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4.

»Et is 'ne Skandal«, sagte Bürgermeister Leykuhlen zu seiner Frau, als er auf dem Ledertuchsofa in der Stube den Sonntagsnachmittagskaffee trank.

Sie sagte nichts, sie strich ihm nur ein Stück Blatz, schenkte ihm noch einmal ein und setzte sich dann auf ihren Stuhl am Fenster. Da lag auf dem Nähtisch die Altardecke, die bald fertig sein mußte; an der sie stickte, oft halbe Nächte, damit die aufliegen konnte zu Pfingsten, wenn die Waller auszogen zu den Prozessionen nach Heimbach und Mariawald oder anderswohin zu heiligen Orten. »Et is 'ne Skandal, Marieche«, sagte Leykuhlen wieder, und dann, als sie noch nichts darauf erwiderte, zum dritten Male: »'ne Skandal, Marieche!«

Sie hob den Kopf und sah ihn einen Augenblick an: mit was war es denn ein Skandal? Sie wußte nicht genau, meinte er damit seinen jetzt ständigen Ärger mit dem Landrat, oder seinen Ärger mit den Gemeindeältesten, oder ärgerte ihn draußen das Wagenrollen und Hufegeklapper auf der früher stets so sonntäglich-stillen Straße?

Eben rasselte schon wieder ein Wagen vorüber.

»Das Fraumensch!« Der Bürgermeister fuhr vom Sofa auf. »Zapperlot, sind se denn alle jeck?«

Seit das Lager oben voller Militär lag, war dieses Vorbeirasseln des Bürgermeisters steter Ärger. Was ging es ihn an, wenn die Herren sich unten volltranken und ihre Taler ausgaben, als wären es Pfennige?! Aber das wurmte ihn, daß hier im Lande sich Eine finden ließ, die den Herren so gefällig war, daß die es sogar riskierten, sich die Hälse zu brechen, wenn sie toll und voll durch die Nacht heimritten oder -fuhren. Leykuhlen lachte zornig auf: das fehlte noch, daß sich noch mehrere fänden, die es der da unten nachmachten! Im Rücken die Sträflingskolonie – von der einen Seite das Lager – von der anderen die Helene – eine böse Umzingelung für Heckenbroich. Daß der Teufel alle miteinander hole!

»Du mußt nit so auf dat Lenche schelten, Bärtes«, sagte die Frau. »Janz allein is se't nit schuld. En lustige Flieg war die schon in der Schul. Aber hätten wir dat Lager nit herjekriegt, so wär dat doch nit so mit ihr jeworden. Dat Militär is dran schuld. Unsren Mädcher hier kucken se auch als nach. No, du sollst emal sehen, wat dat is, wenn die Soldaten hier längs kommen! Die Kerls lachen und pfeifen und werfen Kußhändcher, un uns Mädcher machen 'ne Hals – so lang! Du mußt et dem Herr Pastor sagen. Wo Militär hinkommt, da is auch leicht Malheur!« »No, Marieche, hätten wir den Militärübungsplatz nit hier oben und nit dat viele Jeld für unser Land jekriegt, wir hätten auch unsre neue Kirch nit bauen können, unsre schöne neue Kirch!«

Ja, freilich, die Kirche war schön, die war ein Werk, auf das man stolz sein konnte. Weit hinein ins Land ragte sie, ein stolzer Dom, stattlicher als manche Stadt sie aufwies, aber – ein leichtes Sinnen ging über der Frau Gesicht – hatte man denn nicht auch in der alten und kleinen Kirche gut beten können? Sie stand auf und legte mit einem Lächeln ihrem Mann die Hand auf die Schulter: »Bärtes, wenn ich darüber nachdenk, die Heilige Jungfrau, die Heiligen all haben uns auch in der alten Kirch jehört!«

Da sah er sie ganz bestürzt an: und das sagte sein Mariechen? Die kam ja bald mit dem Landrat überein, der ihm immer und immer zu hören gab, wieviel vernünftiger es gewesen wäre, lieber eine Wasserleitung zu bauen, eventuell ein Krankenhaus oder etwas anderes Gemeinnütziges. Er lachte bitter auf: Gelangt hatte das Geld doch nicht, Schulden waren doch noch übriggeblieben vom Kirchenbau. Aber Strich darunter und gesehen, wie man die Schulden abzahlte mit der Zeit! Er ärgerte sich heut fast zum erstenmal über sein Mariechen: wie konnte die so etwas Dummes sagen?!

