Alfred de Vigny
Die Abendunterhaltung in Vincennes
Alfred de Vigny

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1. Ehrenskrupeln eines Soldaten

An einem Sommerabend Achtzehnhundertneunzehn lustwandelte ich im Innern der Festung Vincennes, wo ich in Garnison stand, mit Timoléon d'Arc ..., welcher gleich mir Gardeleutnant war. Wie üblich waren wir zum Schießübungsplatz gebummelt, hatten einer Prallschußübung beigewohnt, friedlich Soldatengeschichten erzählt und angehört, über die Kriegsschule, ihre Entstehung, ihren Nutzen, ihre Fehler und über Menschen geplaudert, deren gelbe Hautfarbe dies geometrische Ackerfeld hervorgerufen hat. Solch bleiche Schulfarbe trug auch Timoléon auf der Stirne. Die ihn kannten, werden sich seiner regelmäßigen und etwas eingefallenen Züge, seiner großen schwarzen Augen und der geschwungenen Brauen, die sie überwölbten, sowie des so sanften und selten getrübten Ernstes seines Spartanerantlitzes erinnern. Bei unserer ausgiebigsten Unterhaltung an diesem Abend beschäftigte ihn Laplaces System der Wahrscheinlichkeiten aufs tiefste. Ich erinnere mich, daß er dies Buch, von welchem wir sehr viel hielten und mit dem er sich oft abplagte, unterm Arme trug.

Die Nacht sank herab oder entfaltete sich, besser gesagt. Voller Freude sah ich die von Ludwig dem Heiligen erbaute Kapelle und jenen Kranz bemooster und halbzerfallener Türme, die Vincennes damals zum Schmuck gereichten; der massive Hauptturm erhob sich über sie wie ein König unter seinen Garden. Die kleinen Halbmonde der Kapelle glänzten zwischen den ersten Sternen am Ende ihrer obersten Turmspitzen. Der frische und milde Waldgeruch drang über die Wälle zu uns herüber und bis auf die Rasenstücke der Batterien strömte alles einen Sommerabendduft aus. Wir saßen auf der großen Kanone Ludwigs des Vierzehnten und sahen schweigend einigen jungen Soldaten zu, welche ihre Kraft versuchten, indem sie abwechselnd eine Bombe am Griffende aufhoben, während andere zu zweit und viert mit aller Trägheit militärischen Müßiggangs über die Zugbrücke aus- und eingingen. Die Höfe waren angefüllt mit offenen und pulverbeladenen Artilleriemunitionswagen, die für die Truppenbesichtigung des kommenden Morgens fertiggemacht waren. Auf unserer Seite, bei dem Holztore, öffnete und schloß voller tiefer Unruhe ein alter Artillerieadjutant die sehr leichte Tür eines kleinen Turmes, Pulvermagazins und Arsenals, welches der Fußartillerie gehörte und mit Pulverfässern, Waffen und Kriegsmunition angefüllt war. Er grüßte uns im Vorbeigehn. Es war ein Mann von hoher, aber etwas gebeugter Gestalt. Seine spärlichen Haare waren weiß, sein Schnurrbart grau und buschig, er hatte ein offenes Gesicht, das robust und noch frisch, glücklich, sanft und klug ausschaute. Drei große Register hielt er in der Hand und prüfte lange Zahlenkolonnen darinnen. Wir fragten ihn, warum er wider seine Gewohnheit noch so spät arbeite. Er antwortete uns mit dem respektvollen und ruhigen Tone alter Soldaten, folgenden Morgens um fünf Uhr in der Frühe finde Generalinspektion statt; er sei für den Pulvervorrat verantwortlich und müsse ihn nachprüfen und seine Berechnungen zwanzigmal wieder von neuem anfangen, um sich den leisesten Vorwurf der Nachlässigkeit zu ersparen. Er habe die letzte Tageshelle dazu benutzen wollen, weil die Instruktion streng sei und nachts den Pulverturm mit einer Fackel oder selbst mit einer Blendlaterne zu betreten verbiete; er sei untröstlich, nicht Zeit gehabt zu haben, alles zu besichtigen, habe er doch nur noch einige Granaten zu prüfen. Er möchte sehr gern in der Nacht zurückkommen; und etwas ungeduldig blickte er den Grenadier an, den man als Wache vor die Türe gestellt und der ihn am Hineingehn hindern mußte.

Nachdem er uns diese Einzelheiten mitgeteilt hatte, ließ er sich auf die Knie nieder und blickte unter die Tür, ob dort auch nicht ein Spürchen Pulver läge. Er fürchtete, die Sporen oder Hufeisen der Offiziere möchten dort folgenden Morgens Feuer verursachen.

»Nicht das beschäftigt mich am meisten,« sagte er, wieder aufstehend, »sondern meine Register.« Und er betrachtete sie voller Bedauern.

»Sie sind zu gewissenhaft«, erklärte Timoleon.

»Ach, Herr Leutnant, wenn man bei der Garde steht, kann man es seiner Ehre wegen gar nicht genug sein. Einer unserer Kavallerieunteroffiziere hat sich vergangenen Montag eine Kugel durch den Kopf gejagt, weil man ihn ins Arrestlokal gesteckt. Ich aber muß den Unteroffizieren ein Beispiel geben. Seit ich bei der Garde diene, hab' ich mir seitens meiner Vorgesetzten nicht einen Tadel zugezogen und eine Bestrafung würde mich recht unglücklich machen.«

Diese wackeren Soldaten, welche in der Armee aus der Elite der Elite auserwählt sind, halten sich wahrlich um des geringfügigsten Fehles willen für entehrt.

