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16.

Langsam fuhr der Wagen von der Fangeuse fort der Chaussee zu; es spritzte der Morast um die Räder, es schwankte das hohe Gestell im schlammigen Moor. Aber man kam doch jetzt schon durch mit dem Jagdwagen. Und Josef war auch soweit, daß er, in Decken verpackt, darauf sitzen konnte.

Der Schluß des Märzes hatte ihm noch einen bösen Rückfall gebracht. Nun war der April da, ein lichter Himmel spannte sich übers Vennland. Aber wo anders würde der noch viel lichter sein! Josef sehnte sich, fortzukommen. An die Riviera.

»Immer Sonne, mehr Menschen, allerlei zu sehen, Musik, schöne Bilder, Jondelfahrten. Da kömmste auf andere Jedanken«, sagte Heinrich herzlich. Und Josef nickte dazu mit halb wehmütigem, halb hoffnungsfreudigem Lächeln: ja, da konnte Heinrich wohl recht haben.

Nur fort von der Fangeuse! Es litt ihn nicht mehr da, der Abschluß war zu schrecklich gewesen. Und ihm grauste auch, wenn er an die Tage der Schnee-Einsamkeit zurückdachte. Und doch wurde ihm das Scheiden schwer.

Bärb stand Abschied nehmend am Wagen. Sie sollte erst noch im Haus aufräumen, alles zuschließen und verwahren. Dann ging auch sie hinunter nach Heckenbroich, und die Schlüssel schickte sie dann dem Herrn Schmölder.

Sie weinte; mit der Linken hielt sie sich die Schürze vors Gesicht; ihre Rechte hatte sie zum Wagen hinaufgereicht, sie ruhte in Josefs Hand.

Er drückte sie ihr krampfhaft: »Leb wohl, Bärb!«

Sie schluchzte laut. Ach, es wurde ihr doch so arg schwer, fortzugehen vom Herrn Josef! Von der Fangeuse, wo sie so gute, ach, so sehr gute Tage gehabt hatte! Die ganze Nacht schon hatte sie mit Weinen verbracht. Es hatte ihr immer noch wie ein Traum gedünkt, wie ein recht böser, daß sie nun weg sollte von hier; aber nun mußte sie es ja glauben, es war wirklich Ernst.

In Josefs Gesicht zuckte es. »Bärb, wein doch nicht so! Bärb, sieh mich doch noch einmal an! Willst du mir denn nicht ordentlich Adieu sagen, Bärb?«

»Adjüs«, sagte sie halb erstickt. Aber ihr Gesicht ließ sie nicht sehen, sie preßte nur noch fester die Schürze dagegen.

»No, no, Mädchen!« Heinrich Schmölder beugte sich über den Wagenrand und klopfte der Schluchzenden gutmütig den Rücken. So ein hübsches Mädchen, und so anhänglich. Er war ordentlich gerührt. »Still, sei still, Kind! Warste denn so arg jern hier oben?«

Sie nickte krampfhaft.

»No«, sagte der Fabrikant und schmunzelte; es war ihm plötzlich eine famose Idee gekommen, die er auch auszuführen gedachte. Wenn die so arg gerne hier oben war, dann konnte ihr ja geholfen werden – und zugleich ihm selber. Tüchtig war sie, und es würde nett sein, in den Jagdtagen ein so allerliebstes Gesicht um sich zu sehen. »Weißt wat, Bärb«, sagte er vertraulich, »ich weiß 'ne jute Ausweg. Ich engagier 'nen jungen Förster für hier. Und den jungen Förster, den heiratst du! Wat, Bärb?!«

Nun ließ sie doch die Schürze vom Gesicht sinken. Ihre nassen, rotgeweinten Augen hoben sich fragend auf. »Is dat Euch Ernst?«

»Natürlich. Mein Wort!«

Da lächelte sie ein bißchen. Ein Erröten huschte über ihre blassen Wangen, sie flüsterte verschämt: »Wenn Ihr so jut sein wollt, Herr Schmölder!« –

Die Pferde ruckten an, der Kutscher konnte sie nicht länger halten, sie wollten fort von der zugigen Höhe, heim in den warmen Stall.