Er verließ die Stube und ging eilenden Schritts über den Kirchplatz hinüber zum Pastorat. Beim Pastor, hinter der dicken Mauer, hörte man das verdammte Wagengerassel nicht so. –

Nicht nur zu Wagen und zu Pferd, auch zu Rad und zu Fuß kamen die Herren vom Schießplatz die lange Dorfstraße herunter. Man mußte hinunter, auf jeden Fall, es war zum Blödsinnigwerden oben auf der Heide, rein stumpfsinnig wurde man bei dem steten Einerlei. Soviel man auch schon vom Truppenübungsplatz hatte munkeln hören, so trostlos hatte man es sich doch da nicht vorgestellt. Das war ja ein Sibirien, eine Verbannung. Nichts als Venn, endloses Venn, Moor und Himmel. Und die Mädchen, die man ab und zu bei Ritten durch das Dorf vor Augen bekam, waren blöd und unzugänglich, stupide Kreaturen. Ein Glück nur, daß die lustige Witwe unten auf einen guten Keller hielt und auch auf die nötige Laune. Wenn die Helene nicht wäre, weiß Gott, man hätte sich aufhängen können am krummen Ast. Ein Teufelsweib!

Egon von Scheffler gab dem kleinen Abeking einige Verhaltungsmaßregeln. Sie hatten sich zusammen mit dem Stabsarzt und mit einem Leutnant, dem Abkommandierten Schmidt von den Deutzer Kürassieren, das Break vom Wirt von der Bahn gemietet; sämtliche Krümperwagen waren längst voraus vergriffen gewesen. Der Wirt würde zwar wieder gehörig schinden – o ja, es kam heute schon was zusammen mit der Rechnung bei Helenchen, aber – na, man mußte den Leuten doch was zu verdienen geben! Nicht nur Manieren, auch Geld brachte man in diesen entlegenen Erdenwinkel. »Das Militär ist ein Hauptfaktor der Zivilisation!« Exzellenz hatte das neulich in seiner Rede beim Liebesmahl im Kasino sehr energisch betont.

Abeking hatte anfänglich ein wenig beklommen dagesessen, er hatte weder soviel Geld wie der reiche Schmidt, der Sohn eines Großindustriellen, noch war er so leichtlebig wie der Adjutant von Scheffler. Aber die Sonne schien hell, Sonntag war's, und man konnte sich doch nicht gut ausschließen, wenn die soviel älteren Kameraden aufforderten. Und sein Herz klopfte, wenn er des schönen Weibes im »Weißen Schwan« gedachte. Es verdroß den jungen Leutnant immer, wenn er die anderen in so leichtem Ton von ihr sprechen hörte. Wenn ihnen Helene nicht salonfähig erschien, warum rannten sie denn alle hin?!

»Warum starren Sie so finster drein, Abeking?« fragte Scheffler und lachend sagte der Deutzer Kürassier: »Er ist schon eifersüchtig!«

»Keine Spur!« Der junge Leutnant bemühte sich, das ganz ruhig zu sagen, aber er warf die Lippen auf wie ein schmollender Knabe. Heiliges Kanonenrohr – die beiden Gewitzten blinzten sich zu – Abeking war wirklich ernsthaft in die Helene verliebt! Nun machten sie sich ein Vergnügen daraus, immer wieder und wieder von Helenchen zu reden. Alle die Liebhaber, die sie schon gehabt hatte – Militär und Zivil – wurden der Reihe nach aufgezählt. Der Stabsarzt hatte auch zu ihnen gehört; jedenfalls ließ er sich's ruhig gefallen, als man in der langen Reihe auch seinen Namen nannte.

»Abeking«, schrie Scheffler laut, um sich im Rasseln der Räder, die mit einem furchtbaren Lärm über die schlechtgepflasterte Dorfstraße rollten, verständlich zu machen, »nichts für ungut, einen famosen Geschmack haben Sie aber doch entwickelt. Beichten Sie mal, wie weit sind Sie denn mit ihr gekommen? Schreibt sie Ihnen auch schon Briefchen? Vorigen Sommer, der Radebruk, konnte ein paar Dutzend aufweisen!«

»Radebruk – Radebruk?!« stammelte der Eifersüchtige nach und sah wild um sich.

»Ja wohl, Radebruk, Hauptmann von Radebruk! Sie wissen doch, der bei den Saarlouisern!«

»Der –?« Abeking atmete erleichtert auf. »Der ist ja verheiratet!«

»Na, wenn schon!« Scheffler brach in ein Gelächter aus, und dann wechselte er mit den anderen beiden Herren Blicke: o diese Unschuld! Aber sie sagten nichts mehr, kränken wollten sie den jüngeren Kameraden denn doch nicht.