»He, Ihr seid alle Puritaner der Ehre«, sagte ich, ihm auf die Schulter klopfend.

Er salutierte und zog sich in die Kaserne zurück, wo seine Wohnung war. Dann kam er mit einer Sitteneinfalt, welche anständigen Soldaten eigentümlich ist, zurück und brachte in seinen Handhöhlen Hanfsamen für eine Glucke, die ihre zwölf Kücken unter der alten Bronzekanone, auf der wir saßen, betreute. Es war das reizendste Huhn, das ich in meinem Leben gesehn habe; war ganz weiß, ohne einen einzigen Flecken, und der brave Mann mit seinen bei Marengo und Austerlitz verstümmelten Händen hatte ihm eine kleine rote Federkrone um den Kopf und eine kleine Silberkette mit einem Schilde mit seinem Namenszuge um die Brust geschlungen. Die gute Henne war stolz darauf und zugleich auch dankbar dafür. Sie wußte, daß die Schildwachen sie respektierten und hatte vor niemandem Furcht, nicht einmal vor einem Milchschwein und einer Nachteule, die unter der Nachbarkanone bei ihr untergebracht waren. Die schöne Henne war der Stolz der Kanoniere, von uns allen nahm sie Brotrinden und Zucker an, solange wir in Uniform waren; vor Zivilkleidern aber hatte sie Abscheu. Unter der Verkleidung kannte sie uns nicht mehr und floh mit ihrer Familie hinter die Kanone Ludwigs des Vierzehnten, eine prachtvolle Kanone, in welche die ewige Sonne mit ihrem nec pluribus impar und ihrer ultima ratio regum eingraviert war. Und nun hauste eine Henne darunter!

In wohlgesetzten Worten erzählte uns der gute Adjutant von ihr. Sie versorgte ihn und seine Tochter in grenzenloser Freigebigkeit mit Eiern, und er liebte sie so sehr, daß er nicht den Mut aufbrachte, ein einziges ihrer Jungen zu schlachten, da er sie zu betrüben fürchtete. Als er von ihren guten Eigenschaften erzählte, schlugen Trommeln und bliesen Trompeten zu gleicher Zeit zum Abendappell. Man zog die Brücken auf und die Pförtner ließen die Ketten klirren. Wir hatten keinen Dienst und gingen durch das Holztor hinaus. Timoléon, welcher in einemfort Winkel mit seiner Säbelspitze in den Sand gezeichnet hatte, war von der Kanone aufgestanden und trauerte, wie ich meiner weißen Henne und meinem Adjutanten, seinen Dreiecken nach.

Den Wällen folgend, wandten wir uns nach links und kamen so an dem Rasenhügel vorbei, den man dem Herzog von Enghien über seinem füsilierten Körper und seinem auf Pflastersteinen zerschmetterten Kopfe errichtet, gingen dann neben den Gräben her und betrachteten von dort aus den kleinen weißen Pfad, den der Herzog verfolgt hatte, um zu dem Graben zu gelangen.

Es gibt zwei Arten von Menschen, die sehr gut fünf geschlagene Stunden zusammen spazieren gehen können, ohne miteinander zu sprechen: es sind die Gefangenen und die Offiziere. Da sie dazu verurteilt sind, sich immer zu sehn, ist jeder, auch wenn sie alle vereint sind, allein. Die Hände auf dem Rücken gingen wir schweigend einher. Ich bemerkte im Mondenscheine, daß Timoléon einen Brief unaufhörlich hin und her drehte. Es war ein kleiner Brief schmalen Formats; ich kannte sein Format und seine Schreiberin, war ich doch gewöhnt, ihn tagtäglich über der feinen und eleganten kleinen Schrift träumen zu sehen. So waren wir denn dem Schlosse gegenüber im Dorfe angelangt, waren die Treppe unseres kleinen weißen Hauses hinaufgestiegen und wollten uns auf dem Flure unserer benachbarten Zimmer trennen, ohne daß wir ein Wort geäußert hatten. Da erst sagte er plötzlich zu mir:

»Sie will durchaus, daß ich meinen Abschied einreiche; was halten Sie davon?«

»Ich denke,« sagte ich, »sie ist schön wie ein Engel, weil ich sie gesehn habe; ich denke, Sie lieben sie wie wahnsinnig, weil ich Sie seit zwei Jahren so wie heute abend sehe; ich denke, daß Sie Ihren Pferden und Ihrem Aufwände nach zu urteilen ein recht hübsches Vermögen besitzen; ich denke, Sie haben sich genugsam bewiesen, um den Abschied nehmen zu können, was in Friedenszeiten kein großes Opfer ist; ich denke aber auch an eins ...«

»Was ?« fragte er, voll Bitterkeit lächelnd, weil er mich erriet.

»Daß sie verheiratet ist,« sagte ich sehr ernst; »Sie wissen es besser als ich, armer Freund.«

»Das stimmt,« sagte er, »keine Zukunft.«

»Und der Dienst ist doch dazu da, Sie das manchmal vergessen zu lassen«, fuhr ich fort.

»Vielleicht,« erwiderte er; »aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß mein Stern sich beim Heere ändert. Sehen Sie, alles was ich im Leben noch tat, blieb entweder unbekannt oder wurde übel gedeutet.«

»Allnächtlich würden Sie im Laplace lesen,« sagte ich, »wenn es kein Heilmittel für Sie gäbe.«

Und ich schloß mich in meinem Zimmer ein, um ein Gedicht über unsere eherne Maske zu schreiben, welches ich »das Gefängnis« nannte.


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