Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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11. Das Erwachen

Seit einer Stunde schlief ich; es war vier Uhr morgens; war der siebzehnte August, ich hab' es nicht vergessen. Plötzlich taten sich auf einmal meine beiden Fenster auf und alle ihre Glasscheiben fielen mit einem leichten silbernen Klirren, das sich hübsch anhörte, zerbrochen in mein Zimmer. Ich öffnete die Augen und sah einen weißen Rauch, der sacht zu mir hereindrang und, tausend Kränze bildend, bis an mein Bett zog. Ich schaute ihn mit etwas überraschten Augen an und erkannte ihn ebenso schnell an seiner Farbe wie an seinem Geruch. Ich lief ans Fenster. Der Tag begann mählich anzubrechen und erhellte das ganze alte unbewegliche und noch schweigsame Schloß, das von dem ersten Schlage, den es erhalten, noch betäubt zu sein schien, mit zarten Farben. Sah, daß sich nichts dort rührte. Nur der alte Grenadier, welcher auf dem Walle stand und dort wie üblich eingeschlossen war, lief ganz schnell mit der Waffe im Arm auf und ab, indem er nach der Hofseite blickte. Wie ein Löwe in seinem Käfig bewegte er sich.

Da alles noch still war, nahm ich an, daß eine Waffenprobe in den Gräben diese Erschütterung verursacht habe. Da ließ sich eine heftigere Explosion hören. Gleichzeitig sah ich eine Sonne aufgehn, welche nicht des Himmels Licht war und die sich über dem letzten Turme auf der Waldseite erhob. Ihre Strahlen waren rot; am äußersten Ende eines jeden gab's eine platzende Granate und vor ihnen einen Pulvernebel. Diesmal bebten der Hauptturm, die Kasernen, die Türme, die Wälle, die Dörfer und die Wälder, schienen von links nach rechts zu gleiten und wie ein Schubkasten, der geöffnet und geschlossen wird, sofort zurückzukommen. In diesem Momente konnt' ich mir einen Begriff von Erdbeben machen. Ein Klirren, wie es sämtliche durchs Fenster geworfene Sèvresporzellane der Welt hervorrufen würden, machte mir nur allzu begreiflich, daß von allen hohen Glasfenstern der Kapelle, von allen großen Glasscheiben des Schlosses, von allen Fenstern der Kasernen und des Fleckens nicht ein Stückchen Glas am Kitt haften geblieben war.

Der weiße Rauch zerstreute sich in kleinen Kränzen.

»Pulver ist sehr gut, wenn es Kränze wie jene da bildet«, erklärte Timoléon, der fertig angezogen und bewaffnet in mein Zimmer trat.

»Wir scheinen in die Luft zu fliegen«, sagte ich.

»Ich will nicht das Gegenteil behaupten«, erwiderte er kühl. »Bis jetzt gibt's dort nichts zu tun.«

In drei Minuten war ich wie er fertig angezogen und ausgerüstet und wir blickten schweigend das schweigende Schloß an.

Plötzlich schlugen zwanzig Trommeln den Generalmarsch; die Mauern erwachten aus ihrer Betäubung und Unempfindlichkeit und riefen um Hilfe. Die Arme der Zugbrücke begannen sich langsam zu senken und ließen sich an ihren gewichtigen Ketten auf dem anderen Grabenrande nieder; es geschah, damit die Offiziere hinein- und die Bewohner herausgehn könnten. Wir liefen nach dem Fallgatter; es öffnete sich, um die Starken aufzunehmen und die Schwachen von sich zu stoßen.

Ein seltsames Schauspiel wartete unser: alle Frauen und gleichzeitig alle Pferde der Garnison drängten sich am Tore. Im richtigen Instinkt der Gefahr hatten sie im Stalle ihre Halfter zerrissen oder ihre Reiter abgeworfen und warteten stampfend, daß sie ins freie Feld gelassen würden. Mitten durch die Frauentrupps liefen sie mit gesträubter Mähne, offenen Nüstern, roten Augen, sich gegen die Mauern aufrichtend, mit Entsetzen das Pulver riechend und ihre verbrannten Nasenlöcher in dem Sande verbergend, erschreckt wiehernd durch die Höfe.

Eine junge und schöne, in ihr Bettuch eingewickelte Person, der ihre halb angekleidete Mutter folgte, die von einem Soldaten getragen ward, ging als erste hinaus, und die ganze Menge folgte ihr. In diesem Augenblick erschien mir das als eine recht zwecklose Vorsichtsmaßregel, denn erst sechs Meilen von hier war ja der Erdboden sicher.

Wie alle im Flecken wohnenden Offiziere betraten wir laufend die Festung. Was mich als erstes überraschte, war die ruhige Haltung unserer alten Gardegrenadiere, die am Eingang als Posten aufgestellt waren. Gewehr bei Fuß, auf die Waffe gestützt, schauten sie mit Kennerblicken nach dem Pulverturme, ohne aber ein Wort zu sagen, ohne die vorgeschriebene Haltung aufzugeben; die Hand am Gewehrriemen. Mein Freund Ernest d'Hanache befehligte sie; er grüßte uns mit dem Lächeln Heinrichs des Vierten, das ihm eigentümlich war; ich gab ihm die Hand. Er sollte sein Leben erst im letzten Bürgerkriege verlieren, wo er rühmlich starb. Alle, die ich in diesen noch frischen Erinnerungen aufzähle, sind bereits gestorben.