Nun waren sie auf weichem Boden, das Rädergerassel hatte aufgehört, das Dorf lag ihnen im Rücken; in großen Kehren schlängelte sich die Chaussee zwischen mächtigen Tannen und Mattengrün hinab zur Au. Die Landschaft war wild und doch lieblich, aber keiner der Herren im Wagen hatte heute ein Auge dafür.

Selbst Abeking nicht; wenn er auch nicht schlief wie der Stabsarzt und gelangweilt gähnte wie Schmidt und Scheffler, die eine Zigarette nach der anderen ansteckten. Er überlegte, wie er es anfangen sollte, mit der schönen Helene einmal allein zusammen zu sein. Ob er's versuchte, die anderen zu überdauern? Aber wie kam er dann wieder herauf, ins Lager zurück? Nun, so schlimm würde das nicht sein, zu Fuß einfach. Er hatte sie ja ewig nicht unter vier Augen gesprochen; seit dem Tode ihres Mannes überhaupt noch nicht. Er hatte ihr einen Kondolenzbrief geschrieben, ein schweres Stück Arbeit – kondolieren konnte man ihr ja eigentlich nicht – aber sie hatte ihm nicht darauf geantwortet. Hatte er sie etwa beleidigt dadurch? Sie war doch sonst stets für Offenheit, eine ehrliche Natur. Das imponierte ihm ja gerade so.

Ein Husten Schefflers und ein Schimpfen von Schmidt schreckten ihn aus seinen Gedanken auf; der Stabsarzt fluchte. Sie waren in eine Wolke von Staub geraten. Hier mußte die reine Völkerwanderung gewesen sein. Und nun kam auch noch ein Tuten den Berg herab. Wie ein Ungetüm sauste ein belgisches Automobil hinter ihnen drein, kaum daß der Bauernbursche auf dem Bock noch zur Seite lenken konnte. An den entsetzten Pferden flog es vorbei im Hui. Das fehlte auch noch, ein Auto! Und natürlich auch zur Helene – verdammt! Sie schimpften laut hinter dem Automobil drein, das längst nicht mehr zu sehen war, ihnen nur einen Benzingestank hinterlassen hatte.

»So fahren Sie doch, Kerl, fahren Sie zu in drei Teufels Namen!« brüllte der Adjutant den Kutscher an.

Der Wallone antwortete nicht, als verstände er kein Deutsch. Lange nach dem Automobilisten kamen sie im Städtchen an.

Im »Weißen Schwan« war es sehr lebhaft. Es hatten schon welche zu Mittag gegessen und waren jetzt, zwischen Mokka und Maibowle, beim Skat; andere wollten noch dinieren, viele bestellten schon Abendbrot. Und zu trinken, alle zu trinken.

»Unverschämter Kerl!« murmelte Scheffler, als der Kellner die Achseln zuckte: »Bedaure sehr, Herr Oberleutnant, hier ist alles besetzt«, zugleich aber mit vertraulich-bedeutungsvollem Augenzwinkern auf ein verstecktes Türchen neben dem Büfett wies.

»Wie der Herr, so's Gescherr«, sagte der Stabsarzt. Aber sie stapelten doch durch das versteckte Türchen in einen engen und dunklen Gang und durch diesen auf das heimliche Zimmer los.

Es war nicht leer, wie sie dies Privatgemach der schönen Helene zu finden erwartet hatten. Der kleine Sofatisch war in die Mitte gerückt, sechs Einjährige zwängten sich darum. Und zwischen ihnen, dicht Schulter an Schulter, die Ellenbogen auf den Tisch gestemmt, die schöne Helene. Eine Riesenbowle stand auf dem Tisch, der Sektkühler auf dem Boden – aha, die mußten es sich hier ja schon recht wohl haben sein lassen!

Vor dem musternden Blicke der Offiziere sprangen die sechs auf wie ein Mann. Hand an der Hosennaht, den Hals steif wie in Eisen, standen sie so stramm, wie sie nur konnten. Ihre vom Wein geröteten Gesichter wurden jetzt noch röter.

Der Adjutant winkte ab, aber er tat es mit geheimer Wut: grüne Jungens, wie konnten die sich unterstehen, sich hier so breit zu machen!

