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11.

Nun war das Pfingstfest vorüber. Gestern war die Bärb gesprungen zu Echternach, und heute schon glaubte Frau Huesgen die wohltätige Wirkung zu verspüren. Sie fühlte sich frischer.

Von dem Sonnenschein des Festes lag noch über Hecken und Halden. Die Kinder zirpten wie sommerfrohe Spatzen zwischen den Hecken, sie hatten erst morgen Alltag, wenn die Schule anfing. Die kleinen Huesgens waren zur Eisenbahn gerannt, um die Schwester abzuholen; sie belagerten den Bahnsteig, bis der Zug aus St. Vith ankam. Aber Bärb war nicht darin. Das war eine Enttäuschung. Ein Teil der Kinder lief heim, um der Mutter zu verkünden, daß die Bärb nicht gekommen sei; die anderen blieben unten am Bahndamm sitzen, flitschten Steine in den vorüberquirlenden Fluß und warteten geduldig. Es kam ja noch ein Zug von St. Vith, freilich erst gegen Abend.

Kathrinchen war nicht bei den Geschwistern. Sie hütete. Bartholomäus Adam, der Nachbar am grünen Klee, hatte viel Vieh, und der hatte sie gedungen für den ganzen Sommer. Nun brauchte sie nicht wie sonst in die Schule; das tat ihr eigentlich leid, sie lernte gern, aber der reiche Bauer gab fünfundzwanzig Mark für den Sommer und was zu essen, und zum Herbst ein Paar neue Schuh. Und schön war's ja auch draußen, wo die Bienen am Rain summten und die Hirsche, wenn der Abend kam, ganz dreist aus dem Dickicht traten und unterm Vieh grasten.

Der Bauer hatte Kathrinchen die Kühe besonders auf die Seele gebunden, war ihm doch die schöne braune Kuh eingegangen, trotz Doktor Dreiborn.

Kathrinchen hatte verständnisvoll genickt: ach ja, das war ein Verlust, die braune Kuh, da konnte man wohl drüber weinen. Aber sie würde schon Obacht geben, der »Uehm« konnte ganz ruhig sein, ihr kam keine zu Schaden, der liebe Gott war ja immer bei ihr und den Kühen. Der Bauer hatte geschmunzelt: »Da kriegste auch wat, wann Markt is!«

Kathrinchen hatte sich aufgemacht, als noch der Morgentau lag, und hatte seine sieben Stück vor sich hergetrieben zum Venn hinauf. Die Marienley war nicht fern, auf dem großen Kreuz blinkerte so hell die Sonne, daß es strahlte wie in einem Glorienschein. Und es war so still hier, gerade noch, als sei es hoher Feiertag. Vom Dorf herüber kam kein Laut, nur vom Truppenübungsplatz hörte man das dumpfe Schießen.

Jetzt sah Kathrinchen auch etwas von den Soldaten: Pferde trabten geschwind, Fähnchen flatterten im Morgenwind, Staubwirbel ballten sich zu Wolken; mächtige Gäule galoppierten, Karren auf hohen Rädern schleppten sie hinter sich her. Das waren die Geschütze. Ei, das war lustig anzusehen hier aus sicherer Entfernung! Kathrinchen setzte sich behaglich auf einen der Felsbrocken unweit der Ley. Sie fühlte sich so wohl hier in der Einsamkeit, von niemandem gesehen. Kein Gedanke von Furcht beschlich sie, die Mutter Gottes war ja so nah dort im großen Stein, den dunklen Felsspalt erhellend mit ihrer Lieblichkeit. Wer sollte ihr hier wohl etwas tun? Und Wölfe gab's schon seit vielen Jahren nicht mehr hierzuland; früher, ja früher, wie der Herr Lehrer erzählte, da waren sie aus den Ardennen herübergelaufen gekommen in die Eifel, verhungert und gierig, und hatten Hühner gefressen und Lämmer gewürgt. Weinen hatte Kathrinchen müssen, als der Lehrer das erzählt hatte – so ein Lamm, so ein armes weißes Lämmchen zu Tode gewürgt!

Jetzt zog sie ihr Strickzeug aus der alten Strohtasche. Kathrinchen war immer fleißig, es hatte dem Vater schon ein paar Strümpfe gestrickt und den Brüdern der Reihe nach. Nun war der Dores daran.

Ehe Kathrinchen anfing, mit den groben Nadeln zu rasseln, richtete sie die Augen zum Himmel auf, daß deren samtige Schwärze sich erhellte vom goldigen Licht, das in sie herniederfloß, und hub ein Morgenlied zu singen an:

»Hochheiligste Dreifaltigkeit,
Gott Vater, Sohn und heil'ger Geist,
Ach, schütze mich in aller Not,
Vor Feuer, Wasser, schnellem Tod!«

Die klare Stimme klang hell und weit übers Venn. Es war, als ob ihr alles lauschte. Der Morgenwind hatte sein Wehen eingestellt, die Kühe hoben die Köpfe, guckten mit den schönen dummen Augen nach der Hirtin und ließen das kurze, harte Rupfen sein, mit dem sie das zähe Gras vom Boden abrissen.

Immer höher stieg die Kinderstimme in die Luft, immer weiter klang sie hinaus:

»Auch bitt ich dich, o Gott, verleih
Mir gnädiglich der Engel drei.
Der erste mög mir Führer sein,
Der zweite Kraft im Kampf verleihn,
Der dritte schütz mich immerdar,
Daß mir nichts Böses widerfahr!«

Kathrinchen kannte viele solche schönen Lieder, aber dieses Lied liebte sie am meisten. Hier konnte sie laut nach Herzenslust singen. Oh, hier war es gut sein! Die Kühe fingen wieder an zu rupfen, aber es war, als ob sie im Takt rupften und dazu nickten, das machte Kathrinchen Spaß. Sie sang voller Lust und sang immer lauter und heller der Reihe nach alle Lieder, die sie konnte und warf dabei den groben Wollfaden auf dem gestreckten rechten Zeigefinger über die langen eisernen Nadeln, die sie unter die Arme gesteckt hatte, so flink, daß das Strümpfchen zusehends wuchs. Ei, der Dores hatte ja so dünne Bein', das war ihm bald maß!

