ineinander. Da blieb ihr suchender Blick an dem welken Vergißmeinnichtstrauß an ihrer Brust hängen und siehe da – die Blümchen, die sie schon auf ihrem Weg durch die Wiese so eigentümlich angemutet hatten, jetzt auf einmal fingen ihre welken Köpfchen an zu reden, ein versunkenes Bild aus dem Gedächtnis der Achtzigjährigen heraufbeschwörend, daß der Greisin Vergangenheit und Gegenwart wie in eins zusammenschmolz. Sie hörte nicht die Worte der Kameradin, die schon ganz in Erwartung des Argen, das sie zu hören hoffte, mit halblauter Stimme die Frage that: »Ist's wieder so eine böse Eh'standsgeschicht' wie selbe, wo's dem Mann den ganzen Tag im Ohr gesummt hat: sie ist dir nit treu – sie ist dir nit treu! – oder hast einen Totschlag, Lene, einen einfachen oder einen verwickelten? wie selbigsmal, wo sie 's Ohr gefunden haben in der Bodenkammer, unter den Gelbrüben – hu!« Ern'stin schüttelte sich: »Oder ist's was Ähnlichs wie selbigs andermal, wo's so gemichtelt hat in der Stub' – in der dunklen Stub' mit dem schwarzen Kamin, in dem fünf schwarze Schinken gehangen sind, vier 103 Schweineripple und sechs Paar Würst' – und hernach unter dem Fußboden, da wo der Diele so 'kracht hat, das klapperdürr' Totengeripp« –

Mit einem Aufschrei packte sie die vor ihr sitzende Lene beim Arm: »'s graust mir noch heut' – das war deine beste Geschicht' – hast wieder so eine?«

Mutter Lene sah ganz erschrocken von ihren Blumen auf; sie brauchte ordentlich Zeit, um sich in die Gegenwart zurückzufinden, und als sich die Ern'stin zu ihr beugte: »Wie war's also – wie war's?« da bildete sich Mutter Lene in ihrer Benommenheit ein, es handle sich um ihr eigenes Erlebnis, und sie war schnell bei der Hand und begann:

»Im Sommer – im Sommer war's – ein Sonntag grad wie heut'. – Mutter, hab' ich gesagt, ich geh' noch ein wenig in die Wiesen, bevor's nachtet, ich hab' mich die ganz' Woch' auf den Sonntag gefreut. – Freilich, hat sie gesagt, geh, so lang du magst, mußt so die ganze Woch' sitzen und sticheln, armer Tropf, dem ich nix mehr sein kann, dem ich nur noch zur Last bin. Oho, hab' ich gesagt, das ist doch ganz in der Ordnung, zuerst hast du für mich geschafft und jetzt schaff' ich für 104 dich. – Am Steg, über dem Bach, kommt einer her und laßt mich nit vorbei! Er spielt auf einer Ziehharmonika ein Stückle auf und steht und lacht, und ich lach' auch.

Hei, Maideli, sagt er, was bist so jung.

He jo, sag' ich, sechszehne grad –

Und ich zwanzig, sagt er, komm', setz' dich ein wenig zu mir ins Gras, ich spiel' dir gern ein Stückle auf, wenn du magst.

Nun halt, da sitzen wir.

Wo bist daheim? frag' ich.

105 Überall und nirgends, ich zieh' so 'rum und spiel' zum Tanzen auf.

Hast keine Eltern, frag' ich, keine Mutter mehr?

Ja, sagt er, sie flicken Schirm', aber sie sind mir zu grob, da bin ich davongelaufen.

Eh, du schlechter Bub', verschreck' ich mich, ich ließ' mein Mütterle nit allein.

Drauf nach einer Weil' fragt er: bist arm?

Ja, sag' ich, eine Näherin bin ich – 's muß halt langen –

So ist's allemal, meint er, die Nettsten haben nie nix, aber wenn dir's recht wär', ich nähm' dich gleich mit auf die Reis', 's geht immer lustig zu und manchmal hab' ich beide Säck' voll Geld – es wär' so schön mit'nander, meinst nit auch?