Helene saß auf ihrem Stuhl und lachte, lachte, daß sie sich schüttelte. Der Schreck von den armen Jungens! Haha, das war zum Totlachen, das war ein Spaß! »Hahahaha!« Sie konnte gar nicht aufhören mit Lachen. Keine Spur von Verlegenheit zeigte sie; Schefflers zornigen Blick mit einem ganz harmlosen erwidernd, sprang sie jetzt auf und auf die Neugekommenen zu: »Tag zusammen, Tag, Tag!« Dann machte sie den Einjährigen einen Knicks und zeigte ihnen lachend ihre weißen Zähne: »Adjüs, meine Herren!« Ihnen den Rücken kehrend und die Zungenspitze zwischen den Zähnen vorstreckend, sagte sie dann ziemlich laut: »Jott sei Dank, die Jüngeskens wurden mir als langweilig. No, Kinder, nu kommt!«

Die Tür mit dem Fuß aufstoßend und ihre Freunde vor sich hinausschiebend, schwatzte sie: »Laßt mir aber die armen Jüngeskens in Frieden, die wollten sich auch emal 'ne jute Tag machen. No, Herr von Scheffler, sind Sie bös mit mir, Sie kucken mich heut ja jar nit an?«

Er raunte verlegen und ärgerlich: »Ruhig doch! Du bist ja schon beschwipst!« Und laut sagte er: »Gehen wir lieber, meine Herren, hier ist ja kein Platz. Sehen wir zu, woanders unterzukommen!«

Das wollte Helene nun um keinen Preis zugeben. Ehe sie ihre Herren gehen ließ, schmiß sie lieber die Einjährigen, die dummen Jungens, heraus, so leid es ihr auch um die tat, und so gut die auch verzehrt hatten. Ihre Herren Offiziere ließ sie nicht. Fast weinend verstellte sie ihnen den Weg.

Abeking fühlte den Ärger hinschmelzen, den er empfunden hatte, als er sie so intim mit den Einjährigen hatte sitzen sehen. Aber Scheffler und Schmidt blieben hart, bis der Stabsarzt einen Vergleich vorschlug: »Die Helene hat in unsere Stube Fremde reingelassen, Einjährige noch dazu, zur Strafe darf die Helene sich heut an keinen anderen mehr kehren, sie muß sich verpflichten dazu, bei uns sitzenzubleiben. Und sie muß 'nen Schwank aus ihrem Leben erzählen – was, Helenchen, das paßt Ihnen so? Und trinken soll sie mit uns, 'ne Pulle Sekt trinken, was?«

»Och, warum denn nit? Jern!« Die hübsche Frau lachte hellauf. Sie blitzte mit ihren kecken Augen ihren einstmaligen Verehrer zärtlich an: »Wahrhaftigen Jott, der dicke Stabsarzt is doch noch der allernettste, jar nich jleich so krabitzig wie jewisse andere Leut!« Sie machte ein Mäulchen.

Der junge Leutnant hätte ihr am liebsten einen Kuß daraufgedrückt. Nervös zwirbelte er an seinem schüchternen Schnurrbärtchen, sein hübsches Gesicht wurde knabenhaft rot.

Scheffler und Schmidt aber waren gewiegte Diplomaten, so leicht ließen sie sich nicht herumkriegen, da mußte die Helene erst noch ganz andere Seiten aufziehen.

Es war ein langes Parlamentieren auf dem engen, fensterlosen Gängelchen zwischen Privatgemach und Eßsaal. Keiner konnte den anderen recht sehen. Aber Abeking glaubte zu fühlen, daß Helene sich dichter an ihn drückte, als suche sie bei ihm den nötigen Beistand. Verstohlen schob er den Arm hinter sie und legte ihn leicht um ihre Taille; da trat sie ihm bedeutungsvoll auf den Fuß. Der ganze enge Gang war voll von ihrer Wärme, ihre Röcke raschelten, ihr gekraustes Haar kitzelte ihn unter der Nase.

»Na, denn man los«, sagte Scheffler und stieß die Tür nach dem Eßsaal auf.

Aber wo sollten sie nun Platz nehmen? Helene schlug den Tisch draußen an der Haustür vor, der war noch frei, aber Scheffler sagte ziemlich unverblümt: »Verrückt! Ich werde mich doch nicht mit d...« das ›dir‹ unterdrückte er noch rechtzeitig und verbesserte: »mit meinem Wein auf die offene Gasse setzen!«

Helene hatte wohl gemerkt, was er eigentlich hatte sagen wollen, aber sie zeigte keinerlei Empfindlichkeit. Sie rief den Hausknecht, und er mußte die großen Efeuwände herbeischleppen, die, in Ermangelung eines Gartens, mit ihrem verstaubten Grün die Wände eines winzigen dumpfen Höfchens maskierten. Jetzt wurden sie vor dem Tisch auf der Gasse gestellt, man saß dahinter wie in einer versteckten Laube. Und sogleich war die nötige Stimmung hergestellt. Der übelgelaunte Scheffler ließ seine Mißstimmung fahren, Schmidt erzählte Anekdoten aus seiner Vaterstadt Köln, nicht gerade salonfähig, und der Stabsarzt, ein Pommer, blieb an Derbheit nicht zurück. Der kleine Leutnant verwunderte sich, daß Helene darüber so lachen konnte. Nun, sie war eben noch recht naiv, verstand er doch sogar die Pointen nicht einmal alle.

