Hermine Villinger
Aus dem Badener Land
Hermine Villinger

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Sein Amt.

In dem feuchten dichten Nebel, der die Straße einhüllte, bewegte sich ein kleines Licht, gleich einem Leuchtwürmchen, bald hüben, bald drüben in der Gasse auftauchend; oft auch verschwand's, um plötzlich nach einer Weile wieder zum Vorschein zu kommen. Jetzt stand's unter einer Laterne still, und die warf ihr vom Nebel getrübtes Licht auf ein geschäftiges Gnomenvölkchen, vermummt bis an die Näschen, mit großen, dicken Zeitungspacken unter den Armen.

Der Wichtigste unter diesem kleinen Volk war aber der mit dem Lichtchen, denn er wurde mit der ausgezeichnetsten Zuvorkommenheit behandelt; ja, die Ergüsse von Zärtlichkeit, womit sie ihn überfielen, waren oft so stürmischer Art, daß er seine liebe Not hatte, auf seinen säbelkrummen Beinchen das Gleichgewicht zu bewahren. Die Hauptsorge aber war ihm sein Laternchen, 160 das er mit einer Schnur um den dicken Shawl gebunden trug, in dem er bis an die Ohren stak. Darüber saß eine mit einem mächtigen gelben Hoffnungsanker gezierte Mütze, die so groß war, daß sie den kleinen Mann wie ein Dach beschirmte.

»Männle,« hatte die Mutter zu ihm gesagt, als sie ihm das Laternchen umband, »das ist dein Amt, du leuchtst den andern in die Hinterhäuser und die Treppen 'nauf, daß sie mir nit Hals und Bein brechen, denn jetzt, daß wir den Vader nimmer haben, jetzt bist du der Mann im Haus, und das mußt auf die Ehr' nehmen und schön bei der Arbeit mithelfen; ihr aber,« wandte sie sich an die beiden größern Mädchen, »ihr haltet ihn an der Hand und paßt auf, damit ihm nix passiert, denn wenn er brav wird und tüchtig, so darf er uns noch einmal alle erhalten.«

Und sie stampften wohlgemut durch den dichten, naßkalten Nebel, das Männle in ihrer Mitte, das mit der Wichtigkeit eines Großwürdenträgers sein Laternchen vor sich her trug. Andre kleine Nachtvögel, angezogen durch den Schein des Lichtchens, hatten sich zu ihnen gesellt, und es war ein Hauptspaß für alle Kinder, immer wieder dem Kleinen 161 sein Laternchen abzuverlangen, worauf er allemal wie am Messer zu schreien begann: »Dasch mei Amt! Dasch mei Amt!«

Sie waren jetzt in der Moltkestraße angelangt, wo links der Wald war, schwarz wie die Nacht, aus der hier und dort ein heller Stamm wie ein Gespenst herausragte, während es so gar unheimlich in dem welken Laub raschelte und krachte. Die Kinder scharten sich enger um den kleinen Laternenträger, der hier, im Westen, nicht mit in die Häuser zu gehen brauchte, wie drinnen in der Stadt, wo man durch dunkle Hinterhöfe mußte, an offenen Kellerthüren vorbei, winkelige Treppen hinauf, die ein wütend bellender Hund verteidigte, oder wo eine fauchende Katze saß, mit grün leuchtenden Augen.

Da draußen hatte sich noch ein Mädchen zu den Kindern gesellt, größer als sie alle; sie trug trotz der winterlichen Jahreszeit einen weißen Strohhut mit gelbem Band, der, nach seinem Aufputz zu schließen, eine flotte Vergangenheit hinter sich hatte. Das Mädchen wollte durchaus neben dem Männle gehen, um von seinem Lichtchen zu profitieren, allein so oft sie eine der Schwestern von 162 der Seite des kleinen Bruders wegdrängen wollte, wurde ihr die Weisung zu teil: »Der Männle ist unser Männle, und das Laternle ist unser Laternle.«

Die Große mit dem Strohhut war eben, eine Zeitung aus ihrem Packen lösend, im nächsten Haus verschwunden, als die Ältere von Männles Schwestern die andern Kinder mit einem Pst! Pst! zu sich heran rief.