Ein Zungenschlag, ein Peitschenknall – zurück blieb die Fangeuse.

Solange man sie noch sehen konnte, solange wandte sich auch Josef zurück. Da stand noch immer die Bärb draußen vor der Hecke; versunken dahinter das Häuschen, und über allem ragend die Tannen.

Lebe wohl, Bärb! Josef sah ihr Kleid noch flattern, sie schirmte die Augen mit der Hand gegen die Weite und sah ihm nach. Er winkte: »Adieu, adieu!«

»Adjüs!« Das war ein heller und kräftiger Ruf. Jetzt riß sie die Schürze ab und ließ sie wehen. Wie eine lustige Flagge wimpelte das gestreifte Weiß und Rot.

Und nun kam eine Biegung, ein Erdwall – nun war alles verschwunden, die ganze Idylle. Nichts da, als das große, öde, gewaltige Venn. Der flüchtige Sonnenblick war schon erloschen, es durchschauerte Josef auch heute am Frühlingstag.

»Frierst du?« fragte der Vetter besorgt.

Josef gab keine Antwort. Was sollte er sagen? Heinrich würde ihn ja doch nicht verstehen. Und er traute es sich auch gar nicht zu, sich klar genug auszudrücken. Es fror ihn ja nicht nur körperlich, es fror ihm die Seele.

Seine Blicke irrten umher: wieviel Schweiß, wieviel Lebenskraft verlangte dieser Boden! Und würde er denn überhaupt je von schwarzem Moorland sich wandeln zu hellerem Gefilde? Die auf ihm arbeiteten, an ihm arbeiteten, waren ja Unfreie, Gebundene. Josefs Gedanken glitten schnell von den Häftlingen der Strafkolonie hin zu dem Bürgermeister von Heckenbroich: auch der war unfrei. Ein Befangener, ein Gebundener trotz allem und allem!

Da lag die Strafkolonie! Der Tag wurde grauer und grauer. Düsterer denn je dünkte Josef das einsame Haus, selbst das Rot des Daches schrie heute nicht hell und niemand war draußen zu erblicken. Josef seufzte. Aber dann war es wie ein Aufatmen: Gott sei Dank, sobald würde er das nicht wiedersehen!

Noch ragte das Kreuz der Marienley schwarz auf aus den schwarzen Tannen. Alles so düster, so schwer. Der Kutscher peitschte die Pferde. Rasch rollte der Wagen voran, und immer rascher hinab ins Tal.

*

Aus dem Haus der Strafkolonie kamen jetzt langsam Gestalten heraus. Sie standen draußen herum mit gesenkten Köpfen, die Mützen in den Händen.

Nun erschien Bräuer; ein zweiter Aufseher mit einer Flinte neben ihm. Sie schlossen den Stall auf, darin Holz und Torf aufbewahrt wurden – und heute noch etwas anderes.

»Voran«, sagte Bräuer. Er hatte eigentlich nicht mehr zu kommandieren, neben ihm war der Neue, der von morgen ab allein hier zu gebieten hatte. Aber alle sahen doch nur nach ihm.

Vier traten an; sie spuckten in die Hände, und dann hoben sie den Sarg, der auf ein paar zusammengebogenen Fichtenstämmchen im Stalle stand, heraus. Leise zählte einer: »Eins – zwei – drei, hebt – auf!« Schwer war die enge Tannenlade doch: wer hätte gedacht, daß der Rotfuchs noch so ein Gewicht haben könnte.

Mit zusammengebissenen Zähnen gingen die Träger, hinter ihnen zu zweien und zweien die übrige Schar. Sie alle folgten dem Sarg; zuletzt die beiden Aufseher.

Der Neue hätte den Gang gern benutzt, um sich noch über manches zu informieren, aber Bräuer blieb hartnäckig stumm. Er hielt die Hände vor sich gefaltet wie es die Sträflinge auch taten; manch einer von ihnen hatte einen Rosenkranz vorgesucht, nun rollten die Perlen.