Um die hochgegiebelten alten Schieferdächer mit ihren vorgebauten Bodenluken, zu denen einst der überall auch jetzt noch vorhandenen Kranen die Warenballen aufgehißt hatte, fingen die Fledermäuse an zu flattern. Nur oben auf der Kirchhofsley lag noch Sonnenglanz – man sah die Kreuze der Gräber scharfumrissen in den Äther ragen – hier unten in der Gasse vor der Wirtshaustür war es schon ganz dämmerig. Das helle Gesicht der Frau über dem schwarzen Trauerkleid schimmerte nur mehr wie ein weißer Fleck.

Den jungen Offizier fröstelte es plötzlich wie damals, als er hier zum Begräbnis gewesen war – sterben, ah, schrecklich! Ob denn keiner an den einstmaligen Wirt mehr dachte? Der lag nun dort oben, und seine Frau lachte hier unten. Wie rasch man vergessen wird! Er dehnte sich mit einem Seufzer, lehnte im Stuhl hintenüber und starrte in die Höhe. Der Abendstern zeigte sich im Gewölk, aber er rutschte gleich fort, hinter das alte Burggemäuer. Kein Stern stand hier über diesem Haus.

»Sind Sie müd, Herr Leutnant?« Helene legte ihm die Hand auf den Arm.

Er war blaß geworden; nun erschrak er: »Ah, Pardon, was sagten Sie?«

»Ob Sie müd sind?« Ganz nah reckte die Frau ihr lächelndes Gesicht an das seine. Unterm Tisch fühlte sie nach seiner Hand. Er preßte die ihre mit heftigem Druck und behielt sie in der seinen.

Was fehlte ihm denn? War er schon betrunken oder war er plötzlich toll geworden? Die älteren Kameraden sahen nach ihm hin.

Abeking war aufgesprungen. Das Sektglas hochhebend, den Kopf hintenüber geworfen, rief er laut: »Ein Pereat den Toten! Wir leben und lieben – prost, schöne Frau, auf Ihr Spezielles!«

»Pröstchen, pröstchen!« Die Sektgläser klingelten.

»Sie sind ja en ganz höll'schen Kerl«, sagte der Pommer.

Helene fühlte sich sehr geschmeichelt, sie zeigte ihre weißen Zähne: das war mal ein netter Junge, den sie wohl leiden mochte!

Sie waren schon mit der zweiten Flasche zu Ende. Helene klatschte in die Hände, da erschien auch bereits die dritte, in Eis gekühlt.

»Wenn das so weiterjeht, sind wir all voll bis Mitternacht«, sagte der Kölner.

»Ich empfehle mich für ein halbes Stündchen, meine Herren!« Scheffler stand auf. »Ich muß noch einen Besuch machen. Ich habe es versprochen. Ich muß mich erkundigen, wie den Damen Schmölder ihr neulicher Besuch zur Besichtigung des Lagers bekommen ist!« Er grüßte leicht die Kameraden, drohte Helene mit dem Finger und ging dann davon, schneidig, eine elegante Offizierserscheinung.

Der Stabsarzt und Schmidt spöttelten hinter ihm drein: der ging auf Freiersfüßen! Na, der Schwiegervater in spe würde auch keine besondere Freude haben, wenn er mit dem roten Kopf ankam! Und so spät war's! Aber freilich, hier brauchte man's nicht so genau zu nehmen – Entfernung, Dienst, Überbürdung selbst am Sonntag – es ließen sich soviel Entschuldigungen finden. Die Leutchen freuten sich am Ende immer noch, wenn der schöne Adjutant von Scheffler erschien!

»No«, sagte Helene und warf die Lippen auf, »dat weiß ich doch noch nit so jenau. Der Heinrich Schmölder is lang nit so dumm, als wie ihr denkt. Der weiß janz jenau, dat et auf sein Portemonnaie abjesehen is. Der Ladewig, der Ladewig –« sie fing plötzlich an zu singen – »de hat dat jrößte Portemonnaie!«

Keiner machte »sst!« Nun Scheffler fort war, nahmen sie gar keine Rücksicht mehr. Die Helene hatte sowieso schon einen Spitz, und dann war sie am alleramüsantesten. Bald war die dritte Flasche Sekt geleert. Nun trank man Bowle.