»Die,« flüsterte sie, der Großen mit einer wegwerfenden Handbewegung nachdeutend, »die giebt nie 'was her, nie!«

Sie rotteten sich zusammen, eng um das Lichtchen, das lauter eifrige, erregte Mienen beleuchtete. »Und sie hat so gute Häuser,« berichtete die zweite von Männles Schwestern, »einen Konditor und zwei Bäcker; sie kriegt immer 'was, ich hab's schon gesehen –«

»Und hat noch nie im Männle 'was 'geben,« unterbrach sie die ältere Schwester, »denkt nur, noch nie!«

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich:

»Wißt ihr was, wir machen's ganz einfach so – wir hauen sie durch!« schrie ein kleiner, sehr unternehmend aussehender Junge.

163 »Ja, du bist gescheit,« fuhr ihn ein mageres, entsetzlich frierendes Mädchen an, »wo sie so stark ist; ich hab' einmal eine von ihr 'kriegt, die denkt mir meiner Lebtag. –«

»Aber wir sind doch Buben, wir zwingen doch so ein Mädle, wenn wir zusammenhalten,« meinte der Junge, indem er sich so gespreizt wie möglich vor das Laternchen hinpflanzte, »schaut mich einmal an, ihr, wer bin ich denn, wenn's gefällig ist? Ein Künstler am Großherzoglichen Hoftheater mit einem Rollenfach und zwei Mark Spielgeld! Ganz 164 allein, sag ich euch, geh' ich auf das Mädel los, aber ihr müßt mir alle helfen.«

»Ja, ja,« nickte eine von Männles Schwestern, »denn sie hat gewiß wieder was im Sack, und das kriegt der Männle.«

»Hui, hui, jetzt giebt's eine Schlacht,« freuten sich die kleinen Buben, »kommet, kommet alle von den Häusern weg, mehr im Wald zu – der Männle muß leuchten. – Hurra! Hurra! eins zwei drei, liegt sie auf der Nas, und wir plündern sie aus!«

»Aber der Männle kriegt alles,« riefen die beiden Schwestern wie aus einem Mund, und die größere setzte hinzu: »Ihr müßt's versprechen auf ganz gewiß!«

Die Zusage war schwach, und die beiden Schwestern nahmen tief gekränkt ihr Brüderchen bei der Hand und tuschelten ihm ihre Empörung in die Ohren. Aber die andern machten sich nichts daraus, sondern hüpften und sprangen wie kleine Teufelchen in dem rötlichen Scheine des Lichtchens herum, hinter sich den schwarzen Wald. Ohne ihr Geschrei hätte man sie für Spukgestalten halten können, die da im nächtlichen Nebel ihr Wesen trieben.

165 Jetzt kam die mit dem weißen Hut wieder aus dem Haus heraus, die Kinder stellten sich zum Angriff bereit und ein Hurra aus sämtlichen Kehlen empfing die Ahnungslose. Sie schien aber gleich zu verstehen, um was es sich handelte, denn sie fuhr sofort mit der Hand nach der Tasche und hielt sie fest.

»Heraus mit den vielen guten Sachen,« rief sie der jugendliche Künstler an, indem er, die Mütze schief auf dem Kopf, mit weit zurückgelegtem Oberkörper vor das Mädchen hintrat, die ihn um ein gehöriges Stück überragte. »Glauben Sie vielleicht, mein Fräulein, ich bin niemand? So gehen Sie gefälligst in das Hoftheater – Schauspiel, Oper, Ballet, ich bin immer da – zum Beispiel im Evangelimann bin ich der Knabe mit der Fahne, und im Freischütz, holla, ahme ich die täuschende Stimme eines Leoparden nach und knalle dazu mit der Peitsche. Falls Ihnen sonst noch etwas gefällig wäre?« Er verneigte sich und rückte seine Mütze noch tiefer aufs linke Ohr. Sie flog aber schon im nächsten Augenblick zur Erde durch eine Ohrfeige, die ihm die Große applizierte. Die Thränen schossen ihm in die Augen.