Ja, sag' ich, freilich wohl, aber da kommt's doch nit drauf an. Ich muß bei meiner Mutter bleiben; sie hat's auf der Brust und hustet Tag und Nacht.

Und die Lieb' gilt dir nix? fragt er. Da muß ich weinen, ich weiß nit warum: die Lieb' ist viel zu kostspielig für mich; da ist der Schneider, der hat zu meiner Mutter gesagt, er nimmt sie auch dazu. Du bist freilich schöner, aber die armen Leut' müssen halt auf die Nützlichkeit schauen.

106 So hab' ich gesagt und er hat mit der Achsel gezuckt und angefangen ein Stückle zu spielen. Schönres hab' ich nie nix gehört. Noch eins – bitt' ich, und – noch eins, noch eins – so geht's fort.

Jetzt kann ich keins mehr, hat er über einmal gesagt. Jetzt. Maideli, jetzt kommt der Lohn – Ich hab' mich nit gewehrt – ein Schmützle hin, ein Schmützle her – genau so viele als er Stückle gespielt hat – und dann noch eins umsonst zum Abschied. Drauf haben wir uns einen Strauß geschenkt – vom Bach weg, die Vergißmeinnicht – er hat ihn an den Hut gesteckt – so ist er 'gangen –«

Die Alte schwieg; es war so still in der Stube, nichts zu hören als die Fliegen, die am Fenster summten und das Tiktak der rauchgeschwärzten Uhr dahinten am Ofen.

Mutter Lene, der es ein wenig vor den Augen geflimmert hatte, fuhr sich mit der Hand darüber und sah nun auf. Da gewahrte sie mit Schrecken, daß die Kameradin schlief – tief und fest, wie es ihre regelmäßigen Atemzüge verkündeten. Im ersten Augenblick überfiel die Erzählerin ein Gefühl großer Beschämung, dann aber kam wieder jene strafwürdige Neigung bei ihr zum Durchbruch, jedem 107 Ding eine gute Seite abzugewinnen, und sie sagte zu sich selbst: daß ich 's Ern'stin zum Schlafen gebracht, das ist doch gerad' so gut, als wenn ich ihm über seine schwarzen Gedanken weggeholfen hätt'. – Sie gäb' mir gewiß ein Schnäpsle, wenn sie jetzt aufwachen thät. –

Und sie kam mit sich überein; am gescheit'sten ist's, ich nehm' mir eins, denn ich thät' mich der Sünd' fürchten, die arm' Dulderin aus ihrem guten Schlaf zu wecken. –

Ganz leise nahm sie die Flasche und schenkte sich in aller Bescheidenheit ein halbes Gläschen ein; das schmeckte so gut, daß sie zu sich selber sagte: Eh, warum bin ich auch so dumm, 's Ern'stin hätt' mir gewiß ein ganzes Gläsle 'gunnt. – Ihre Erfindungsgabe war so unerschöpflich in überzeugenden Gründen, daß sich Mutter Lene glücklich drei Gläschen Schnaps herausgeklügelt hatte. In aller Stille machte sie sich aus dem Staub; eine wohlige Wärme belebte ihren alten Körper, die Füße liefen wie von selbst: »He, Mutter Lene, wo brennt's?« riefen ihr die vor ihren Höfen sitzenden Leute nach. Aber sie hatte keine Zeit, sie blieb nirgends stehen, es trieb sie vorwärts, als erwarte 108 sie irgendwo eine große Freude, als dürfe sie sich nicht einen Augenblick verweilen, um nicht zu spät zu kommen.

Der Abendschein lag über dem Thal, als die Alte in die Wiesen bog und den Steg betrat. Da ging ihr plötzlich der Atem aus, sie wankte und sank am Ufer nieder mitten in die Vergißmeinnicht hinein; zitternd mit einem irren Lächeln streckte sie die Rechte nach den Blumen aus; ein kurzer röchelnder Laut entfuhr ihren Lippen, und sie sank leblos zurück.

Die blauen Vergißmeinnicht schlugen über ihrem welken Gesichtchen zusammen, und der Gesang der Grillen geleitete die Dichterin ums tägliche Brot hinüber in den ewigen Schlummer.

 


 


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