Das Strümpfchen vor sich hinhaltend und es freudig anblinzelnd, saß sie sonnenbeschienen auf dem Stein, mit ihren Füßen baumelnd. – – –

Simon Bräuer kam von der Strafkolonie her. Das tiefgehende neue Ziegeldach schrie wie Blut aus dem Braun des Moorlandes; noch blühte das Venn nicht überall, seine Farbe war noch eintönig. Zögernd hatte sich der Aufseher erst noch ein paarmal nach dem Hause zurückgewendet: würde der Hilfsaufseher auch gut aufpassen? Am ersten Pfingstfeiertage war der Süßchenbäcker frech geworden. Hei, den hatte er aber zu Boden geduckt mit einem Blick, daß er sich nicht mehr muckte. Der Rotfuchs, der war auch wie ein Toller gewesen, wollte nicht mit zur Kirche, hörte auf kein Kommando, lief herum wie ein wildes Tier im Käfig, hatte sich auf sein Bett geschmissen, den Kopf gegen die Wand gekehrt, so daß er ihn ins Kaschöttchen hatte sperren müssen, in das enge, stockdunkle Käfterchen hinter der schweren Bohlentür mit den eisernen Haspen. Ohne Licht, ohne Beschäftigung, ohne Suppe hatte er darin gesessen, bis er zahm geworden war am andern Tag. Was fiel den Kerlen denn ein, steckte ihnen der Frühling im Blut, der auch aus den elendesten Knorren Schößlinge treibt? Freilich – Simon Bräuer sah sich um, ließ seine Falkenaugen schweifen von Ost nach West, von Süd nach Nord – arme Teufel, jetzt war es lockend! Die Ferne blaute im Duft, aus dem Moorgrund stieg ein kräftiger Geruch; bald würde hier alles rosa blühen von den Glöckchen der Vennheide. Jetzt hieß es aufpassen!

Er setzte die Zähne aufeinander. Aber seine Frau brauchte keine Angst zu haben – sie war gestern hier oben gewesen – es passierte schon nichts. Was die Weiber doch schreckhaft sind! Er hatte mit ihr draußen gestanden, sie hatte an seinem Arm gehangen, da hatte sie plötzlich aufgeschrien und den Kopf an seiner Brust versteckt. Nun, was war denn los? Sie hatte nachher selber darüber gelacht und sich geniert, daß sie so furchtsam gewesen war. An die Gitterstäbe des Schlafsaals hatte der Rotfuchs seine Nase gedrückt – nun ja, schön war der gerade nicht, aber zum Fürchten war er doch auch nicht. Aber sie hatte sich immer wieder geschüttelt: buh, sah der einen an! Sie war gar nicht davon abzubringen, immer wieder fing sie an von dem Kerl zu sprechen. Verwünscht! Auf einmal wollte sie sich nicht mehr recht entschließen, mit den Kindern herzuziehen: es wäre doch gar zu verlassen, zu einsam hier oben. Sie fürchtete sich aufs neue. Und sie hatte doch fest versprochen gehabt, zum ersten August spätestens oben zu sein! Er wollte darum einkommen, daß er ein Häuschen für seine Familie gebaut bekam. Er hatte sich das so schön gedacht – und nun?!

Bräuer zog die Stirn zusammen, sein Gesicht wurde streng: sie mußte herauf. Er zog die Uhr und sah finster darauf: elf Uhr. Nur noch eine Stunde, und Thereschen war fort! Dann rollte sie da unten hin in dem schwarzen Zuge über die Geleise, und er hatte das Nachsehen. Er seufzte auf. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte: je früher er zum Bahnhof kam, desto länger hatte er noch was von ihr. Er lief fast Trab, und dabei grübelte er in sich hinein: wie sollte er's nur anstellen, sie sobald wie möglich wieder hier oben zu haben?

Eine bittende Stimme schreckte ihn auf. »Könnt Ihr mir sagen, wie vill Uhr et is?« Die kleine Hirtin saß auf einem Stein, nicht weit von den Tannen. Jetzt rutschte sie von ihrem Sitz herab, legte ihr Strickzeug sorglich nieder und kam mit trippelnden Schrittchen lächelnd auf ihn zu.

Sein finsteres Gesicht wurde ein wenig freundlicher: so würde sein Töchterchen vielleicht auch einmal aussehen, nur daß es Flachszöpfchen hatte, nicht so dunkle Haare wie die hier. »Elf Uhr!«

»Merci. Da muß ich bald heimdreiwe. De Küh weiden aber noch esu jut!« Sie nickte und wollte wieder zu ihrem Sitz zurück, zierlich durch das Heidekraut trippelnd trotz der schwergenagelten Schuhe, die viel zu weit um ihre zarten Knöchel schlorrten.

Er sah sie flüchtig an, dann betrachtete er sie interessierter; das ernsthafte Gesichtchen unter dem weißen, rotgepunkteten Kopftüchelchen gefiel ihm wohl. Daß die Eltern dies junge Kind so ganz allein in die Einsamkeit schickten!

»Biste nit bang?« fragte er.

Sie sah ihn groß an und schüttelte verneinend den Kopf.

»Wem gehörste?«

»Huesgens – ich bin ja dat Kathrinche!« Sie nahm es als ganz selbstverständlich an, daß er sie nun kannte; jeder im Dorfe kannte sie ja.

Aber er sagte: »Huesgen – Huesgen?«

»Huesgen-Jörres, am jrünen Klee, wo Ihr immer vorbeijeht, wenn Ihr nach der Kirch jeht!«

»Kennste mich denn?«

»Oh, ich kennen Euch sehr jut, Ihr seid der Herr Bräuer von dem Haus da.« Sie nickte nach dem roten Dach hin, das über eine Erdwelle hervorleuchtete. »On wann Ihr mit Euren Leut vorbeikommt, da kieken ich immer hinter der Heck heraus.«

»Schmeißt du auch mit Steinen oder streckste de Zung heraus?«

Sie wurde ganz dunkelrot und sagte kein Wort.

»No, dann adjüs«, sagte er gutmütig und streckte ihr die Hand hin.

Aber sie gab ihm die ihre nicht. »Adjüs«, sagte sie nur und nickte; sie war gekränkt: wie konnte er nur denken, sie würde die armen Leute mit Steinen schmeißen?!

Er sah noch einmal nach ihr zurück. Ein Trupp seiner Strafgefangenen näherte sich jetzt der Ley, die Schaufeln geschultert; sie fingen nicht weit von dem Platz der Hirtin zu arbeiten an. Bräuer krauste die Stirn: er mußte doch wirklich den Huesgens mal sagen, daß die ihr Mädchen woanders zum Hüten hinschickten. Warum denn gerade hier, so nahe der Kolonie?!

Aber er dachte nicht mehr weiter daran, als er an der Station stand und sein Thereschen im Arm hielt. Die Frau weinte bitterlich: sie hatte ihn ja so lieb und fürchtete sich doch so sehr. Ihr schöner, stattlicher Mann – ach, wenn sein starker Arm sie doch bald wieder umfaßte! Und doch – der Rotfuchs, die Kerle alle! Und dann das Venn!

Er sprach kein Wort von ihrer Übersiedlung hierher. Er stieß nur heraus: »Jrüß die Kinder, jrüß die Kinder«, und preßte ihr die Hand dabei so fest, daß sich ihr der Trauring schmerzhaft ins weiche Fleisch drückte. Ein Ruf dann, ein Winken, ein lautes Aufschluchzen im Abteil – fort war die Frau, und der Aufseher Simon Bräuer wieder allein mit seinen vierzig auf einsamem Venn.