Währenddes saß der Adjutant bei Schmölders. Die Familie hatte sich eben zum Abendbrot setzen wollen, er wurde eingeladen, mitzuspeisen. Es gab Rehbraten; Herr Schmölder hatte das Reh selber geschossen, er war ein großer Nimrod. Oben der Waldbestand um die Fangeuse war sein eigenes Revier, leider nur ein zu kleines; er hätte gern alles andere drum herum noch dazu gepachtet. Aber ein Teil des Forstes gehörte dem Fiskus, der andere der Gemeinde Heckenbroich, und die forderte ja jetzt eine Pacht – eine Pacht! Schmölder zitterte vor Ärger, als er dem Offizier von den habgierigen Bauern erzählte.

»Da is der Leykuhlen dran schuld, niemand anders als der – für ein Butterbrot hat sie mein Vater früher jehabt – aber der, der möchte Jott weiß wieviel Jeld zusammenschrappen, nur um die Schulden zu bezahlen, die sie haben von dem verfl... Kirchenbau her!«

»Aber Schmölder!« Ganz erschrocken starrte ihn seine Frau an.

»No ja« – er lenkte ein, als er das entsetzte Gesicht seiner Frau und die flehenden Blicke seiner Tochter sah – »na, was ich sagen wollte! No ja, seit die Bauern oben die Riesenkirche jebaut und sich deswegen Schulden auf den Hals jeladen haben, soll ich der dumme Peter sein, der sich von ihnen über den Löffel barbieren läßt. Aber ich biete nit mit bei der Jagdversteigerung, sie werden ja sehen, wie sie sitzenbleiben!«

»Das ist aber doch schade, zu schade um die famose Jagd!« Herr von Scheffler bedauerte lebhaft: das war nun entschieden eine Lockung weniger. Und dann dankte er mit verbindlichem Lächeln der Frau des Hauses, die ihm noch einmal Rehbraten anbot: »O nein, ich esse gar nicht wenig, aber bei der Hetzerei oben gewöhnt man sich eben das Essen ein wenig ab. Man hat ja nie Zeit!«

»Haben Sie denn soviel zu tun, Herr Oberleutnant?« fragte errötend Hedwig. Sie errötete heute in einem fort. Ohne jeden Grund, wie Josef feststellte. Sie gefiel ihm heute gar nicht. Wie konnte ein Mädel wie Hedwig, das mal gewiß seine drei, vier Millionen kriegte und vor allem ein gutes, hübsches Kind war, gleich so den Kopf verlieren, wenn eine bunte Jacke mit aufgewichstem Schnurrbärtchen auf der Bildfläche erschien? Das war doch zu dumm!

Wenn auch beide Vettern Schmölder mit ziemlich verdrossenen Mienen die brillante Unterhaltung des Leutnants über sich ergehen ließen – er sprach von Bällen, von Ritten, von Vorgesetzten, von Kameraden, von Pferden, von Avancement – die Tochter errötete, lächelte und strahlte. Und auch die Mutter schien lebhaftes Wohlgefallen an dem hübschen Offizier zu finden; das war doch ein ernsthafter, tüchtiger, liebenswürdiger Mensch, aus gutem Hause, und trotz seines Adels strebsam und solide gesinnt!

Scheffler empfahl sich bald nach dem Abendbrot. Er bedauerte unendlich, aber morgen in aller Frühe schon Dienst, er hatte nur nicht versäumen wollen, in der ihm so knapp bemessenen Zeit den Damen wenigstens seine Aufwartung zu machen. Mutter und Tochter gaben ihm das Geleit bis zur Gartentür.

Der Vater war abgerufen worden; der Verwalter oben von der Fangeuse war da, er hatte den Herrn Schmölder dringend zu sprechen verlangt.

Josef war hinter den Damen hergeschlendert. Kein Mensch kümmerte sich um ihn; er kam sich überzählig vor.

Er war verdrießlich, unangenehm von allem berührt; so tödlich gelangweilt vom Geschwätz am Abendtisch, daß er am liebsten auf und davongelaufen wäre. Aber wohin? Kein Geld, keine Stellung, kein Platz, der sein eigen war. Und das Geschwätz ging an der Gartentür noch immer fort! Zornige Ungeduld übermannte ihn.

Des Leutnants Rede ergoß sich. Kusine Schmölder sagte nur zuweilen: »ah« und »oh« und »wie nett!«, und das kleine Mädchen lachte glückselig-verlegen dazu.

Josef drehte kurz um und ging ins Haus zurück. Lieber den Garten missen, als sich so die Laune verderben lassen! Pfeifend, die Hände in den Taschen seines braunen Sommerjacketts, schlenderte er ins Wohnzimmer.

