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5.

Bartholomäus Leykuhlen war im Kampf mit seinen Bauern. Das war wieder einmal eine erregte Gemeinderatssitzung. Sie schrien alle gegen ihn an.

»Seid Ihr jeck?« sagte Adams vom Hof am grünen Klee und ließ allen Respekt vorm Herrn Bürgermeister beiseite, »wir sollen unsre Brunnen untersuchen lassen, ob dat Wasser auch jut is?! Auf einmal soll et nix tauge! Wenn die Kommission kömmt, schmissen ich se heraus!«

»Dat werdet Ihr nit tun, Baltes«, sagte Leykuhlen ernst. »Dat wär ja noch schöner. Wenn die Kommission kömmt, von der Regierung jeschickt, werden wir sie höflich empfangen.«

»Höflich, höflich?« Der reiche Bauer gab sich nicht drein. »Wat kömmt dann dobei heraus? Nix als Kosten un Ärjer!« Der Zorn und die Angst, vielleicht zu einer Reparatur des Brunnens gezwungen zu werden, raubten ihm seine sonst so kühle Überlegung. »Ihr mit Euren ›Höflichkeiten‹! Dat han mir nu von Eurer Freundschaft mit dem von Mühlenbrink – nix als Verdruß. Verdruß un Unkosten!«

Leykuhlen verlor die Fassung noch nicht. »Ihr seid unjerecht«, sprach er ganz ruhig. »Der Landrat is ja mein Freund jar nit. Aber ich muß euch die Verordnung bekannt jeben, et is mein Pflicht. Ich hab' et euch vorjelesen, dat bald en Kommission kommt, die dat Wasser sämtlicher Brunnen im Dorf einer jenauen Inspektion unterzieht. Man befürchtet Typhus. Wir wohnen im Venn, und et sind en Meng Truppen auf dem Platz. Aber sie werden sich ja bald davon überzeujen, dat unser Wasser reines Quellwasser is. Laßt se doch ruhig nachsehen!«

»Nee, nee, nee!« Der Baltes schlug sich auf die Knie: »Ich jeb et nit zu. Auf meinen Hof kömmt mir kein Spürnas'! Dat se mir in meinem Mist herumstochere un sagen, dein Jauch läuft in deinen Brunnen. En Meil kann doch nit derzwischen sein!«

»Dat schadt auch jar nit«, bekräftigte der Bettes Zumstädtchen, auch ein vermöglicher Mann mit stattlicher Hecke.

Die beiden Nachbarn wechselten Blicke. »Wat maache mir dann, Hahr Burjermeester«, sagte der Bettes schlau, »wenn se nu sagen, dat Wasser taugt nix! Trinken muß doch der Mensch!« Er zwinkerte den Adams auffordernd an, ihm zuzustimmen. »Da hättet Ihr eben die Kirch nit baue solle, die jroße Kirch! Da hätte mir nu 'n Wasserleitung, wie de Hähr Landrat sagt, un kein Typhusjefahr!«

Ein Murmeln der Zustimmung ließ sich vernehmen. Die zwölf Gemeindeältesten, die seinerzeit nichts anderes gewußt hatten, als eine Kirche zu bauen, nun es an den Hals ging, machten sie Vorwürfe. Da war auch nicht einer, der seinem Brunnen ganz traute.

»Ruhe!« donnerte Leykuhlen. Nun wurde er zornig. »Wart ihr selber dann nit für den Kirchenbau?«

»Jo, dat ware mir wohl, Hähr Burjermeester, äwer Ihr seid de Hauptschuld dran. Ihr un de Hähr Pastor, Ihr habt uns die jroße auf den Hals jeschwätzt. Nu sitze mir drin, nu hammer Schulde!«

»Sie sind nit so jroß!« Leykuhlen biß sich auf die Lippen, das Herz schlug ihm hart. Ganz so unrecht hatten die Bauern nicht: wenn der Kirchenbau nicht gewesen wäre, die Gemeinde stände ohne Schulden da. Nun aber –?! Das Geld von dem Schießplatz hatte sie freilich noch, aber das war angelegt, auf Zinsen geliehen.