Festen Schritts, aber den Kopf gesenkt, verließ der Mann den Bahnhof. Nun fiel es ihm ein, nun, da es zu spät war, was er ihr hatte sagen wollen: sie mußte herkommen, sie mußte. Spätestens zum ersten August. Er machte eine Handbewegung: es gab ja auch Feder und Papier, er würde es ihr sofort schreiben. Und er glaubte auch zu fühlen – ja, er hatte es gefühlt an ihrem letzten Kuß – daß er sie kaum zu treiben brauchte.

Die Traurigkeit abschüttelnd, überlegte Simon Bräuer, daß, nun er den Hilfsaufseher doch einmal bestellt hatte, es ganz gut wäre, wenn der sich schon mit den Kerls ein wenig einlebte. Wenn die Frau erst da war, würde er doch öfter fort sein; und auch nachts. Er beschloß, auf einem anderen Wege, in einem Bogen durchs Dorf, nach der Kolonie zurückzugehen. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich gleich einmal nach einer Wohnung für Thereschen umsehen. Bis das Häuschen für sie gebaut war, würde es doch zu lange dauern.

Oben auf dem Venn hatten sich die Strafgefangenen zerstreut. Heute waren sie nicht unter so strenger Hut. Der Roßschlächter und der Schuster hatten sich zusammengefunden. Sie arbeiteten nebeneinander, stachen aber nur blindlings mit ihren Spaten drauflos; ihre Augen funkelten, sie wisperten hastig miteinander.

»Lassen wir jetzt auf und davonrennen!« flüsterte der Süßchenbäcker. Pah, der Hilfsaufseher war nur ein schwacher Kerl, den schlug er mit einem Spatenhieb nieder!

Der andere wurde blaß und rot. Auch seine Nüstern blähten sich, er witterte schon die Freiheit. Frei, frei! Er stöhnte, seine Hände umklammerten den Spaten wie eine Waffe; aber er erhob ihn noch nicht, er stürmte noch nicht los wie ein Wilder. Er traute sich doch nicht.

»Los, los!« hetzte der andere. »So jut treffen wir dat nie mehr wieder. Der Bräuer is seine Frau fortbringen – voran, – voran – bald kömmt der retour!«

Sein Flüstern hatte etwas Anfeuerndes. Und etwas Betörendes hatte die Luft, die heute so selten warm, so lind wehte, als wollte sie Wangen und Stirnen umschmeicheln. Und es war alles hell, man konnte sehen, wohin man trat, man brauchte nicht die Sumpflöcher zu fürchten. Ehe es dunkelte, war man bereits über die Grenze.

Der Süßchenbäcker machte »Pst!« und winkte dem Genossen mit den Augen, kaum merklich mit dem Kopfe hinnickend: da, wo das Venn und der Himmel zusammenflossen, als wären sie eins, – alles wie blaue Luft – da, wo der winzige Würfel in der blauen Luft sich abzeichnete und daneben drei Strichelchen standen, wie Haare so dünn, da war das Grenzhaus, die Baraque mit den drei Bäumen! Dran mußten sie sich vorbeischleichen. Vorsicht, Grenzjäger patrouillierten da herum. Haha! Heimliches Lachen stieß den starken Mann: wofür war er denn ein Schlächter? Einen Knüttel hatte er sich unterwegs aufgelesen, mit dem gab er dem Störenfried, der ihnen in den Weg trat, eins vor die Stirn, daß er zu Boden fiel. Und dann eins, zwei, drei über die Grenze! Er puffte den Kameraden in die Seite und sagte fast laut: »Da is Belligen, da sind wir frei!«

Niemand hatte es gehört. Der Hilfsaufseher hatte nicht so scharfe Ohren wie Bräuer und auch nicht so scharfe Augen. Er hatte genug zu tun mit dem Rotfuchs; der arbeitete nicht, wie sich's gehörte.

Der Roßschlächter lachte: »Der Rotkopp kriegt de Huck voll! Los, Kamerad, nu aber los! Los!« Er hob den Spaten, er wollte davonstürmen, da hemmte ihn ein unterdrückter Fluch des anderen.

Der Schuster hatte den Kopf gehoben – frei sein, nur frei, schon atmete er die Freiheit – aber der Strahl in seinen Augen erlosch jäh. Ein unterdrückter Schrei der Wut und der Enttäuschung entfuhr ihm: da kribbelte es ja plötzlich in der Weite des Venns wie ein Bienenschwarm. Es schwärmte dahin, es schwärmte dorthin – Fähnchen wimpelten – Lanzenspitzen blinkerten – Pferdebeine trappelten und stampften Staub aus dem Heidegrund – Kommandos schallten, scharf und schneidig – der Trupp schwenkte ab. Aber andere Trupps tauchten auf, tauchten unter: woher, wohin? Und Fußvolk marschierte in einer Kolonne heran, man hörte aus der Ferne das dumpfe Stampfen. Schnell formierte sich eine lange Linie: Seitengewehre vor – bum, ein Kanonenschuß von irgendwo her – und nun Geknatter, Kleingewehrfeuer. Eine Gefechtsübung.

»Verflucht!« Der Süßchenbäcker schleuderte den Spaten hin, daß er vom Stiel abflog: nun war nichts mehr zu wollen! Mit einem Wutgebrüll schmiß er sich auf den zerbrochenen Spaten nieder und rührte sich nicht.

Der Hilfsaufseher kam eilig herbeigelaufen: was ging denn hier vor? Aber er war kein Simon Bräuer; wenn er auch die Flinte umfaßt hielt, der Sträfling stand nicht vom Boden auf, gehorchte auch keinem Fußtritt und keinem Rippenstoß. Der Süßchenbäcker wälzte sich am Boden und heulte wie ein Besessener. Verzweifelt blickte der Hilfsaufseher aus: wenn doch Bräuer zurückkäme! Aber er war noch nirgends zu sehen. Es blieb ihm nichts übrig, als den sich Wälzenden von ein paar stämmigen Genossen an Armen und Beinen packen und nach dem Hause hinschleifen zu lassen.

Der Sträfling widersetzte sich nicht mehr; wie ein Toter ließ er sich abschleifen und ins Kaschöttchen werfen. Dabei lachte er heimlich in sich hinein: wenn er auch jetzt bei Wasser und Brot im Dunkeln sitzen mußte, der Kerl, der Hampelmann, die Bangbüx von Hilfsaufseher, kam erst recht in des Teufels Küche! Dies auszudenken machte ihm Spaß, soviel Spaß, daß ihm fast die Wut verging über die vereitelte Flucht.

Während der Hilfsaufseher drinnen im Haus zu schaffen hatte, die schwere Bohlentür vor dem dunklen Loche zuschlug und die Riegel vorlegte, irrte draußen die übrige Herde führerlos.

Viele arbeiteten nach wie vor, stumpfsinnig, als sei nichts geschehen. Sie hatten bei dem Lärm nicht einmal die Blicke erhoben; wie Lasttiere, das Joch auf dem Nacken, trotteten sie Schritt für Schritt weiter, stachen viereckige Ausschnitte aus dem Moorboden und stülpten sie auf. Was ging es sie an, wenn einer revoltierte?! Das verbesserte ihre Lage nicht; höchstens wurde der Bräuer noch strenger.

