Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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3. Das Familienkonzert

Als ich mich zurückziehen wollte, blieb ich mit der Hand auf der Türklinke stehen und lauschte voller Verwunderung einer Musik, die in ziemlicher Nähe war und aus dem Schlosse selber drang. Wie man sie durch's Fenster hörte, schien sie von zwei Männerstimmen, einer Frauenstimme und einem Pianino ausgeführt zu werden. Zu solcher Nachtstunde bildete sie eine süße Überraschung für mich. Ich schlug meinem Kameraden vor, ihr aus größerer Nähe zu lauschen. Die mit der großen parallel laufende kleine Zugbrücke, welche dazu da ist, Oberbefehlshaber und Offiziere bestimmte Nachtstunden über passieren zu lassen, war noch nicht hochgezogen. Wir kehrten ins Fort zurück und als wir in den Höfen umher streiften, wurden wir durch den Ton bis unter offene Fenster geführt, welche ich als die des guten alten Artillerieadjutanten erkannte.

Diese großen Fenster lagen im Erdgeschosse und als wir ihnen gegenüber stehen blieben, entdeckten wir hinten im Gemache dieses ehrenwerten Soldaten einfache Familie.

Im Hintergrunde des Zimmers stand ein kleines Mahagonipianino, das mit alten Messingbeschlägen verziert war. So alt und so bescheiden, wie er uns vorher vorgekommen war, saß der Adjutant am Klavier und spielte eine Folge von Begleitakkorden und einfachen Modulationen, die harmonisch schön miteinander verbunden waren. Die Augen blickten himmelwärts und er hatte keine Noten vor sich; entzückt unter seinem dicken weißen Schnauzbarte stand sein Mund halb offen. Seine zu seiner Rechten stehende Tochter wollte singen oder hatte grade aufgehört, denn wie er schaute auch sie mit halboffenem Munde beunruhigt himmelwärts. Ihr zur Linken hielt sich ein junger Unteroffizier der leichten Gardeartillerie, in dieses schönen Korps strenge Uniform gekleidet, und blickte das junge Wesen an, wie wenn er ihm unaufhörlich gelauscht hätte.

Nichts Friedlicheres gab es als ihr Beieinandersein, nichts Schicklicheres als ihre Haltung, nichts Glücklicheres als ihre Gesichter. Der Lichtstrahl, der von oben auf ihre Stirne fiel, beleuchtete keinen sorghaften Ausdruck, Gottes Finger hatte nur Güte, Liebe und Bescheidenheit auf sie geschrieben.

Das Rasseln unserer Säbel an den Mauern hatte sie auf unsere Anwesenheit aufmerksam gemacht. Der wackere Mann erblickte uns und über seine kahle Stirn flammte die Röte der Überraschung und ich meine auch der Befriedigung. Eifrig erhob er sich, nahm einen der drei Leuchter, die ihm Licht spendeten, schloß uns auf und ließ uns Platz nehmen. Wir baten ihn sein Familienkonzert fortzusetzen; und ohne sich zu entschuldigen und um Nachsicht zu bitten, sagte er mit edler Unbefangenheit zu den Kindern: »Wie weit waren wir ?«

Und die drei Stimmen erhoben sich mit unsäglicher Harmonie im Terzett.

Timoléon lauschte und verharrte regungslos; ich aber verbarg Kopf und Augen in den Händen und begann mit einer Rührung, die, warum weiß ich nicht, schmerzhaft war, zu träumen. Was sie sangen, führte meine Seele in Regionen glückseliger Tränen und Melancholien; und da ich vielleicht beharrlichen Gedanken zufolge meine abendliche Arbeit fortsetzte, verwandelten die beweglichen Modulationen sich für mich in bewegliche Gestalten. Was sie sangen, war einer jener schottischen Chöre, eine jener alten Bardenmelodien, in denen noch das sonore Echo der Orkneyinseln tönt. Für mich erhob sich leise dieser Chor und verflüchtigte sich plötzlich wie Nebel in den Gebirgen Ossians; jene Nebel, die sich über dem Perlschaum der Sturzbäche des Arven bilden, die sich langsam verdichten, sich aufzublähen und aufsteigend sich scheinbar zu einer zahllosen Menge von Winden geplagter und zerrissener Gespenster vergrößern. Krieger sind das, welche, die Pickelhaube auf die Hand setzend, stets träumen, und deren Träne und Blut Tropfen um Tropfen in die dunklen Gewässer unter den Felsen fällt. Da sind bleiche Schöne, deren Haare wie die Strahlen eines fernen Kometen den Rücken lang herunter wallen und an des Mondes feuchten Busen vergehn; sie gleiten schnell vorüber und ihre in ihrer weißen Gewänder duftigen Falten gehüllten Füße lösen sich in nichts auf; sie haben keine Flügel und fliegen doch. Harfen tragend, fliegen sie dahin, fliegen mit gesenkten Augen und halbgeöffnetem unschuldsvollem Munde; im Vorbeigleiten stoßen sie einen Schrei aus und verlieren sich steigend dann im sanften Lichte, das sie ruft. Da sind Luftschiffe, die gegen düstere Gestade zu stoßen und in gedrängte Fluten unterzutauchen scheinen: Berge neigen sich, um sie zu beweinen, und schwarze Doggen heben ihre unförmigen Köpfe auf und heulen lange, die Scheibe betrachtend, die am Himmel bebt, während das Meer der Orkneyinseln an weißen Säulen rüttelt, welche aufgereiht sind wie Pfeifen einer ungeheuren Orgel, die über den Ozean eine herzzerreißende Harmonie ausgießt, die tausendfach in der Höhle widerhallt, welche die Woge einschließt.