Das Kreuz, das man sonst vor dem Sarge herträgt, hatten sie nicht. Aber der alte Landstreicher hatte eines zurechtgeschnitten aus glatten Stöcken und zusammengebunden; nun ging er damit voran, ernsthaft und andächtig. Es war ihm arg: ohne Beichte und Absolution, ohne noch versehen worden zu sein, war der Junge gestorben! Sie hatten ihn gefunden im Schlafsaal, tot im Bett, als das Morgenrot sie aus festem Schlafe weckte. Sie hatten gar kein Röcheln gehört. Weiß und kalt lag der Rotfuchs schon; die Hände hielt er ins Stroh gekrampft, wie Borsten standen ihm die Haare, und die härene Decke war voll Blut gespien. Einen Priester hatte man nicht mehr holen können.

Aber der Landstreicher hatte ihm wenigstens rasch noch die Hände ineinandergefaltet, ehe sie gänzlich erstarrten. Kruzifix und geweihte Kerze waren nicht zur Hand; er hatte nur das Kreuzeszeichen über ihm machen können. Dann war er an der Bettstatt niedergekniet und hatte laut zu beten angefangen, was ihm gerade einfiel; und wenn er nicht mehr weiter wußte, fing er wieder von vorne an.

Die anderen hatten lachen wollen über den alten Betbruder: was fiel dem denn ein? Aber dann hatte es sie doch gepackt: der Tod war unter ihnen – wer weiß, an wen es nun kam?!

Sie beteten emsig. Hoch reckte der Alte das Kreuz, sein stoppliges Gesicht schielte nach oben. Er betete vor: »Herr, erbarme dich unser!«

Als Echo wiederholte der Chor: »Herr, erbarme dich unser!«

»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

»Amen!« murmelte Simon Bräuer. Er senkte den Blick: nun war es aus! Morgen um diese Zeit war er schon weit von hier. Bald bei dem Thereschen! Aber keine Freude kam darob in sein Herz. Tief hing er den Kopf – vor ihm trottete die Herde – er kam sich vor wie ein Fahnenflüchtiger. Und doch, er mußte gehen!

Einen raschen, scheuen Blick warf er nach dem Sarg, der vor ihnen allen herschwankte, und dann senkte er den Kopf noch tiefer: vielleicht daß er wiederkam, wenn sie mitging, wenn er ein Haus für sie gebaut kriegte, nicht allzuweit ab, und wenn es ihr gefiel – dann vielleicht! Aber nur dann!

Langsam rückte der Zug voran. Die Träger wechselten häufig; es war ein schweres Gehen mit der Last durchs struppige Vennkraut. Nur der alte Landstreicher gab sein Kreuz nicht ab, er trug es mit Stolz und Hingebung. Bei jedem Windstoß, der über die Fläche fauchte, verstärkte er seinen betenden Ton: »Rette, o Herr, seine Seele!«

Und die anderen verstärkten den ihren dann auch. Weithin streute der Wind das betende Murmeln: »Laß ihn ruhen in Frieden!«

An der Grenze von Heckenbroich stand der Bürgermeister; er sah den Zug kommen und hörte das Beten. Er nahm den Hut ab, als sie vorüberzogen, Mann bei Mann, zu zweien und zweien, ein sich windender Wurm, der hinkroch durch den finsteren Tag nach dem Kirchhof von Heckenbroich. »Herr, gib ihm die ewige Ruh!« betete der Alte. Die anderen beteten nach: »Und das ewige Licht leuchte ihm!« »Uns allen!« flüsterte Leykuhlen.

Jetzt waren sie vorüber. Aber hinter ihnen ragte das Kreuz der Ley, das einzig Ragende auf der weiten Fläche. Das alles Überragende.

»Herr, gib ihm die ewige Ruh!« hörte man vom Friedhof her. Der Jacobs, der im Leben vergeblich nach der Ruhe gesucht, hat unten in der Eifelerde den Frieden gefunden und das ewige Licht leuchtet ihm.

*


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