Der alte Kunde, der Paternoller, hatte sich an Jakobs herangemacht; seit der Rotkopf neulich so gestöhnt hatte, war es dem Alten, als müsse er dem Jungen etwas zugute tun. »Ruh dich aus, ruh dich aus«, mahnte er. »Jetzt sieht dich niemand. Jung, du kannst ja nit mehr!«

Der Blasse hatte bis jetzt fortgearbeitet; Schweiß troff ihm von der Stirn, seine Brust zitterte unter angestrengtem Atmen. Nun, da der Alte ihn anredete, schreckte er auf: »Laß mich in Ruh!« Aber dann stöhnte er: ja, er konnte nicht mehr! Scheu sah er sich um – niemand beobachtete ihn – und der Alte hier würde ihn nicht verraten! Mit ein paar Sätzen war er hinter dem nächsten Gebüsch, warf sich da lang hin und keuchte sich aus. Aber bald, nun er ruhte, ließ das Arbeiten in seiner Brust nach, er fühlte etwas wie Wohlbehagen. Ah, die Luft war heut schön! Der Duft der großen Tannen an der Ley kam herüber und mischte sich mit dem strengen und doch wohltuenden Geruch des Heidekrauts. Blaßrosa Glöckchen in niedrigen kleinen Büschelchen blühten zwischen dem anderen höheren Kraut. Der Sträfling riß ein paar Stengelchen davon ab und steckte sie zwischen die Lippen. Er saugte daran; harzig und bitter schmeckte das, aber es tat seinem immer trockenen Munde doch wohl.

Um ihn summte es – Bienen im Wind – oder war es der Wind selber in den Ästen der Tannen? Sonst nichts. Nicht die harte Stimme des Aufsehers. Da, plötzlich ein Singen! Er erschrak; ein Anruf des Aufsehers hätte ihn kaum so erschreckt.

»Der dritte schütz' mich immerdar,
Daß mir nichts Böses widerfahr'!«

Da stand ein kleines Mädchen nicht weit von ihm in der Heide, bückte sich und pflückte von den rosa Glöckchen. Er glotzte.

Das Kathrinchen war gar nicht erschrocken über den Mann, der da plötzlich hinter einem Brombeergestrüpp vor ihm lag: ei, der ward müd, der ruhte sich aus! Emsig pflückte es weiter: hier blühten die Glöckchen am allerschönsten, ein Kranz davon mußte die Mutter Gottes in der Ley herrlich kleiden.

Es war Kathrinchen plötzlich eingefallen, der Maria im Stein einen Kranz zu binden, als sie so still dagesessen und gestrickt hatte. Die Kühe waren ja brav, die liefen nicht weg, sie konnte sich schon getrauen um den großen Felsen und um die schwarzen Tannen herumzuwandern und Blumen zu pflücken.

Sie lächelte den Mann an.

Er sagte nicht »Guten Tag«, er wies nur mit ausgestrecktem Finger auf ihren Rocksaum.

Sie guckte an sich herunter: o weh, ihr Strickzeug, Jesus, ihr Strickzeug! Sie schleifte es hinter sich her, der Wollfaden hakte an den scharfen Pinken ihrer Schuhe fest; er war nicht gerissen, aber ganz verwirrt und mit Strümpfchen und Nadeln und allerlei dürrem Kraut unentwirrbar zusammengedreht. Sie stieß einen Jammerruf aus, ließ ihren Strauß fallen und faßte mit beiden Händen nach dem Strickzeug. Der Faden hatte sich ihr wohl zehnmal ums Bein geschlungen, sie saß wie in einer Fessel.

Der Mann lag auf dem Bauche, das Gesicht zwischen die Hände gestemmt, und beobachtete sie. Er rührte sich nicht: war die niedlich! Die blassen Lippen seines mageren Gesichts verzogen sich, er zeigte in einem stummen Lachen das ganze Gebiß. Solch niedliches kleines Dingelchen hatte er wahrhaftig noch nie zu sehen gekriegt! Das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Aber das Dingelchen kriegte den Faden nicht los vom Bein, es verzog das Gesicht zum Weinen. Da fletschte er die Zähne: »Wart, ich helf dir!«

Geschmeidig kroch er heran, immer auf dem Bauch rutschend; kroch immer näher an sie heran und nahm ihr Beinchen in die Hand. Der Strumpf war heruntergerutscht, er fühlte das nackte Fleisch, warm und weich. Ein Schauer durchrieselte ihn; er stieß einen zittrigen Seufzer aus. Langsam begann er, den Faden von den Beinchen abzuwinden.

»Merci«, sagte Kathrinchen jetzt erleichtert. Aber dann schlug sie die Hände zusammen: o weh, die Maschen waren von den Nadeln gerutscht. Geschwind kauerte sie sich nieder: schnell, schnell, daß nur nicht noch mehr Maschen herunterfielen! Sie wurde blutrot, ihre Hände fingen an zu schwitzen, Tränen schossen ihr in die Augen; sie kam nicht mit der Arbeit zustande.

»Heul nicht«, sagte der Sträfling und nahm ihr das Gestrick aus den Händen. Das Stricken hatte er gelernt, als er das erstemal gesessen hatte; nun kam es ihm zu paß.

Sie sah ihm zu mit großen Augen, ganz hingenommen von seiner Geschicklichkeit. Er raffte die Maschen auf und strickte ein paar Male herum. Sie sprang auf und wollte hell jubeln. Er aber riß sie heftig am Rock wieder nieder: »Halts Maul!« und nickte mit den scheuen Augen aufs Venn hinaus zum Hause mit dem roten Dach hinüber.

Da sah Kathrinchen erst, daß er Sträflingskleidung trug. Aber auch jetzt war sie nicht bange. Verständnisvoll nickte sie: der wollte sich hier ausruhen von seiner schweren Arbeit, und nun mußte sie still sein, sonst kam der Aufseher. Sie duckte sich geschwind nieder zu ihm hinter den verbergenden Busch. St, ganz still!

So blieben sie noch eine Weile zusammen. Er lag auf dem Bauche, die Ellenbogen aufgestemmt, das Gesicht zwischen den Händen und betrachtete sie immerwährend. Sie strickte eifrig, das Versäumte wieder einzubringen. Und dabei unterhielten sie sich, ganz leise, flüsternd, damit niemand sie höre. So scheu sonst Kathrinchen vor Fremden war, so gesprächig war sie jetzt; sie erzählte von der Schule, von den Eltern, von den Geschwistern und von der Maiblum daheim. Sie hatte ja den ganzen Tag so still sein müssen.

Er hörte ihr zu mit offenem Munde und verschlang sie fast mit den Blicken. Plötzlich schreckte er auf, eine Stimme hallte laut. Der Bräuer, kam der schon wieder?! Nun hieß es, sich davonmachen. »Bis auf ein andermal«, flüsterte er heiser. Ob sie ihm wohl die Hand geben würde?