166 »Ihr feig's Pack,« schrie er seine Helfershelfer an, die unentschlossen herum standen und sich nicht heranwagten, »so haut doch zu, ich halt' ihr ja die Händ' –«

Damit warf er sich blindlings der Großen in die Arme und begann mit ihr zu raufen. Und nun kamen auch die andern herbei, von hinten, von der Seite; Männles Schwestern fielen schleunigst über die Tasche her, in der sich die vielen guten Sachen befinden sollten. Aber die Große verteidigte sich tapfer, sie stieß und schlug und kratzte nach rechts und links, und hatte dabei ihre liebe Not mit dem kecken Bürschlein, das sie fest umschlungen hielt und sie durchaus auf die Erde werfen wollte. Aber sie stand auf ein paar festen, runden Beinen; erst als ihr jemand den weißen Strohhut entführte, verlor sie die Fassung – ihr Hut! ihr schöner Hut! Da schleiften sie ihn auf der schmutzigen Erde hin, ließen ihn durch die Luft fliegen, daß er wie ein Gespenst durch den Nebel fuhr. Nun, die Kopftücher der kleinen Mädchen und die Kappen der Knaben waren auch nicht mehr an ihrem Platz; da unten auf der dunklen Erde, wo die Zeitungsstöße lagen, knäulte sich 167 alles mögliche zusammen, über das man stolperte, worin sich die kleinen Beine verwickelten. Von Zeit zu Zeit stürzte eine der beiden Schwestern mit aufgelösten Zöpfen und rotglühenden Wangen aus dem Kampfgewühl heraus, um nach dem Männle zu sehen und ihm schnell einen Kuß zu geben. Er leuchtete so brav, immer ganz dicht bei der Balgerei; alle paar Augenblicke kam er durch irgend einen Stoß oder Tritt platt auf die Erde zu sitzen, beklagte sich jedoch nie, sondern stand so hurtig auf, als es ihm seine krummen Beinchen erlaubten, um ja den Kämpfenden mit seinem Lichtchen beizustehen.

Sie waren noch in heller Erbitterung, als plötzlich ein schriller, durchdringender Pfiff ganz in ihrer Nähe ertönte, ohne daß man des Nebels wegen jemanden gewahr werden konnte.

Augenblicklich ließen die Kinder einander los, und ihr Geschrei verstummte; jedes suchte nur schnell zusammen, was ihm gehörte; sie wußten, jetzt wurde die Sache ernst, ihr Richter kam, der große Zeitungsbub, den sie alle fürchteten; es sollte zwar eine Ehre für sie sein, wenn er sich zu ihnen gesellte, aber sie mußten sie gewöhnlich teuer bezahlen.

168 »Hoiho!« rief er sie an, »was giebt's, habt ihr Händel? warum?«

Eine der Schwestern nahm das Wort: »Weil sie dem Männle nie was giebt, drum sind wir auf sie los.«

»Hat sie was?«

»Jawohl,« schrieen sie alle.

»Und da soll der Männle herhalten,« höhnte er, »macht mir nix weiß, Lügenpack, ihr selber habt's gewollt – jeder hat's gewollt – schämt euch in Kreuzboden 'nein!«

Sie schwiegen alle, äußerst betreten, ihre geheimsten Gedanken an den Tag gebracht zu sehen.

»Wo ist's?« wandte sich der Große an die Angeklagte, »heraus damit, wenn ich's sag'.«

Da fing sie an zu heulen; all' die Schmerzen und Püffe; nicht einmal das Hutunglück hatte dieser robusten Natur Thränen zu entlocken vermocht, nun aber griff sie bitterlich schluchzend auf das Geheiß des großen Buben in ihre Tasche:

»Eine Feig' ist's« – preßte sie hervor.

»Eine einzige?«

»Auf Ehr' und Seligkeit.«

»Her mit dem Licht, Männle!«

169 Der Kleine wackelte herbei und stand wie ein Mäuerchen, während vor seinen Augen die Tasche der Großen ihres Inhalts entleert wurde; da kam zum Vorschein: ein zerknittertes Puppenkleidchen, einige leere Papierdüten, etwas schwärzliches fest zusammengeknäultes, was ein Taschentuch vorstellen sollte, ein zerbissener Federnhalter und eine Anzahl über und über beschmutzter Gelberüben.

»Pfui Teufel, ist das ein Babel,« sagte der 170 Große, angesichts dieser zweifelhaften Schätze, »du Schmierfink, du ekelhafter – halt,« schrie er auf, »da haben wir ihn, den Zankapfel!« und fischte zu unterst in der Tasche, aus einem Häufchen Staub und Sand, die Feige heraus, von der er sofort die Hälfte abbiß.

Ein Schrei der Entrüstung folgte dieser That.