Da saß Heinrich auf dem Sofa in seiner alten grünen Tuchjoppe, und der Mann von der Fangeuse stand vor ihm und drehte verlegen seinen Hut in den Händen.

»Also, kurz, warum kündigt Ihr mir?« sagte Schmölder knapp. »Macht nit soviel Worte – also warum?«

»Herr Schmölder, Ihr müßt entschuldigen, et wird mir schwer, Euch zu kündige, Herr Schmölder. Ich war ooch janz jern oben, ich hatt nit zu klage. Äwer dat Settche will't nu absolut nit meh, et wär ihm zu abjelegen do. Un der Schulweg is zu weit für unsren Jung. Im Winter kann de ja jar nit hinjehn. Un zu Ostere kömmt uns' Mädche auch nach Schul. Drei Jahr han mer't da oben usjehaalde, länger als de Vorige do bliewen is. Bis Heckenbroich is et zu weit, jut drei Stund han mer't nach der Kirch. Und nit einen Erdappel könne mer ziehn, die Säu wühlen alles um. Un der Hirsch kömmt bis in 'n Jarten – Herr Schmölder, Ihr habt doch selwer einen jeschosse aus unsrem Kammerfenster. Nix für ungut, Herr Schmölder, ich hätt Euch nit jekündigt, äwer dat Settche will absolut nit meh bliewe. Et sagt, wir sind zu weit von Kirch und Schul, dat jeht nit meh mit dene Kinder!«

»Zum Kuckuck, so laßt se doch nit nach Kirch un Schul gehen«, schrie Schmölder. War das eine Art, ihm zu kündigen, einfach weil es dem dummen Weibsbild nicht mehr paßte? Einen Menschen mußte er doch da oben im Moorhaus haben. Wenn er zur Jagd heraufkam, im Winter auf Sauen, im Sommer auf Böcke, im Herbst auf Hirsche, da wollte er doch sein Bett gemacht haben, geheizt und den Kaffee gekocht.

»Ich will Euch wat sagen, Jilles«, lenkte er ein, »ich will Euch zulegen, pro Monat zehn Mark, macht auf't Jahr hundertzwanzig – einhundertundzwanzig Mark! Mann, dat is en Wort! So, und nu is et jut!«

Er schien die Sache für abgemacht zu halten, aber der Mann von der Fangeuse räusperte sich und blieb noch stehen. In hilfloser Verlegenheit zerknüllte er seinen Sonntagshut. Über sein hartes Gesicht zuckten Begehren und Abneigung: einhundertundzwanzig Mark, das war ein Stück Geld! Er sah nieder an seinem ärmlichen Rock.

»Herr Schmölder«, sagte er gedrückt, aber nach und nach wurde seine Stimme sicherer, »ich kann nit, wahrhaftijen Jott, et jeht nit. Dat Settche kriegt dat arme Tier. Nit Kirch, nit Laden, nit Straß, zweimal die Woch nur der Briefdräger; un dann un wann emal 'ne Camis', außer dem Grenzjäger sonst kein Mensch. Un kömmt doch mal einer, muß man de Dür noch verschließe. Wer weiß, ob et nit einer von denen da is!« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter und machte ein verächtliches und zugleich doch verängstetes Gesicht. »Seit die im Venn sind, könne wir nit meh ruhig schlaafe. Kömmt letzthin 'n Kerl, stößt de Tür auf un sagt: ›Jude Morje!‹ Un ob er en Flasch Bier krieje könnt! Mutterseelenallein war dat Settche zu Haus, die kriegt 'n Schrecken, Herr Schmölder, de Kerl wollt nit jehn.« Er machte eine Pause und sah erwartungsvoll seinen Herrn an: was würde der nun sagen?

»Nun – und?« Josef, der, am Büfett lehnend, alles mit angehört hatte, beugte sich interessiert vor. »Nun?!« War das wirklich so ein armer Teufel von Sträfling gewesen, hatte es einer riskiert, auszurücken, der Grenze zuzueilen?!

»Et war nur en Torfstecher, ich kam drüber heim«, sagte der Mann. »Äwer et konnt doch jrad so jut einer von denen do sein, en Räuber oder Mörder. Nee, nee, Herr Schmölder –« ganz energisch schüttelte er den Kopf, »sucht Euch 'nen anderen, 'n Abend zusammen!« Er setzte seinen zerknüllten Hut auf und trabte rasch aus dem Zimmer.

