Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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4. Des Adjutanten Geschichte: Die Kinder von Montreuil und der Steinmetz

»Sie müssen wissen, Herr Leutnant, daß ich im Dorfe Montreuil und von dem Herrn Pfarrer von Montreuil selber aufgezogen worden bin. Er hatte mich einiges vom gregorianischen Kirchengesang in den glücklichsten Zeiten meines Lebens, zu der Zeit nämlich gelehrt, wo ich Chorknabe war, dicke frische und kugelrunde Backen hatte, auf die jedweder im Vorbeigehen klopfte, eine helle Stimme, blonde gepuderte Haare und einen groben Leinenkittel und Holzpantinen besaß. Ich besehe mich zwar nicht oft im Spiegel, glaube aber, daß ich so nicht gerade mehr aussehe. Damals sah ich so aus und konnte es nicht über mich bringen, von einem scharfen und unharmonischen Klavecin zu lassen, welches der alte Pfarrer bei sich stehn hatte. Mit ziemlicher Richtigkeit schenkte ich ihm Gehör und der gute Vater, der früher in Notre Dame als Sänger und Lehrer von einförmigen Musikstücken einen Namen gehabt hatte, ließ mich ein altes Noten Abc lernen. Wenn er zufrieden war, kniff er mich in die Backen, daß sie blau anliefen, und sagte zu mir:

»Höre, Mathurin, Du bist zwar nur eines Bauern und einer Bäuerin Sohn, wenn Du aber Deinen Katechismus und Deine Solfeggien gut kannst und darauf verzichtest, mit der verrosteten Büchse zu Hause zu spielen, kann man einen Musiklehrer aus Dir machen; fahre nur so fort.«

Das gab mir frohen Mut, und ich schlug mit allen meinen Fingern auf die beiden armen Tastaturen los, bis deren Töne fast alle stumm waren.

Es gab Stunden, wo ich spazieren gehen und herumlaufen durfte; meine liebste Erholung war's aber, mich an den Rand des Montreuiler Parks zu setzen und mein Brot bei den Maurern und Arbeitern zu verzehren, die an der Versailler Allee, hundert Schritte vom Eingangstore, auf der Königin Befehl einen Musikpavillon bauten. Es war ein reizender Platz, den Sie zur Rechten an der Versailler Straße, wenn man ankommt, noch sehen können. Am äußersten Ende des Parks von Montreuil, inmitten einer von hohen Bäumen eingefaßten Rasenfläche, können Sie einen Pavillon sehen, der zugleich einer Moschee und einer Bonbonschachtel ähnelt; als man den baute, schaute ich zu.

Ich faßte ein kleines Mädchen meines Alters bei der Hand, das Pierrette hieß und das der Herr Pfarrer ebenfalls singen ließ, weil sie eine hübsche Stimme besaß. Die nahm ein dickes Butterbrot mit, welches ihr die Pfarrköchin gab, die ihre Mutter war, und wir schauten dem Bau des kleinen Hauses zu, das die Königin aufführen ließ, um es Madame zu schenken.

Pierrette und ich waren etwa dreizehn Jahre alt. Sie war bereits so schön, daß Leute auf der Straße stehen blieben, um ihr Liebenswürdigkeiten zu sagen; wie oft habe ich schöne Damen aus ihren Wagen steigen sehn, um mit ihr zu sprechen und sie zu küssen! Wenn sie ihr rotes Kleid mit aufgebauschten Seitenteilen und festanliegendem Gürtel trug, sah man deutlich, daß sie eines Tages mal eine Schönheit werden würde. Sie dachte sich nichts dabei und liebte mich wie einen Bruder.

Wir gingen immer zusammen aus; schon seit frühester Kindheit faßten wir uns stets, wenn wir gingen, bei den Händen, und diese Sitte hatte sich so gut bei uns eingebürgert, daß ich Pierretten in meinem ganzen Leben nie den Arm reichte. Unser ständiger Besuch bei den Arbeitern verschaffte uns die Bekanntschaft mit einem jungen Steinmetzen, der acht oder zehn Jahre älter war als wir. Er ließ uns auf einem Bruchstein oder auf der Erde neben sich Platz nehmen, und wenn er einen großen Stein zu zersägen hatte, goß Pierrette Wasser auf die Säge und ich faßte das andere Ende, um ihm zu helfen; auch war er mein bester Freund auf der Welt. Er besaß einen sehr friedlichen, sanften Charakter und manchmal war er ein wenig heiter, doch nicht oft. Er hatte ein kleines Lied auf die Steine, welche er bearbeitete, gemacht, und daß sie härter wären als Pierrettes Herz, wir alle drei mußten viel darüber lachen. Er war ein großer Bursche, der noch im Wachsen begriffen war, ganz bleich und schlotterig, mit langen Armen und Beinen; manchmal sah es so aus, als dächte er nicht an das, was er tat. Er liebe seinen Beruf, sagte er, weil er in aller Ruhe seinen Tagelohn mit ihm verdienen und dabei bis Sonnenuntergang doch an etwas anderes denken könne. Sein Vater, ein Architekt, hätte sich, wie, weiß ich nicht, um Hab und Gut gebracht, so daß der Sohn wieder klein anfangen mußte, und der hatte sich in aller Ruhe damit abgefunden. Wenn er einen großen Block schnitt oder ihn längs durchsägte, fing er stets ein neues Lied an, in dem ein ganzes Geschichtchen vorkam, das er immer in zwanzig oder dreißig Strophen dichtete, je nachdem es mit seiner Arbeit vorwärtsging.

Manchmal sagte er zu mir, ich solle mit Pierrette vor ihm auf und abgehn, und er ließ uns zusammen singen, indem er uns mehrstimmigen Gesang lehrte, dann machte es ihm Spaß, mich vor Pierretten, die Hand auf ihrem Herzen, hinknien zu lassen, und er schuf die Worte für eine kleine Szene, welche wir nachsprechen mußten. Das hinderte ihn aber nicht, sein Handwerk gut zu verstehen, denn es verging kein Jahr und er wurde Maurermeister. Mit Winkelmaß und Klöppel mußte er seine arme Mutter und zwei kleine Brüder ernähren, die manchmal kamen, um mit uns ihm bei der Arbeit zuzusehn. Wenn er all seine kleine Gesellschaft um sich versammelt sah, gab ihm das Mut und machte ihn fröhlich. Wir nannten ihn Michel; doch um Ihnen sofort die Wahrheit zu sagen, er hieß Michel Jean Sédaine.«


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