Sie gab ihm freiwillig die Hand.

Oh, wie tat ihm das wohl, daß das Kind sich nicht vor ihm fürchtete! Starr, unverwandt hingen seine Blicke an ihr. Die Furcht saß hinter ihm – da war ja schon der Bräuer – aber er konnte sich gar nicht trennen. Ein heißes Verlangen kam ihm plötzlich, die Kleine zu küssen. Kaum bezähmte er sich: nur nicht sie erschrecken! Wenn er das tat, sie in seine Arme packte, dann kam sie vielleicht nicht wieder, nie wieder – und sie sollte, sie mußte wiederkommen! Er mußte sie noch einmal antreffen hier hinter dem Busch.

*

Als Kathrinchen diesen Abend nach Hause trieb, war sie glücklich; der Tag war ihr gar nicht lang geworden. Ihre sieben Stück waren auch brav, es bedurfte keines Knalls und keines Schlages mit der langen Peitsche, die noch einmal solang war, wie die Hirtin selber. Sie sang leise vor sich hin während des ganzen Weges. Um das Kreuz der Ley verglühte das Abendrot; es hüllte auch sie mit in seinen Schimmer. Das Rot des Himmels strahlte weit; der Fluß im Talgrund, oben das einsame Haus auf dem Venn, das Dorf, an Mattenhängen sich langziehend, seine Hecken und der überragende Kirchturm, alles war rosig bestrahlt.

Holzarbeiter kehrten heim aus den Wäldern, Kathrinchen grüßte; manch freundlicher Gegengruß wurde dem Hütekind.

An der Hecke beim Adams stand schon die Bäuerin und nahm die Kühe in Empfang; sie gab Kathrinchen ein Schmierchenbrot. Gern hätte Kathrinchen das selber gegessen, ganz verstohlen leckte sie einmal daran im Schutz der Hecke, aber sie gönnte es sich nicht. Das sollte die Mutter haben oder die Bärb.

Aber Bärb war noch nicht daheim. Den Geschwistern war es zu lang geworden, auf den letzten Zug unten am Bahndamm zu lauern: wer weiß, am Ende kam die Bärb auch mit dem Zuge noch nicht! Frau Huesgen war in einiger Unruh: die Bärb hatte doch so bestimmt gesagt, daß sie heute wiederkommen würde.

Den Kindern, die um den Tisch saßen, glänzten die Augen: ha, heute Milchsuppe mit Brotbrocken drin, wie lange hatte es keine solch gute Suppe gegeben! Die liebe Maiblum! Wenn doch die Bärb käme, was würde die dazu sagen! Sie platzten fast vor Begier, der Schwester etwas zu verkünden.

Es war dunkel in der niedrigen Küche. Man sah fast nichts mehr, nur mitunter glitzerten bei Fallen von Funken im Aschenloch die hurtig sich drehenden Augäpfel der Kinder. Der Suppennapf war geleert, müde gähnten die Kleineren. Wie spät mochte es wohl sein? Ob die Bärb nun noch kommen konnte?! Unruhig ging die Mutter zur Tür hinaus und kam ebenso unruhig wieder zurück. Es half nichts, man mußte ohne Bärb den Rosenkranz beten. Frau Huesgen kniete nieder, ihre Kinder knieten um sie her. Ein Ave reihte sich an das andere. Die Mutter betete vor mit einigen Kindern: »Gegrüßet seist du, Maria«, die anderen antworteten: »Heilige Maria, bitte für uns Sünder!«

In Frau Huesgens Seele zog Ruhe ein: was hatte sie denn, daß sie sich so aufregte? Ihre Kinder standen ja unter der Heiligen Schutz.

Da wurde die Tür hastig aufgerissen – ein wohlbekannter Tritt – da stand die Bärb. Ja, sie war's, obgleich man sie im Dunkeln kaum erkennen konnte. Der Dores greinte.

Die Mutter riß ihn in ihre Arme und küßte das übermüdete, weinende Kind: Dores, ihr Doreschen, nun war er wieder da, und war soviel besser!

»'n Abend zusammen«, sagte Bärb. Aber ihre Stimme klang gedrückt; es war nichts von der Freude darin, wieder daheim zu sein.

Die Geschwister umringten sie, Kathrinchen schmiegte sich an sie, die Jungen rissen ihr fast den Rock vom Bund; jeder wollte sie anfühlen, und jeder ihr gleich ins Gesicht schreien: »Uns Maiblum, uns Maiblum! Die hat e Kalb gekriegt, esu en fein Kalb!«

Bärb war zusammengezuckt, sie sagte kein Wort, sie lachte auch nicht mit den Geschwistern. Langsam, schwer tappte sie hin zum Tisch und setzte sich auf die Bank. Sie stützte den Kopf, und dann brach sie plötzlich in ein heftiges Weinen aus.

Die Kinder standen verdutzt: die Bärb weinte, weil die Maiblum ein Kalb gekriegt hatte? Was fiel der denn ein?! Aber Frau Huesgen nahm's nur als Freude, sie wußte, wie Bärb an der Maiblum hing. Und konnte sie denn nicht auch vor Freuden weinen, daß ihre Wallfahrt so gut geholfen hatte? Sie strich der Tochter übers Haar, von dem das Kopftuch heruntergeglitten war. Rauh und verwahrlost lagen die Haare an den Schläfen, und als Kathrinchen jetzt eine Lampe angezündet hatte, sah die Mutter, wie blaß und verstört die Bärb aussah, förmlich alt und herabgekommen vor übergroßer Müdigkeit. Ja, es war eine harte Tour gewesen, noch dazu mit dem Dores! Aber der Herrgott im Himmel würde es der Bärb schon lohnen, was die aus Liebe zu den Ihren getan hatte. Und nun, wie war's denn gewesen, wollte sie denn gar nichts erzählen von Echternach?!

Aber Bärb schüttelte stumm verneinend den Kopf.

So müde auch Bärb gewesen war, am Morgen war sie doch schon wieder früh auf, so früh, daß sie bereits zur Fabrik gegangen war, als die Mutter erwachte. Und am Abend kam sie so spät wieder, daß es schon dunkel war in der Hütte, als sie eintrat. Und so ging es Tag für Tag, Woche um Woche; immer war's so.

Und es war, als sei Bärb nie fortgewesen, als sei kein Echternach in ihr Leben getreten. Nur am Sonntag, wenn auch der Vater daheim war, dann hatte Bärb Zeit, an Echternach zu denken; dann erzählte sie wohl auch – Wunderdinge – ihre blassen Wangen röteten sich dabei, und Eltern und Geschwister lauschten, die Augen aufgerissen, in einer andächtigen Scheu.

*

Der Juli war auf seiner Höhe, die Matten um Heckenbroich in die Halme geschossen. Bunten Teppichen gleich, in allen Schattierungen von rot und blau, von gelb und weiß, säumten die Wiesen den Flußgrund und stiegen an den Hängen hinauf.