»Ihr habt viel zu jroß jebaut«, sagte Zumstädtchen vorwurfsvoll, und die anderen nickten Beifall. »Uns Jeld, uns schön Jeld, alles verpulvert!«

»Nit verpulvert, jut angelegt, am allerbesten!« Leykuhlen fuhr auf. Die Freude, die er damals empfunden hatte, eine hohe und heilige Freude, als ganz Heckenbroich geschmückt und bekränzt gewesen war, als Hunderte aus Dörfern und Höfen herbeigeströmt waren, um das Fest der Einweihung mitzufeiern, diese Freude ließ er sich auch heute noch nicht verkümmern. Mochten die Kurzsichtigen schwatzen, was sie wollten! War ihnen nicht das Geld, das viele Geld für den Schießplatz wie vom Himmel in den Schoß gefallen? War es nun nicht recht und billig, dem Himmel dafür auch einen Dank zu entrichten?

Leykuhlen richtete sich kräftig auf, in seiner ganzen stattlichen Mannhaftigkeit. Die Quengler und Quereler sollten schweigen! Mit der ganzen Wucht seiner Stimme donnerte er in die Versammlung hinein: »Wat jeschehen is, is jeschehen, et is nix dran zu ändern. Un et is jut so. Die Kirche steht, Jott sei Dank! Wenn unsere Leiber schon lange zu Staub zerfallen sind, wird sie noch stehen. Sie wird Zeugnis jeben, daß selbst in einer armen Eifeljemeinde hoch oben im Venn Menschen lebten, die ihre kleinlichen Sonderinteressen unterzuordnen verstanden dem jroßen Wohl!«

Er ließ seine blauen Augen scharfblickend und feurig von Mann zu Mann blitzen. Mochten sie nun nach Hause gehen und sich das bedenken! »Ich erkläre die Sitzung für aufjehoben!«

Sie waren alle wie vor den Kopf geschlagen; teils verdutzt, teils empört. Er kehrte sich nicht daran, im frohen Gefühl eines Sieges ging er heim über die Straße.

Über der Kirche stand ein goldener Stern, mit Wohlgefallen sah er hinüber. Es war schon spät Abend, der Stern leuchtete hell, mit sicherem Licht. Eine große Ruhe kam in des Mannes Seele, der ganze Ärger ließ ihn jetzt kühl. Was man für das Beste erkannt und getan hat, muß man niemals bereuen.

Als Leykuhlen hinter seine Hecke trat, sah er noch Lampenschein drinnen in der Stube.

Er rappelte mit dem Klopfer. Da kam Mariechen und machte ihm auf. Sie war völlig angekleidet, sie hatte noch an der Altardecke gesessen. Um den Hals hing ihr eine seidige Glanzgarnsträhne, ihre Augen waren leicht gerötet vom angestrengten Sehen; aber sie blickten doch nicht müde, ein Glanz war in ihnen.

»Bärtes«, sagte sie und drückte sich fester an ihn, »ich hab dir jet zu verzähle!«

Sie zog ihn in die Stube, wo im Schein der beschirmten Lampe die Altardecke halb fertig auf dem Tische lag. Er setzte sich auf das Kanapee; sie nahm die Arbeit wieder auf und zog lange Fäden, aber nur für Minuten, dann sanken die Hände in den Schoß.

»Ich kann nit meh«, flüsterte sie, »et läuft mir alles rund. Bärtes, wat sagste nu« – sie ergriff seine Hand und sah ihn an mit ein wenig unsicheren und doch strahlenden Blicken – »die Huesgen-Annelies hat 'ne Jeist jesehen!«

»Einen Geist?!« Was redete doch Mariechen für dummes Zeug!

»›Jeist‹ is nit richtig«, verbesserte sie sich rasch, »sie hat en Erscheinung jehatt. Och, ich muß et dir verzähle!« Sie war so aufgeregt, daß ihre Stimme zitterte.

Wenn es auch kaum zu glauben war und sie anfänglich auch ein wenig hatte lächeln wollen, als die Annelies gelaufen gekommen war – sie unterbrach sich: war das denn nicht schon ein Wunder, daß die schwache Frau so laufen konnte? »Och, Bärtes!« Mariechen faltete die Hände, in einem heiligen Schauer bewegten sich ihre Lippen: »Sie sagt, et wär en freundlich Frau jewesen, wie aus 'm Himmel! Und so lieb hat sie zum Annelies jesproche, wie dat nit weit von der Marienley auf'm Stein saß un am Weinen war; et war so müd. Et wollt aber selber den Bittjang tun, 'ne Kranz aufhängen vor der Maria im Stein. Aber et konnt nit bis hin kommen, et war sterbensmüd. Da hat die Frau zu ihm jesagt, et soll nit weinen, un wat et denn eigentlich drückt, et soll sich aussprechen. Dat Annelies sagt, et hätt auf einmal reden jekonnt wie nie zuvor; und dat wär ihm jewesen wie 'n Erlösung. Du weißt et doch, Bärtes, die Leut klagen sonst nit!«

Der Bürgermeister nickte.