So deutete sich in düsteren Bildern die Musik in meiner noch recht jungen Seele aus, die aller Sympathie offen stand und wie verliebt in ihre erdichteten Schmerzen war.

Sie so zu empfinden, hieß übrigens auf die Seelenregung desjenigen zurückkommen, der die traurigen Gesänge ersonnen hatte. Die glückliche Familie selber empfand die starke Bewegung, die sie mitteilte, und tiefes Vibrieren ließ die drei Stimmen manchmal erbeben.

Der Gesang hörte auf und langes Schweigen folgte ihm nach. Wie ermüdet, hatte das junge Wesen sich auf ihres Vaters Schulter gestützt; sie war von hoher und wie von Schwäche etwas gebeugter Gestalt, war schlank und schien allzu schnell gewachsen und ihre etwas zarte Brust dadurch angegriffen zu sein. Sie aber küßte ihren Vater auf die kahle, breite und faltenreiche Stirn und überließ dem jungen Unteroffizier die Hand, die er an seine Lippen drückte.

Da ich mich aus Eigenliebe wohl hütete, meine inneren Träumereien laut einzugestehn, begnügte ich mich mit den kühlen Worten:

»Möge der Himmel denen, welche die Gabe besitzen, Musik in Worten auszudeutendem langes Leben und alle nur erdenklichen Wohltaten erweisen! Nicht eben gut kann ich einen Menschen verstehen, der einer Sinfonie als Fehler vorwirft, zu kartesianisch zu sein, und einer andern, zu sehr Spinozas Systeme zuzuneigen; der laut Einspruch wider den Pantheismus eines Trios erhebt und nicht glaubt, daß eine Ouvertüre zur Veredelung der breiten Masse beitragen könne. Wenn ich so glücklich wäre und wüßte, wie einen noch ein Versetzungszeichen mehr in der Vorzeichnung eines Flöten- oder Fagottquartetts zum begeisterteren Anhänger des Direktoriums als des Konsulats und des Kaiserreichs machen kann, würd' ich nicht mehr sprechen, sondern ständig singen. Worte und Phrasen würd' ich verachten, die höchstens nur für hundert Provinzen taugen, während ich mit meinen sieben Tönen meine Gedanken glücksdurchdrungen dem weiten Weltall klarzumachen verstünde. Da ich solcher Kunst aber ermangle, ist meine musikalische Unterhaltung so begrenzt, daß ich Ihnen nur mit ganz gewöhnlichen Worten meine Befriedigung auszudrücken vermag, die vor allem Ihr Anblick und das Schauspiel der unbefangenen und biederen Eintracht, welche in Ihrer Familie herrscht, in mir hervorruft. Was mir am meisten an Ihrem kleinen Konzerte gefällt, ist das Vergnügen, das es Ihnen selber bereitet: Ihre Seelen sind, scheint's, noch schöner als die schönste Musik, welche der Himmel je von unserer elenden, immer seufzenden Erde zu sich aufsteigen hörte.«

Voller Wärme streckte ich dem guten Vater die Hand hin und er drückte sie mit dem Ausdrucke ernsthafter Dankbarkeit. Er war nur ein schlichter Soldat, besaß aber in Sprache und in Benehmen, ich weiß nicht was vom ehemaligen feinen Tone der Welt. Die Folge klärte mich darüber auf.

»Solch ein Leben führen wir hier, Herr Leutnant. Wir: meine Tochter, ich und mein künftiger Schwiegersohn erholen uns im Singen.«

Gleichzeitig sah er die schönen jungen Leute mit einer von Glück hell erstrahlenden Zärtlichkeit an.

»Das«, fügte er mit ernsterer Miene hinzu, indem er auf ein kleines Porträt zeigte, »ist die Mutter meiner Tochter.«

Wir blickten auf die weißgekalkte Mauer des einfachen Zimmers und sahen dort wahrlich eine Miniatur, welche die anmutigste, frischeste kleine Bäuerin darstellte, die Greuze jemals mit großen blauen Augen und einem Kirschenmunde ausstattete.

»Eine sehr hohe Dame hatte vor Zeiten einmal die Güte, das Bild da zu malen,« erklärte der Adjutant mir; »ja die Geschichte aber von der Mitgift meiner Frau ist merkwürdig.«

Wir saßen um drei Absynthgläser herum, die er uns vorher in feierlicher Weise angeboten hatte, und auf unser inständiges Bitten hin, uns von seiner Heirat zu erzählen, hub er also an:


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