Das Venn dörrte jetzt schweigend im Sonnenbrand. Wo sonst grünes Gras aus feuchtem Grund gewuchert hatte, war es jetzt trocken. Die Rinnsale alle, die das Venn durchschleichen, schmal, zweihandbreit, die man kaum sieht im buschigen Grund, unterm Grün der Preißelbeere zwischen den Moospolstern, wollten jetzt versiegen. Nur der Fluß im Tal und der Bach in der Au hatten noch Wasser; aber auch sie zogen langsamer hinab, wie müde geworden.

Das Venn tat sein Maul auf. Der moorige Grund schrumpelte ein in unzählige Falten und Fältchen, wie ein runzliges, altes Gesicht; und dann riß die Erde in handbreite Spalten. Stundenweit konnte man jetzt trockenen Fußes gehen, wo man sonst hatte waten müssen; nur die ganz tiefen Löcher hatten noch Wasser, aber es war von einer trügerischen Grasnarbe zugedeckt. Die ganze Fläche war besetzt mit den schwarzen Haufen der Torfstücke, die die Torfstecher aufgesetzt hatten zum Dörren; Totenhügeln glichen sie nach einer mordenden Schlacht.

Ab und zu ragte ein Kreuz, verwittert, kohlschwarz, schief auf die Seite gesunken, einem Toten zum Gedächtnis gesetzt in dieser schattenlosen, angeprallten, atemanhaltenden Einsamkeit.

Regungslos standen die Tannenwälder. Das Wild trat heraus am hellichten Tage, es wartete nicht mehr den Abend ab; in Rudeln kam es bis dicht vors Dorf, um in den geblümten Matten zu äsen. Es hatte Hunger, denn die zarten Farrenwedel, die unter den Tannen grünen, waren längst geknickt von der Hitze, Moos und Gras versengt. Erbarmungslos war jeder Stengel geköpft. Die Preißelbeere zeigte die Notreife, und die Heckenbroicher besprachen schon die Beerenernte. Aber vorerst hatten sie noch ihre erste Ernte einzubringen: das Heu.

Überall wurden die Wiesen gemäht, überall duftete es nach Heu. Zu rasch fast trocknete es, wie Pulver zerrieb es sich zwischen den Fingern, man konnte nicht eilends genug es wenden; das war ein jähes Dörren, fast dem Verkohlen gleich. In der glühenden Luft ging aller Saft verloren, alle Kraft, die doch darin bleiben muß, soll das Vieh sich gut nähren. Und es wurde noch heißer, immer noch heißer. Jeden Tag die gleiche eintönige Bläue; ein Himmel von eherner Monotonie.

Balthasar Adams vom grünen Klee kratzte sich bedenklich den Kopf. Er hatte die meisten und besten Wiesen, aber auch er hatte dies Jahr zu klagen: das Heu hatte gar keinen Gehalt. Und noch immer keine Aussicht auf Regen. Und man hatte bald kein Wasser mehr; tief, tief mußte man jetzt schon den Eimer hinablassen in den Brunnen, so tief wie die Kette reichte, und brachte dann doch nur trübes und grundiges Wasser herauf. Eine Dummheit war's von dem Leykuhlen gewesen, fast eine Fahrlässigkeit war's zu nennen, daß er, anstatt der Kirche nicht lieber eine Wasserleitung gebaut hatte! Er war Bürgermeister, er, er mußte doch wissen, was der Gemeinde am nötigsten tat. Wie lange würde es noch dauern, und man hatte, wenn das Wasser so schlecht wurde, wirklich die Krankheit hier.

Der Bauer Adams trank längst wieder aus seinem Brunnen. Sein Nachbar Zumstädtchen tat es auch. Aber ein gutes Gewissen hatte er doch nicht dabei. Ja, hätte man nun eine Wasserleitung, wie man sie hätte haben können, vom reinen Wasser des Aubachs, man wäre aller Unruh und allen Ärgers ledig gewesen.

Ein grimmiger Zorn gegen den Bürgermeister faßte den Bauer. Ein um so größerer, als er zu klug war, um sich nicht selber auch einen Teil Schuld beizumessen. Er war die gewichtigste Stimme, warum hatte er denn nicht das Maul aufgetan und dagegen gesprochen, als sie alle schrien: En neue Kirch, en neue Kirch, und dem Bürgermeister zustimmten?!

Seitdem man dem Adams seinen Brunnen verschlossen hatte – seinen eigenen Brunnen, auf seinem eigenen Grund und Boden, so daß er nur nächtens daraus stehlen mußte wie ein Dieb – seitdem hatte sich seine Meinung völlig geändert. Eine Wasserleitung mußte sein, eine Wasserleitung hätte längst sein müssen, daß man nicht solchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt war! Seine Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten. Er sah den Leykuhlen hinten durch die Wiesen schreiten. »Heia!« Er schrie ihn an, und als der andere nicht gleich hörte, legte er die beiden Hände als Schallrohr an den Mund und brüllte hinein: »Hela!«

Da stutzte Leykuhlen und sah sich um.

»Burjermeester«, sagte der Bauer, »dat 's jut, dat ich Euch treff! Wie is et dann mit der Wasserleitung? Solle mir noch lang dat Brunnenwasser saufe? De Frösch springen drin!« Er knurrte grimmig: »Is dat en Trockenheit – Jesus, en Hitz! – und wenn wir kein Wasser meh han, wat dann?«

Leykuhlen war blaß, aber eine heiße Röte trat ihm jetzt auf die Stirn. »Bin ich der liebe Herrjott? Kann ich regnen lassen über Nacht und am Tag die Sonn scheinen? Akkurat so, wie et Euch passend wär?!« Er zuckte die Achseln und sah niedergeschlagen und abgespannt aus.

»Davon is jo kein Red!« Adams brauste auf: was stellte der Bürgermeister sich denn so dumm? »En Wasserleitung hätt' Ihr baue solle, dazumal, wie wir so jut bei Kass' waren! Wat fange wir mit der jroße Kirch an? Die alte war noch lang jut.« Mit bösen Augen sah er dem Bürgermeister ins Gesicht.

Leykuhlen hielt den Blick ruhig aus. »Wat regt Ihr Euch auf, Adams«, sagte er dann. »Et is wahr, et is en schlimm Zeit, aber die Sonn hat uns noch nie jeschadt!« Er legte dem Bauern die Hand auf die Schulter und versuchte ein Lächeln. »Et hat noch immer, immer jut jejange. Wenn et so bleibt, müsse wir uns eben Wasser fahren, aus dem Aubach herauf, in Fässern!«

»So?« Zornsprühend sah ihn der sonst so ruhige und gehaltene Bauer an. »So, un wer soll dann in dieser Zeit unser Heu einfahre? En halb Stund herunter, en Stund herauf – und wat sollen die Leut dann maache, die kein Fuhrwerk han?«

»Wir werden ihnen aushelfen, dafür sind wir Heckenbroicher. Man soll uns nit sagen, dat wir Brüder im Stich jelassen hätten!«

»Ja wohl, ja wohl«, höhnte Adams, »predigt Ihr nur so weiter, dat hört sich alles sehr schön an. Ihr hätt uns früher nit im Stich lasse solle. Ja, Ihr, Ihr!« Er fuchtelte dem andern mit seinem Finger immer vor der Nase herum. »Et is jut fromm sein in ander Leuts Tasch. So'n Dummheit, so'n Unsinn, eso en jroße Kirch zu bauen, wenn et Nötigste im Dorf fehlt!« Er räusperte sich zornig und spuckte aus in großem Bogen.