Mit glänzenden Augen fuhr die Frau fort: »Et sagt, un je mehr et der feinen Frau erzählt hätt, desto leichter wär ihm um't Herz jeworden. Et hat ihr alles gesagt: wie arm sie sind, nur en einzige Kuh, un so ville Kinder, un alles is so teuer, un so wenig Verdienst. Aber dat wär ja all so schlimm nit, wenn – dat Annelies sagt, et hat sich dabei so recht satt jeweint – wenn et nur selber wieder zu Kräften kommen könnt, et wär so schwach, och, so sehr schwach! Da hat die Frau gesagt: ›Betet Ihr auch recht andächtig?‹ Un hat 'ne Rosekranz aus der Tasch jezogen un en Bildche: › Wundertätige allerseligste Mutter Gottes von Lourdes‹ – un hat der Annelies dat jeschenkt: ›Betet mit Euren Kindern alle Abend den Rosenkranz zur wundertätigen Mutter Gottes von Lourdes, dann wird Euch geholfen!‹ Annelies sagt, et hat jleich jefühlt, et war en Wunder. Et hat sich bekreuzt, un wie et dat Bildche jeküßt hat, da is et so froh jeworde, so froh, un hat auf einmal Kraft jespürt in allen Jliedern. Ich hab selber dat Bildche jesehen, Bärtes!« Erregt stand sie vor ihm.

»Es wird eine fremde Frau gewesen sein, die auffordern wollte, für nach Lourdes zu pilgern«, sagte er. Aber seine Stimme klang nicht ganz sicher. »Um diese Zeit reisen sie überall herum, um Propaganda zu machen für die Wallfahrt dahin.«

»Nee, och nee!« Sie schüttelte energisch verneinend den Kopf. »So eine war dat nit!« Ihre Stimme wurde leiser, sie raunte geheimnisvoll: »Nee, Bärtes, dat muß jemand janz anderes jewesen sein. Als sie vom Annelies nu fortjehen wollt, fiel der plötzlich ein: Jesus, uns Dores! Un sie kriegt die Frau noch hinten am Kleid zu packen und schreit hinter ihr her: ›Uns Doresche, ach, uns Doresche! De hat so viel die Krämpf!‹ Da dreht sich die Frau noch einmal herum; freundlich gelächelt hätt se, un spricht: ›Warum geht Ihr denn nicht nach Echternach springen?‹ Un eh sich die Annelies dat noch bedenkt, is se auch schon fort.« Mit einem tiefen Aufatmen schwieg Frau Leykuhlen.

»Hm!« Der Mann blickte ernsthaft; von Zweifel war nichts auf seinem Gesicht zu sehen, wohl aber von Rührung. Wer weiß, was die Huesgen sich jedenfalls da zurechtphantasiert hatte – aber selig war das Weib doch in einem solchen Glauben! Er nickte seiner Frau zu.

Sie nickte ihm wieder zu, ein Glanz heiterer Freudigkeit verschönte ihr Gesicht. »Und denk ens an, Bärtes, als dat Annelies noch hier bei mir is, da kömmt der Herr Schmölder, der Josef, un fragt nach dir: er wollt dich jet fragen, sagt er. Ich bot ihm 'ne Stuhl an. Ich konnt nit jut anders – mer war doch zu voll davon – ich erzählt ihm dat von dem Annelies seiner Jeschicht. Siehste, Bärtes«, – sie triumphierte laut lachend vor Glück – »un dat war nun schon die erste Hülf, die der Huesgen versprochen wurd. Kaum sieht er die an, da zieht er auch schon sein Portemonnaie un schütt ihr alles, wat er drin hart, in den Schoß. Einen Taler, un Jroschens – ja, jewiß an die zehn Mark. Die Annelies traut ihren Augen nit, sie war wie verstört. Och, der Josef, dat is doch 'ne jute Mensch!«

»Ja, dat soll wohl sein«~ sagte Leykuhlen, »'ne jute Mensch, sehr jut – aber –!« Er seufzte in einem gewissen Mitleid.