»Der Männle, ja und der Männle,« zeterten die Schwestern, indem sie gleichzeitig und fast dem Weinen nahe, ihre Arme um den kleinen Bruder schlangen.

Die im Strohhut war blitzschnell über die Gasse gerannt, und als sie ein gutes Stück von den andern entfernt war, tönte ihre gellende Stimme aus dem Nebel heraus:

»Du, Großer, etsch ausgelacht, ich hab' doch noch eine Feig'!«

Einen Augenblick schien der Verhöhnte Lust zu haben, der Davoneilenden nachzurennen, da fiel sein Blick auf das Kind, das vor ihm stand und mit seinem Laternchen hinaufleuchtete zu dem Gegenstand, den er in der Hand hielt, und an dem die Augen des Kleinen mit rückhaltloser Sehnsucht hingen.

171 »Ja wohl,« sagte der große Bub, sich zu ihm niederbeugend, »da haben wir sie noch, die halbe Feig' – ausgezeichnet sag' ich dir, ganz ausgezeichnet – ah ah! Die schmeckt besser als zehn Herzlebkuchen, und du sollst sie auch bekommen, natürlich! Aber für umsonst in denen teuern Zeiten? Nein, das giebt's nit; da machen wir halt einen Tausch, gelt? Zum Beispiel, du giebst mir dein Laternle, und ich geb' dir meine Feig'; also, wie denken wir über den Fall, Alterle?«

Tiefe Stille; mit angehaltenem Atem, wie in Erwartung von etwas Ungeheuerlichem standen die Kinder da und lauschten dem Handel. Gegen die Gewalt des Großen, das wußten sie, war nicht aufzukommen, sie konnten nichts machen, wenn der Männle in seinem Unverstand sein Laternchen für die halbe Feige hingab.

Der Kleine seufzte laut: er stand da mit tief gesenktem Köpfchen, so daß sein Gesicht völlig im Schatten war und das Licht der kleinen Laterne nur den großen gelben Hoffnungsanker beleuchtete auf der breiten Fläche seiner Mütze. Das war ein Kampf! Nie in seinem Leben hatte Männle eine Feige gegessen, und nun sollte eine solche auch 172 noch besser schmecken als zehn Herzlebkuchen – und wie gut die waren, das wußte er aus Erfahrung. Das Wasser lief ihm förmlich im Mund zusammen, und er leckte die Lippe wie eine kleine Katze; schon streckte er die Hand nach dem Leckerbissen aus, da fiel ihm ein: Was aber wird die Mutter sagen, wenn ich ohne mein Laternle heimkomm'? Hatte sie ihn nicht einen Mann genannt und ihm ein Amt anvertraut? Wenn er nun diesem um einer Feige willen untreu wurde, würde die Mutter dann jemals wieder sagen, daß er sie einmal alle erhalten dürfe, wenn er groß und brav geworden sei?

»No, was besinnst dich lang?« fuhr ihn der Große ungeduldig an und griff nach dem Laternchen.

Hei, wie der kleine Mann ihn anblitzte, wie's mit einemmal zum Durchbruch kam, das einen Augenblick ins Schwanken geratene Bewußtsein seiner Standesehre! Krebsrot vor Zorn, mit einer Stimme, die wie ein Meßtrompetchen schmetterte, schrie er sein: »Dasch mei Amt! Dasch mei Amt!« Die Hand des Großen mit seinen beiden Fäusten heftig von sich stoßend.

173 »So?« sagte der, »dann schwub!« Und ließ die zweite Hälfte der Feige in seinen Mund wandern.

Ein langgezogenes grundverächtliches – Aber – ging durch die Reihen der Kinder, dann – ohne Ausnahme, stürzten sie über das Männle her, dem ein paar große dicke Thränen über die Wangen rollten.

»Sei nur still,« trösteten sie ihn, »du bist unser brav's Männle, du hast's ihm gezeigt – grein' nit, Männle, das ist keine Feig' wert – eine Feig' ist gar nix wert.«

Mit einem Hohngelächter, das aber nicht ganz echt klang, wandte sich der Große zum gehen, und merkwürdig – er kehrte auch nicht wieder um, obwohl ihm aus der Schar der Kleinen eine tief empörte Stimme nachrief: »Frißt im Männle die ganz' Feig' weg – so ein uralter Esel, da thät ich mich gerad' zu Tod schämen, wenn ich so einer wär'!«

 

 


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