Heinrich Schmölder öffnete schon den Mund, ihm noch einmal nachzuschreien, aber dann besann er sich: ein Schmölder bittet doch so einen dummen Kerl nicht! »Da haben wir's«, sagte er grimmig laut und schlug auf den Tisch, »muß uns die verdammte Regierung auch ihre Verbrecher so auf die Nas' pflanzen! Natürlich, wegen der Nachbarschaft bleibt mir der Jilles nit! Verdenken kann ich et ihm nit mal. Dem Landrat werd ich aber meine Meinung sagen, der soll mir noch kommen mit seiner Kolonisation! Was fang ich nu an?«

»Heinrich, setz mich doch hin«, sagte Josef rasch.

»Dich –?!« Schmölder sah den Vetter an, als habe der gesprochen: ›Setz mich auf den Mond.‹ »Laß doch die Dummheiten«, sagte er unwirsch. »Ich mach jetzt nit Spaß, ich bin wirklich in Verlegenheit. Janz leer stehen kann ich die Bude nit lassen, un hin jeht mir so leicht keiner.«

»Heinrich, es ist mein Ernst!« Josef war näher herangetreten und legte ganz entschlossen und kräftig die Hand auf den Tisch. »Setz mich dahin, ich gehe mit Freuden!«

»Och, du bist ja verrückt!« Heinrich sah Josef an und lachte dann unbändig: »Wieder janz de Josef! Immer wat Neues, und dann kein Bestand! Nee, da laß du die Finger von. Die Fangeuse hat et an sich; da will sich keiner bejraben. Schnee im Winter, zum Ausschaufeln hoch, ewige Stürme von der belgischen See her. Und im Frühjahr Wasser im Venn fast bis an 't Haus! Du hast jar keine Ahnung, mein Sohn!« Mit einem geringschätzigen Blick maß er des Vetters etwas schwächliche Gestalt. »Bist du überhaupt schon mal oben jewesen auf der Fangeuse? Nicht?!« Josef hatte verneint. »No, dann halt's Maul jefälligst! Am liebsten schlüg ich die Barack los mit allem, wat drum und dran is, die janze Fangeuse! Wenn nur nit die Jagd da so jut wär!«

»Heinrich, ich sage dir noch einmal, ich ziehe hinauf«, sagte Josef bestimmt. Es war ihm plötzlich heilig ernst um seinen Entschluß. »Ich fühle mich hier höchst überflüssig. Und ob ich das Gnadenbrot nun da oder dort esse, kann dir doch gleich sein. Mir aber wird es nicht so – so –« er suchte nach einem Ausdruck – »nicht so drückend sein, wenn ich weiß, daß ich doch irgend etwas dafür leiste. So gut wie ein anderer kann ich auch aufpassen dort. Heinrich, laß mich doch!« Es war ihm, als hinge seine Seligkeit davon ab. Die Fangeuse – Fangeuse – die Sumpfige, wie geheimnisvoll das klang! Nein, ihm graute nicht vor Sumpf und Einsamkeit. Ihm würde es eine Erlösung sein, nur Moor und Tannen und segelnde Vennwolken, endlich einmal keine Menschen im Alltagskleid! Seine Stimme wurde immer dringender: »Heinrich, du sollst sehen, da halte ich aus, das ist was für mich! Ich liebe die Natur, ich verstehe die Natur, sie beruhigt mich, sie beglückt mich!« Er redete sich immer mehr in Begeisterung hinein, sein Gesicht rötete sich, die Augen leuchteten ihm.

»Das is alles exaltierter Blödsinn«, sagte Heinrich Schmölder trocken, »daraus kann nix werden. Du mußt schon wo anders Beglückung und Beruhigung suchen!« Das plötzlich matt und blaß werdende Gesicht vor ihm ließ ihn jedoch seinen Spott aufgeben. »Alter Jung, red dich doch nit in so was herein! Wenn du jern ein bißchen heraus willst, kannst du ja mit der Sophie und der Hedwig diesen Sommer vierzehn Tage nach Ostende reisen. Jeh meinetwegen mit, chaperonniere sie! Was denkst du, wer soll dir denn auf der Fangeuse haushalten? Du mußt doch essen und trinken. Un wer soll dir das Bett machen und die Stub kehren? Und wenn ich komm zur Jagd, wer soll mir das Bett machen und mir was zu essen kochen, he? Das kannst du doch auch nit!«

»Nein, das kann ich nicht.« Kleinlaut ließ Josef den Kopf hängen. »Selbstverständlich müßte ich eine Person haben, eine Magd, die das alles besorgt.«

»Such dir eine!« Heinrich Schmölder lachte schallend auf. »Und wenn du eine hast, dann kannst du auf die Fangeuse ziehen!«


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