»Ich will auch beten für ihn«, sagte die Frau in ihrer Erkenntlichkeit.

Sie stiegen zur Giebelstube hinauf. Das Fensterchen war offen, die ganze Kammer war hell von blinkender Sauberkeit und von Mondenschein. Er lehnte sich hinaus und guckte noch hinüber zur Kirche.

Die ragte mit ihrem mächtigen Turm wie ein Wahrzeichen des Dorfes weit in die Gegend hinein.

Ein Gefühl der Glückseligkeit durchdrang den Mann. In Tagen, in Wochen, im ganzen Leben war oft soviel Ärger, soviel Verdruß, aber ein Abend wie dieser, der machte alles wieder gut! Er rief seine Frau neben sich und schaute Schulter an Schulter mit ihr hinauf in den hellen Himmel der Mainacht.

»Die Annelies jeht nu sicher nach Echternach«, sagte leise Mariechen. Eine Sehnsucht durchzog ihr Herz. War sie nicht auch wallfahrten gewesen, damals, als sie noch hoffte? Da hatte sie Jahr um Jahr fast die Prozessionen mitgemacht, nach Heimbach und nach Mariawald, dem Trappistenkloster im Kermeter. Ihre Bitte hatte nicht Gewährung gefunden. Die Heiligen allein wußten, warum sie jedesmal ihr Geschenk dann gleich wieder fortgenommen hatten. Aber Mariawald kam ja auch längst nicht an gegen Echternach. Was für Frankreich Lourdes, das war für hier zu Land Echternach. Ach ja – die in die Mondnacht Hinausträumende seufzte auf einmal tief auf – die Huesgen würde ihr Doreschen zu Echternach schon gesund kriegen! Das Kind, das ihr am meisten am Herzen lag, weil es ein unglückliches war.

Als ob Leykuhlen die Gedanken, die die Seele seiner Frau bewegten, heute wie damals in erster Ehezeit, geahnt hätte, legte er den Arm fest um ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran.

Es war ein heiliges Schweigen in der Mondnacht. Stiller konnte kein Dorf sein und stiller auch keine Menschen. Traumhaft wob das Mondlicht um Hecken und Giebel. Alle Fenster waren dunkel, alle Leute lagen und schliefen, die Samstagnacht kündigte den Sonntag an. Ein Sabbatrot war auf Höhen und Tiefen, ein andächtiger Frieden über Häusern und Hecken.

Plötzlich schreckten Mann und Frau zusammen: ein Lärmen kam die Straße herauf, ein Rasseln und Rollen, ein Poltern und Trappeln, das doppelt laut wirkte in der todstillen Nacht. Von der Chaussee her jagte ein Wagen. Nun kam's übers Pflaster mit Geknall und Gejohle. Zwei auf dem Bock, die Kutsche gerappelt voll, so voll, daß noch je einer die Beine zum Wagenschlag heraushängte.

So fest schliefen die Bauern von Heckenbroich denn doch nicht, daß sie das nicht gehört hätten: das waren die Offiziere! Von der Stadt herauf kamen sie.

Leykuhlen schlug sein Fenster zu: so lange würde das noch gehen, bis sie einmal gehörig umschmissen oder sich festfuhren im Sumpf. Wenn sie doch wenigstens still wären, das war ja ein wüstes Gegröle!

Lange noch hörte das lauschende Dorf die weinseligen Stimmen und Gelächter und Gejohle zwischen Rädergerappel und Hufegeklapper.

*

»Was ich dir noch sagen wollt«, sprach die Bürgermeisterin am anderen Morgen zu ihrem Mann, »de Josef kam darum herauf, weil er dich fragen wollt, ob du nit en Magd für ihn wüßt? Er will en Magd haben, um auf die Fangeuse wohnen zu jehn, Bärtes!«

Leykuhlen fing an zu lachen: »Wat der für Ideen hat!«

»Der Jilles oben im Moorhaus hat dem Schmölder jekündigt, un da hatt der Josef Lust jekriegt, anstatt dem Jilles nach oben zu ziehen. Aber er braucht doch en Magd – weißt du ein', Bärtes?«

Das würde schwer halten! Sämtliche Witwen und ältliche Frauenspersonen im Dorf ließ Leykuhlen an seinen Gedanken vorüberziehen. Da hinauf, nein, da würde auch die Älteste nicht hinziehen! Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß kein'!«

»Et müßt eijentlich auch en Junge un Kräftige sein«, sagte Mariechen nachdenklich.

