Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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12. Eine Bleistiftskizze

Wenn Gefahren vorbei sind, ermißt man erst ihre Größe. Man wundert sich über sein Glück, wird blaß vor Furcht, die man hätte haben können, beglückwünscht sich, keine Schwäche gezeigt zu haben, und fühlt etwas wie ein überlegtes und abgeschätztes Entsetzen, das einem beim Handeln nicht überkommen war.

Das Pulver hatte unberechenbare Wunder getan, wie sie etwa der Blitz bewirkt.

Die Explosion hatte merkwürdige Dinge nicht nur an Kraft, sondern auch an Geschicklichkeit verrichtet. Sie schien ihre Schläge abgemessen und ihr Ziel gewählt zu haben. Sie hatte mit uns gespielt; hatte zu uns gesagt: Den da werde ich wegnehmen, nicht aber die, welche danebenstehen. Aus dem Erdboden hatte sie einen Schwibbogen aus Quadersteinen gerissen und ihn ganz so, wie er geformt war, auf den Rasen, in die Felder geschleudert, wo er wie eine von der Zeit geschwärzte Ruine lag. Drei Bomben hatte sie sechs Fuß tief in die Erde eingewühlt, Pflastersteine unter Kugeln zermalmt, eine Bronzekanone mitten durchgebrochen, alle Fenster und alle Türen in alle Zimmer hineingeschleudert, des großen Pulverturms Fensterläden über die Dächer ohne ein Körnchen Pulver weggetragen, zehn schwere Prellsteine wie eines umgeworfenen Schachbrettes Figuren weggerollt, die sie verbindenden Eisenketten wie einen Seidenfaden zerrissen und ihre Glieder zusammengeflochten, wie man Hanf zusammenflicht. Sie hatte den Hof mit zerbrochenen Lafetten aufgewühlt, die Steine mit Kugelpyramiden inkrustiert, und unter der Kanone, die dem zerstörten Pulverturme am nächsten war, das weiße Huhn, welchem wir am Vorabend zugesehn hatten, leben gelassen. Als die arme Glucke mit ihren Küchlein friedlich aus ihrem Neste herausspazierte, empfingen sie unsere guten Soldaten wie eine alte Freundin mit Freudenrufen und huben an, sie mit kindlicher Sorglosigkeit zu liebkosen.

Kokettierend wandte sie sich hin und her, sammelte ihre Kücken und trug ihren Federbusch und ihr silbernes Halsband nach wie vor. Es sah aus, als ob sie den Herrn erwarte, der ihr immer Futter gab, und, von ihren Küchlein umgeben, lief sie ganz verstört zwischen unsere Füße. Als wir ihr folgten, stießen wir auf etwas Schreckliches.

Vor der Kapelle lagen des armen Adjutanten Kopf und Brust ohne Leib und ohne Arme. Der Fuß, über den ich beim Kommen gestolpert war, gehörte ihm. Zweifelsohne hatte der Unglückliche dem Verlangen nicht zu widerstehen vermocht, seine Pulverfässer nochmals zu besichtigen und seine Granaten zu zählen, und sei es das Hufeisen seiner Stiefel, sei es ein rollender Kiesel, irgendetwas, irgendeine Bewegung hatte alles entzündet.

Wie ein Schleuderstein war sein Kopf mit seiner Brust sechzig Fuß hoch gegen die Kirchenmauer geschleudert worden, und das Pulver, womit die grausige Büste sich gesättigt, hatte ihre Form mit dauerhaften Strichen auf die Mauern gemalt, zu deren Fuß sie dann niederfiel. Wir betrachteten ihn lange und kein Mensch sagte ein Wort des Mitleids. Ihn beklagen, hätte etwa ausgesehen, als ob man Mitleid mit sich selber habe, da man die nämliche Gefahr gelaufen war. Nur der Stabsarzt sagte: »Er hat nicht gelitten.«

Für mich schien er noch zu leiden; aber trotzdem begann ich, halb aus unbesieglicher Liebhaberei, halb aus prahlerischer Offiziersherausforderung, zu zeichnen.