Die Röte, die der Bürgermeister vordem nur auf der Stirn gehabt hatte, zog sich jetzt immer tiefer herab über sein ganzes Gesicht. Er schwitzte und dabei fror ihn. Der starke Mann schüttelte sich wie in innerem Frost: der Bauer hatte so unrecht nicht, ja, es war schlimm, sehr schlimm jetzt, daß sie keine Wasserleitung hatten!

Unbarmherzig fuhr Adams fort: »So, un wenn wir nu die Krankheit kriege – mer soll doch dat Wasser nit trinke, et wäre unjesund – die is doch nit et erste Mal hier. Wenn se nu wiederkömmt?!« Er sah dem Bürgermeister mit einem gewissen Triumph ins Gesicht: »Wenn se nu wiederkömmt, he?«

»Sie ist schon da«, sagte der andere erbleichend.

*

Es war so. Bürgermeister Leykuhlen mußte es ja wissen, und er wußte es bereits seit zwei Tagen: drei Fälle von Typhus waren im Lager. Man hatte erst Hitzschlag angenommen; die Leute waren bei einer Gefechtsübung gewesen, die Sonne hatte geprallt, als schösse sie mit mörderischen Pfeilen. Aber nun schüttelten die Ärzte die Köpfe: wo hatten sich die Kerls den Typhus geholt? Jedenfalls außerhalb des Lagers. Es war ja bekannt, diese Gegend war gefährdet. Und Tage waren es jetzt, so heiß wie unterm Äquator, und die Nächte trotzdem eisig kalt. Eine Gegend wie Sibirien! Dazu die ablehnende Verschlossenheit der Bevölkerung gegen alle Neuerungen. Wer weiß wo die Soldaten sich herumgetrieben hatten?!

Die strengsten Absperrungsmaßregeln wurden auf dem Platz durchgeführt. Urlaub gab's nicht, kein Soldat durfte das Lager verlassen. Auch das Sitzen abends vor den Baracken, unter deren Wellblech keiner gern hineinging, wurde den Leuten nicht mehr gestattet. Es war die einzige Annehmlichkeit gewesen, abends wenn die Dämmerung aufs rote Heidekraut sank und die Nebel vom Moorland aufstiegen, sich draußen abzukühlen. Weit, weit bis ins Venn hinein war der Gesang der Soldaten erklungen:

»Es waren drei Soldaten,
Dabei ein junges Blut,
Sie hatten sich vergangen,
Der Graf nahm sie gefangen
Setzt sie bis auf den Tod!«

Der junge Leutnant Abeking hatte den Leuten oft zugehört. Schön waren die Lieder, mehrstimmig von den starken Kehlen gesungen; in der großen Unbegrenztheit klangen die Sänge weich und getragen.

»Des Abends kann ich nicht schlafen gehen,
Ich muß erst meine Herzliebste sehn –
Steh auf, mein Schatz, und laß mich ein« –

Das war wie ein Anruf, das pflanzte sich fort von Baracke zu Baracke; das ganze Lager war voll davon. Naturlaute, Sehnsuchtsklänge. Sie wurden eins mit dem Locken des Bächleins, mit dem leidenschaftlichen Liebeskonzert der Frösche.

Nun war auch das Singen verboten. Wer draußen gesehen wurde nach Sonnenuntergang, bekam drei Tage Mittelarrest.

Auch die Offiziere fuhren längst nicht mehr so oft hinunter ins Städtchen; die Geschichte mit Abeking hatte ihnen die Lust dazu genommen.

Der junge Leutnant war fort. Seine Kopfwunden gingen nicht ans Leben, aber er war doch fort; nicht in seine Garnison zurück, er hatte Urlaub bekommen – auf unbegrenzte Zeit. Und der Abschied würde nachfolgen, das wußten alle mit den Verhältnissen Vertraute. Das legte einen Druck auf die Gemüter.

Kein Mensch wußte zu sagen, wie die Geschichte eigentlich ruchbar geworden war – was wäre denn sonst so Schlimmes dabei gewesen: ein junger Mensch reitet im Dusel einmal zum Liebchen, unvorsichtig, tollkühn, er stürzt – aber nun, nun?! Es war alles zu offenkundig; Abeking konnte nicht bleiben.

Leutnant Schmidt und der Stabsarzt hatten sich bis jetzt noch nicht entschließen können, wieder im »Schwan« zu kneipen. Aber die Neugier plagte sie: was mochte die schöne Helene wohl für ein Gesicht machen? Es war ein Jammer um den Abeking, ein so netter Junge, ein so lieber Mensch, und Offizier dazu mit Leib und Seele! Was fing er jetzt an? Er saß nun zu Hause bei Muttern. Eine verkrachte Existenz, ein zerstörtes Leben, ehe es noch eigentlich recht angefangen hatte. Als Mann konnte man ihn voll und ganz verstehen: es war ja nur eine Dummheit gewesen, eine verliebte Torheit. Diese Helene, dies Teufelsweib! Daß sie es gewesen war, die der verliebte Junge zu einem Schäferstündchen im Waldesdunkel entführt hatte, von dem er dann wie im Rausch davongesprengt war, so blind und toll, daß der Gaul, erregt durch die Erregung des Reiters, wild wurde und scheute, das zirpten alle Spatzen von den Dächern. In den Augen ihrer Freunde hatte die schöne Frau darum aber nicht verloren, im Gegenteil: sie war nun mal so. Und sie hielt schadlos für manches andere. Was hätte man denn sonst machen sollen, in dieser völligen Weggesetztheit?!

»Ich seh et schon, lang dauert et nit, und wir sind wieder am Herunterfahren«, sagte der Rheinländer. Und der Stabsarzt sagte ganz ernsthaft: »Dann wollen wir aber alle drei an Abeking 'ne Postkarte schreiben. Der arme Kerl!«

Vorläufig fuhr nur Scheffler herunter, so oft der Dienst es erlaubte; er war ein sehr verliebter Bräutigam. –

»Bärtes, es ist nicht mit anzusehen«, sagte Josef Schmölder, als er heute heraufkam, den Freund zu besuchen. Er hatte es nicht mehr ertragen können, unten nur von der Ausstattung: Leibwäsche, Tafelwäsche, Bettwäsche, von Silber und von Möbeln reden zu hören. Scheffler drängte darauf, daß die Hochzeit schon zum Winter sein sollte. »Aber, Gott sei Dank, da ist Heinrich doch fest geblieben«, sagte Josef. »Er gibt Hedwig allerfrühestens nächstes Frühjahr fort. Der Herr Bräutigam ist zwar ganz unparlamentarisch geworden, und die kleine törichte Person hat geweint; aber es hilft ihnen alles nichts. ›Mai frühestens, so wahr ich Heinrich Schmölder bin‹, hat er gesagt. ›Und wenn Ihnen das nicht paßt, so lassen Sie's bleiben!‹ Dabei hat er dem Monsieur ganz unverfroren ins Gesicht gesehen!« Josef lachte. »Das hat mir ordentlich gefallen vom Heinrich – er ist doch ein Kerl! Es sei ihm darum manches verziehen.«

Leykuhlen lachte nicht mit. Josef glaubte auf dem glatten, braunroten Landmannsgesicht Furchen zu sehen, die ein Kummer gepflügt hatte.