»Eine Junge? Dat würd sich doch schlecht schicken. Dat leidt auch unser Pastor nun un nimmer.«

»Och!« Sie lachte ihn hell aus ob dieses Bedenkens. »An so wat denkt doch de Josef nit mehr!«

»Zwei Jahr jünger als ich!« Leykuhlen lachte auch, streckte prüfend die kräftigen Arme aus und zog seine Frau an sich. »Dat sag nit, Mariechen! Zwei Jahr jünger noch is de Josef als ich – mer soll nix verschwören!«

Es war ein heller Morgen. Kein Morgen freilich, wie er am ersten Juni in anderen Dörfern zu sein pflegt. In der Rheinebene hatten die Obstalleen längst abgeblüht, aber zu Heckenbroich waren eben erst die Hecken grün geworden. Die Hecke vor Huesgens armseligem Haus zeigte sogar noch viel braunes und dürres Winterlaub.

Heute brauchte Weber Huesgen nicht in die Fabrik zu gehen. Gestern abend war er mit dem letzten Arbeiterzug von Aachen gekommen, staubig, verwahrlost und verdrossen dazu. Das war doch ein schweres Leben! Immer arbeiten, und kein Familienleben dazu; mit den ledigen Kerlen in der Herberge umherliegen. Und wenn man einmal die Woche nach Hause kam, dann zu allem noch eine kranke Frau! Nun hatte er auch gar kein Pläsier mehr.

Spät am Abend noch hatte sich Huesgen scheren lassen; dann hatte Kathrinchen den Zober herbeigeschleppt, ihm die Füße zu waschen, und Bärb hatte sich gleich an des Vaters Sachen gemacht, um sie zu flicken. Die Frau aber saß bei ihrem Ehemann auf dem Bettrand, den schlafenden Säugling an der Brust, und hielt seine schwielige Hand in der ihren. Sie hatte ihm ja soviel, soviel zu erzählen.

Unter ihrem Wunderglauben hatte sich sein gesunkener Mut aufgerichtet wie ein schnellwachsender Baum. Er wurde so vergnügt, als hätte er einen Schoppen getrunken. Oh, und die Frau war ja soviel besser als letzten Samstag! Sie hatte ihm Eier mit Speck gebraten, und sie, die vorher nichts hatte essen mögen, teilte heut mit ihm; die Kinder, die großäugig zusahen, bekamen vom Vater auch eins nach dem anderen einen Happen Brot, in Fett getunkt, in den Mund gesteckt. Weber Huesgen lachte und klopfte ihnen die Köpfe: hübsche Kinder doch alle! Und mit dem Dores würde sich das ja nun auch bald bessern! Väterlich betrachtete er auch den schlummernden Säugling. Nein, es waren der Kinder nicht zu viele, die waren ein Geschenk von Gott im Himmel!

Draußen zog der Mond friedlich seine Bahn. Es ward eine glückliche Nacht unter dem armen Dach. –

Nun aber läuteten die Glocken. Weber Huesgen ging mit seiner Frau zum erstenmal nach ihrer Entbindung zum Hochamt. In einer ununterbrochenen Reihe, zu zweien und zu dreien strebten die Dörfler zur Kirche hin.

Auch die vom Venn waren heute gekommen, sie wurden heruntergetrieben zu zweien und zweien. Simon Bräuer hatte sie gut im Zug. Los und ledig gingen sie, wie andere Leute auch; aber wenn sie auch nicht gebunden waren, sie gingen doch wie gefesselt, die Köpfe gesenkt, die Blicke zu Boden geschlagen. Trapp, trapp. Sie waren heute im Sonntagsstaat, in reingewaschenen Kitteln und dunklen Mützen; ganz ordentlich sahen sie aus. Aber mißbilligende Blicke streiften dennoch die Kolonne; es blieb ein großer Abstand zwischen ihr und der übrigen Schar der Kirchgänger. Die Frauen guckten scheu; sie eilten sich noch mehr, daß sie in die Kirche kamen.

Wie ein Beet von bunten Tulipanen prangten dicht gefüllt die Bänke der Weiber. Sie hatten alle ihre besten Kopftücher um – rot und gelb, grün und violett, blau und orangefarben – Wolle mit Seide durchschossen in großblumigen Mustern.

»In nomine patris et filii et spiritus sancti«.