Laufend stieß ich gegen etwas, das mich fast zu Fall gebracht hätte: es war ein Menschenfuß. Ich konnte nicht anders, ich mußte stehen bleiben und ihn ansehen.

»So wird's Deinem Fuß jetzt auch gleich gehn«, sagte ein Offizier, aus vollem Halse lachend, zu mir.

Nichts zeigte an, daß dieser Fuß einmal beschuht gewesen war. Einbalsamiert und erhalten war er wie bei Mumien; zwei Zoll oberhalb des Knöchels war er zerbrochen und sah aus wie die Statuenfüße, die man zum Studieren in den Ateliers hat; glatt war er, geädert wie schwarzer Marmor, rosig waren nur noch die Nägel. Ich hatte keine Zeit ihn zu zeichnen und setzte meinen Lauf bis in den letzten Hof vor die Kasernen fort.

Dort warteten unsere Soldaten auf uns. In ihrer ersten Überraschung hatten sie das Schloß angegriffen geglaubt, sich vom Bett an die Gewehrständer gestürzt und sich im Hofe zusammengeschaart, die meisten waren im Hemde mit ihren Gewehren im Arm. Fast alle hatten blutige Füße, die sie sich in dem zerbrochenen Glase verletzt. Stumm und untätig standen sie einem Feinde gegenüber, der kein Mensch war, und sahen voller Freude ihre Offiziere kommen.

Für uns bedeutete das zum Krater des Vulkans selber laufen. Er rauchte noch und ein dritter Ausbruch stand bevor.

Der kleine Turm des Pulvermagazins war aufgerissen und durch seine offenen Flanken sah man einen trägen Rauch wirbelnd aufsteigen.

War alles Pulver des Turmes verbrannt, blieb noch genug übrig, um uns alle in die Luft zu sprengen? Das war die Frage. Doch gab's da noch eine andere, welche nicht ungewiß war, daß nämlich alle Munitionswagen der Artillerie, die gefüllt und halb offen im Nachbarhofe standen, wenn ein Funke dorthin geriete, in die Luft fliegen würden, und daß der Hauptturm, welcher viertausend Zentner Kanonenpulver enthielt, Vincennes, seinen Wald, seine Stadt, sein Land und einen Teil der Vorstadt Saint-Antoine, die Steine, die Zweige, die Erde, die Dächer und die menschlichen Köpfe, mochten sie auch noch so fest sitzen, zusammen in die Luft sprengen würde.

Der beste Helfer, den Manneszucht finden kann, ist die Angst. Wenn alle in Gefahr schweben, schweigt jeder und klammert sich an den ersten Besten, der einen Befehl oder ein heilsames Beispiel gibt. Der erste, welcher sich auf die Munitionswagen warf, war Timoléon. Seine ernste und zusammengefaßte Miene wich nicht aus seinem Gesichte; mit einer Behendigkeit aber, die mich überraschte, stürzte er sich auf ein Rad, das schon in Brand geraten war. Da Wasser fehlte, löschte er ihn aus, indem er ihn mit seinen Händen, mit seiner Uniform und mit seiner Brust, die er dagegen preßte, erstickte. Anfangs hielt man ihn für verloren, doch als wir ihm zu Hilfe kamen, fanden wir das Rad geschwärzt und erloschen, seine Uniform verbrannt, seine linke Hand etwas schwarz bestaubt, im übrigen seine ganze Person unversehrt und ruhig. In einem Moment wurden alle Munitionswagen aus dem gefährlichen Hof gerissen und aus dem Fort heraus auf den Schießübungsplatz hinausgebracht. Jeder Kanonier, jeder Soldat, jeder Offizier spannte sich davor, zog, rollte und stieß die furchtbaren Karren mit Händen, Füßen, Schultern und mit der Stirne vorwärts.

Die Spritzen setzten den kleinen Pulverturm durch die schwarze Öffnung seiner Brust hindurch unter Wasser; er war auf allen Seiten rissig, schwankte zweimal nach vorn und nach hinten, spaltete dann wie die Rinde eines rissigen Baumes seine Flanken und deckte, rücklings umfallend, etwas wie einen schwarzen und rauchenden Ofen auf, in welchem nichts mehr erkennbare Form besaß, worin jede Waffe, jedes Geschoß sich in rötlichen und grauen Staub verwandelt hatte, welcher in kochendem Wasser verdünnt worden war. Eine Art Lava hatte sich aus Blut, Eisen und Feuer gemischt, ergoß sich in die Höfe und verbrannte das Gras auf ihrem Wege, Das war das Ende der Gefahr; nun brauchte man sich nur noch wiederzuerkennen und zu zählen.

»Das hat man in Paris hören müssen«, meinte Timoléon, mir die Hand drückend. »Ich will ihr zu ihrer Beruhigung schreiben. Hier gibt es nichts mehr zu tun.«

Er sprach mit keinem weiter und kehrte in unser kleines weißes Haus mit den grünen Fensterläden zurück, wie wenn er von der Jagd heimkäme.


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