»Was ist das heute mit dir, Bärtes«, sagte er herzlich und sah dem großen Mann von unten her in die Augen. »Hast du Ärger gehabt? Du bist traurig; das paßt gar nicht zu dir!«

»Er macht sich zu viel Gedanken«, sagte Frau Mariechen. Auch sie sah von unten her ihren Mann an; es war eine demütige Besorgnis in ihrem Blick. »Ach, sagen Sie et ihm doch, Herr Schmölder, dat er recht dran jetan hat, die Kirch zu bauen. Und dat er doch nit dafür kann, dat die Krankheit nu auch im Dorf is!«

Wie, war hier auch Typhus? Josef machte ein betroffenes Gesicht. Aber ehe er etwas sagen konnte, sagte Leykuhlen schon: »Wir haben bereits zwei Fälle im Dorf. Torfarbeiter, arme Leut mit vielen Kindern.« Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich schwer auf den Stuhl an den Tisch und stützte den Kopf in die Hand.

Die Frau trat dicht neben ihn, sie legte den Arm um seinen Nacken. »Bärtes, wat machste dir für Jedanken – oh, ich kenn se all!« Sie klopfte ihm gegen die heiße Stirn. »Du denkst, wenn die Leut sterben, die Männer von ihren Frauen weg, die Ernährer von ihren Kindern, dann bist du dran schuld, weil wir noch keine Wasserleitung haben im Dorf. Weil die Leut immer noch aus ihren Brunnen trinken. Ach, dat is ja all dumm Zeug!« Sie versuchte zu lächeln; ihre Stimme klang heiter: »Bärtes, du hast zu schwer Blut! Herr Schmölder« – sie wandte den Blick ihrer klaren Augen jetzt Josef zu – »ich kenn meine Mann jetzt jar nit mehr, er is doch sonst auf 'm Platz, zu juter wie zu böser Zeit. Und er hat doch auch sonst immer jewußt, dat über uns einer is, der alles so macht, wie et jut is. Laß se doch reden, Bärtes, laß se doch schimpfen, laß se doch schreien: en Wasserleitung hätt jebaut werden müssen! Laß se doch, Bärtes! Ich sag dir: recht haste jetan, janz recht!« Sie reckte ihre Gestalt mit dem sonst immer ein wenig geneigten Kopf zu ihrer schlanken Höhe auf: »Recht haste, Bärtes!«

Josef hätte das gar nicht von der zurückhaltenden, sonst immer wenig Worte machenden Frau erwartet. Jetzt floß ihr ja die Rede vom Mund – und aus dem Herzen; und das war die Hauptsache. Eine prächtige Frau, auch eine schöne Frau! Das war ihm vordem nie aufgefallen. Aber auf diesem Gesicht mit den einfachen Linien lag jetzt soviel Hingabe, soviel felsenfestes Vertrauen, daß es schön wurde und auch jung, ohne doch eigentlich jung mehr zu sein.

Als Frau Mariechen jetzt ihre Wange auf die Stirn ihres Mannes legte, schien sie des Fremden Anwesenheit völlig vergessen zu haben. »Bärtes«, flüsterte sie in ihn hinein, »Bärtes, sei doch nit bang!« Und dann wurde ihre Stimme ermutigend; das Anfeuernde lag noch mehr im Ton als in den Worten, sie faßte ihn bei beiden Schultern und sah ihm tief in die Augen: »Mann, Mann, wer ein reines Jewissen hat, der braucht keinen Menschen zu scheuen. Und du hast en rein Jewissen, Bärtes, so wahr ein Jott lebt!«

»Deine Frau hat ganz recht, Bärtes«, sagte Josef und nickte dem Freund zu. Er wollte auch Frau Mariechen zunicken, aber sie hatte sich losgemacht und war rasch hinausgeeilt, errötend wie ein Mädchen, dessen Liebesgeständnis ein Unbefugter belauscht hat. »Du hast 'ne famose Frau, Bärtes!«

»Dat weiß ich, dat weiß ich!« Der Bürgermeister lächelte, aber es war nur ein flüchtiger Glanz, der über sein Antlitz huschte. »Sie glaubt an mich. Sie weiß ja auch, wie ich't jemeint hab – wenn ich nur andere davon auch überzeugen könnt! Oft mein ich jetzt, ich hab doch nit dat Richtge jetan. Jott, Jott –« er verstärkte plötzlich seinen Ton, stützte beide Arme auf den Tisch und den schweren Kopf zwischen sie – »wenn ich denk, dat durch en Wasserleitung die Typhusjefahr abjewendt wär, ich könnt mir die Haar aus 'm Kopf reißen, dat se noch nit jebaut is!« Er faßte sich mit beiden Händen in die Haare und riß daran. »Ich Esel, ich Schafskopp, ich taube Eule!« Er stöhnte auf und schloß die Augen wie in einem Schwindel.

Es war heiß und still in der Stube, man hörte das Fliegensummen. Etwas ruhiger geworden, hob der Bürgermeister jetzt wieder von neuem an: »Siehste, Josef, man meint et so jut und macht et doch immer all verkehrt – und dat macht so traurig. Is et dir auch schon so erjangen?« Fast hilflos sah er den andern an.

»Und ob!« Josefs Mund verzog sich zu einem leicht ironischen und doch auch bitter traurigen Lächeln. »Ob's mir so ergangen ist!« Er sagte es mehrmals rasch hintereinander: »Immer! Öfter als dir, Bärtes, das kann ich dir sagen. Du bist doch ein anderer Kerl. Dich möchte ich beneiden – jetzt doppelt, weil ich weiß, was du an deinem Mariechen hast. Ich habe niemandem!« Er seufzte. Aber rasch die Bewegung abschüttelnd, die ihn erfaßt hatte, lachte er auf: »Wir leben nun einmal, alter Junge, um alles verkehrt zu machen. Das ist nicht anders. Wie's uns ergeht, geht es noch vielen; ich könnte dir Exempel von Beispielen erzählen – oh! Aber ich denke, wenn wir wenigstens das Gute anstreben, das, was wir als das Gute erkannt zu haben glauben, das ist doch schon immer etwas!«

»Dat is nit jenug«, sagte der Bürgermeister langsam und stand schwerfällig auf.


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