In tiefer Andacht neigte sich die Gemeinde. Der Pastor, trotz seiner Siebenzig noch im Amt, hielt das Staffelgebet. Die hohe Wölbung verschluckte die lateinischen Worte; die hohle Stimme des greisen Priesters am Altar und die näselnde des ihm antwortenden Dieners vom Chor gaben ein immerwährendes Echo. Man konnte nicht viel verstehen. Aber der Weihrauch duftete, die Chorknaben in ihren roten Röcken knieten, die ewige Lampe ergoß blutrot dämmernden Schein auf den Leib des Erlösers, der lebensgroß, in natürlichen Farben angemalt, der Gottesmutter im Schoße ruhte.

Das Sonnenlicht war draußen geblieben; durch die bunten Scheiben brach nur ein einziger Strahl herein. Wie eine goldene Leiter, auf der Millionen von flimmernden Sternchen auf und nieder tanzten, leitete er hin zur Monstranz, die über dem weißgedeckten Altartisch in dem Tabernakel erstrahlte.

»Gloria in excelsis Deo!«

Kein Räuspern war mehr hörbar, kein Scharren mit den Füßen. Alles lag auf den Knien. Das war wie ein reifes Ährenfeld, das lautlos fällt in dichten Schwaden.

Trotz der kellerigen Kühle des hohen Gewölbes war es schwül. Die Luft wurde dick, die Gesichter wurden rot, die Füße eiskalt. Ein heiliges Schauern zog durch die Seelen, ein Frösteln durch Mark und Bein.

»Dominus vobiscum!«

Der Greis am Altar kehrte sich gegen seine Gemeinde, er breitete die Hände aus und schloß sie wieder.

War Gott nahe?!

Ein Seufzer ertönte aus den Bänken der Frauen. Trotz der Andacht drehten alle die buntverhangenen Häupter sich um. Wer seufzte da? Fast klang's wie ein Stöhnen. Unwillige Blicke bohrten sich in das noch blasser werdende blasse Gesicht der Huesgen-Annelies. War's nicht besser, sie ging aus der Kirche, ehe sie schwach wurde?

Die Huesgen hatte heute noch nichts genossen. Brot und Wein waren ja da auf dem Tische des Herrn. Nun opferte der Priester die Hostie, nun vermischte er Wein und Wasser, nun wendete er sich zu allen und doch zu jedem einzelnen:

»Sursum corda!«

Und die Gemeinde antwortete murmelnd:

»Habemus ad dominum!«

Unruhig blickte die Huesgen um sich; vor ihren Augen schwankte das Schiff der Kirche: war es noch nicht bald aus? Der Schweiß fing ihr an zu rinnen. Noch nicht bald?! Sie hörte kaum etwas mehr. Endlich ein Klingeln. Ah, die Wandlung! Der Priester erhebt die heilige Hostie und dann den Kelch; tief anbetend schlägt alles die Brust. Nochmals ertönte das silberne Glöcklein.

Die Huesgen riß weit die Augen auf, vor ihren Ohren ward das zarte Klingeln zum gewaltigen Läuten. Es erschütterte die Leere ihres Leibes; es schwieg nicht, es betäubte sie schier. Vor ihren Augen erstand ein Flimmern – so wie jetzt im goldenen Strahl, so hatte die Mutter Gottes gestern vor ihr gestanden! Jesus, Maria, Josef! Jetzt erst fühlte sie einen tödlichen Schreck. Sie schloß aufseufzend die Lider.

Man hatte die Huesgen aus der Kirche führen müssen, sie fast tragen. Das Hochamt war doch noch zu anstrengend für sie gewesen; sie war in Ohnmacht gefallen. Jetzt lag sie daheim auf dem Bett; der Mann saß ganz betreten bei ihr. Er war verlegen und unglücklich und kam sich schuldig vor: das hatte er doch nicht gedacht, daß sie noch so schwach wäre! Und – er warf einen schweren Blick auf den Dores, der beschmutzt und greinend auf dem Estrich herumkroch – nun würde es auch mit dem Dores nicht anders werden, denn wie sollte die Frau auch nach Echternach springen gehen?!

Das übermannte ihn schier. Er ging hinaus von der Frau aus der Stube, und da er nicht wußte wohin, um seinen Kummer zu verbergen, ging er zur Kuh in den Stall.

Die stand trächtig. Er klopfte sie seufzend; er konnte sie nicht recht sehen im dumpfen, lichtlosen Raum, aber sie war doch eine Hoffnung. Wenn die Kuh ein Kalb bekam, dann war das ein großer Segen.