So etwas kann nur in einer Gesellschaft geschehen, die alle Empfindsamkeit abgeschafft hat. Eine der üblen Seiten des Waffenhandwerks ist solcher Kraftaufwand, bei dem man immer mit seinem Charakter großtun möchte. Man übt sich, sein Herz abzuhärten, man verheimlicht sich ängstlich die Pietät, da sie nach Schwäche aussehn könnte, man tut sich Gewalt an, sich das göttliche Gefühl des Mitleids nicht anmerken zu lassen, ohne daran zu denken, daß man, wenn man ein gutes Gefühl immer gefangen hält, das gefangene schließlich erdrückt.

In dem Momente kam ich mir sehr hassenswert vor. Mein junges Herz war vor Kummer über diesen Tod angeschwollen, und dennoch arbeitete ich mit hartnäckiger Ruhe an meiner Zeichnung weiter, die ich aufgehoben habe und die mir bald Gewissensbisse bereitete, weil ich sie herzustellen vermochte, bald mich an die eben niedergeschriebene Erzählung und dieses braven Soldaten bescheidenes Leben erinnerte.

Der edle Kopf war nur mehr ein Gegenstand des Entsetzens, eine Art Medusenhaupt, seine Farbe war die des schwarzen Marmors. Die Haare waren gesträubt, die Augenbrauen nach der Stirn hin hochgezogen, die Augen geschlossen, der Mund war offen, wie wenn er einen Schrei ausstieße. Auf dieser schwarzen Büste sah man das Entsetzen über die plötzlich aus der Erde emporsteigenden Flammen eingemeißelt. Man begriff, daß er Zeit zu solchem Entsetzen, das ebenso jäh war wie das Pulver, und vielleicht auch Zeit zu unberechenbaren Leiden gehabt hatte.

»Blieb ihm so viel Zeit, an die Vorsehung zu denken?« fragte mich Timoléon d'Arc...s friedliche Stimme. Mit einem Augenglase schaute er über meine Schulter hinweg beim Zeichnen zu.

Gleichzeitig bückte sich ein munterer, frischer, rosiger und blonder Soldat, um dem rauchgeschwärzten Stumpf seine schwarze Seidenbinde abzunehmen.

»Sie ist noch sehr gut«, erklärte er. Es war ein ehrenwerter Bursche aus meiner Kompagnie, namens Muguet, der zwei Winkeltressen am Arme trug; er zeigte weder Gewissensbisse noch Wehmut, war übrigens »der beste Junge von der Welt«. Das aber brachte unsere Ansichten zum Wanken.

Ein lebhaftes Pferdegetrappel lenkte uns schließlich ab. Es war der König.

Ludwig der Achtzehnte kam in einer Kalesche angefahren, um seiner Garde zu danken, weil sie ihm seine alten Soldaten und sein altes Schloß erhalten hatte. Lange betrachtete er die seltsame Lithographie auf der Mauer. Alle Truppen standen in Schlachtordnung. Er erhob seine starke und deutliche Stimme, um den Bataillonschef zu fragen, wer von den Offizieren und Soldaten sich ausgezeichnet.

»Jeder hat seine Pflicht getan, Sire!« antwortete Herr von Fontanges schlicht. Er war der ritterlichste und liebenswürdigste Offizier, den ich gekannt, ein Weltmann, der mir am deutlichsten zu Bewußtsein brachte, wie der Herzog von Lauzun und der Chevalier von Gramont gewirkt haben mochten.

Daraufhin holte der König anstatt Ehrenkreuze Goldstückrollen aus seiner Kalesche hervor, die er zur Verteilung an die Soldaten weitergab, und fuhr, Vincennes durchquerend, dann durch das Waldtor davon.

Die Reihen lockerten sich, die Explosion war vergessen; keiner dachte daran unzufrieden zu sein und keiner hielt sich für verdienstvoller als den anderen. Tatsächlich war es ja auch nur wie bei einer Besatzung gewesen, die aus ihrem Schiffe springt, um sich selber zu retten, das ist alles. Doch hab' ich geringere Heldentaten sich später sehr viel besser zur Geltung bringen sehen.

Ich dachte an des armen Adjutanten Familie. Doch ich allein dachte an sie. Wenn Fürsten irgendwo durchkommen, fahren sie gewöhnlich zu schnell.


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