Die Kuh stand unruhig.

»He, Maiblum!« Liebkosend legte der Mann seinen Kopf an die breite Stirn des schnaufenden Tieres und stand so, gebückt, ein Weilchen. Das gab ihm Ruhe. Morgen früh, ehe die Sonne noch aufgegangen war, mußte er wieder fort nach Aachen, die ganze Woche wegbleiben – aber saß denn nicht noch die Heilige Dreifaltigkeit oben im Himmel?

Bärb, die Älteste, hatte den Vater in den Stall gehen sehen. Nun kam sie ihm nach.

»Wat willste?« Er richtete sein hageres, schlecht rasiertes Gesicht von der Stirn der Kuh auf und sah sie erschrocken an: »Is et schlechter mit der Motter?«

»Nee!« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nicht das Sonntagskleid austun können, aber sie hatte es hochgeschlagen; sie war ein reinliches Mädchen. »Ich muß Euch ens spreche«, sagte sie und errötete tief.

Warum wurde sie denn so rot? Der Vater bekam einen plötzlichen Schreck: die Bärb war jung, auch hübsch – sollte noch neues Unheil zum anderen dazu kommen?! »Nu sag et rasch«, sagte er müde und matt.

»Ich will nach Echternach jonn – über vierzehn Tag – springen!« Sie hatte sich Mut gefaßt: warum sollte der Vater denn auch dawider sein? Teuer war's nicht sehr bis nach Echternach, die Eisenbahnfahrt war ermäßigt, es kostete vierter Klasse nicht viel. Und viele würden wallfahrten, sie fand Anschluß genug. Zu Haus mußten sie sich eben ein paar Tage behelfen ohne sie, das Kathrinchen war ja auch schon so verständig; und wenn sie den Dores mitnehmen würde zum heiligen Willibrord – ja, das war das beste, dann sah er das Kind gleich selber – dann war ohnehin die größte Last aus dem Haus.

»Ich jonn«, sagte sie entschlossen. »Ich denk, Ihr werdt nix derje'n han, Vatter, ich wollt et Euch bloß saon. Die Motter hält den Bittjang nit uhs. Ich bin die nächste derzu – hui, un ich kann springe!« Die Lust dazu flammte in ihr auf, ihre Augen blinkten.

Der Alte sagte nicht viel, er nickte nur: »Wenn du meinst!«

Da sagte sie, aussprechend, was ihr nun schon den ganzen Tag, seit die Mutter wieder so elend dalag, im Kopfe herumging: »Ich will janz jenau so springen, wie et vorjeschriewen is, ich mach et mir nit kommod. Ich bin so jung, ich kann dat jut aushaalde. Fünnef Schritt vor und drei zurück! On den Dores, wenn de nit meh laufe kann, dann will ich ihn drage. Heiliger Willibrord, bitt für uns!« Sie bekreuzte sich, und dann lachte sie, heiter und zuversichtlich: »Dann hilft de unser Motter, un dem Doresche auch!«

Der Weber nickte. Er hatte gegen den Plan der Tochter nichts einzuwenden, aber Arbeitstage würde sie versäumen!

Bärbe rechnete an ihren Fingern ab: Sonntag und Montag waren Feiertage, da hatte sie Zeit genug, hinzukommen, konnte schon den Montag mittag an Ort und Stelle sein. Am dritten Feiertag, am Dienstag, war die Prozession. Da konnte sie abends noch ein Stück zurückkommen, und Mittwoch abend war sie wieder zu Hause; nur ein Arbeitstag brauchte also versäumt zu sein. Ihre ganze Kraft, ihr ganzer Jugendmut lag in dieser Rechnung. Was brauchte sie auszuruhen?!

Die Kuh muhte dumpf, ihr Leib zitterte, als empfände sie Schmerzen.

»Maiblum, no?« Das Mädchen sah besorgt nach ihr hin, dann gab es ihr einen Schlag mit der flachen Hand, kräftig-liebkosend: »Maiblum, ich saon dir, wart, bis ich wieder daheem bin!«

Der Weber schmunzelte. In aller Not hatte er doch noch Glück, brave Kinder hatte ihm der Herrgott gegeben!

Im dumpfen Stall, wo sie beide gebückt stehen mußten, legte der Vater der Tochter die Hand auf: »Da jeh denn in Jottes Namen!«


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