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2.

Es hatte lenzen wollen, zu früh in diesem Jahr. Nun kam der Schnee noch nach. Kein tiefer, fester Winterschnee, flüchtig weilende Flocken, aber sie näßten, erkälteten, durchschauerten bis ins Mark. Atemberaubend fauchte der Wind in Stößen, zerrte an den Kleidern, raffte Schnee zusammen und warf ihn wütend denen ins Gesicht, die sich ihm entgegen zu stemmen wagten.

Hinter seinen hohen Hainbuchenhecken, die sich giebelhoch, mit mauerfestem Astgefüge schützend vor jedes Haus im Dorf stellen, duckte sich Heckenbroich. Aber weiter hinauf, oben auf dem Vennbuckel, gab's keine schützenden Hecken mehr. Einem Ungeheuer gleich, gierig, zischend, pfeifend, schnaufend, bellend, brüllend tobte der Nordweststurm. Gewaltige Wolkengebilde rollten ihre schweren Leiber übers raschelnde Kraut. Alles grau, erloschen, verhangen, stumpf, tot.

Und doch bauten sie. Die fünfzehn unter Simon Bräuer. Wie aus Stein stand der schwarze Kerl, die Beine breit gesetzt. Mit dem Auge des Raubvogels, dem runden, weitsichtigen, stoßsicheren, beäugte er seine Leute. Und sein Ton war hart, wenn er kommandierte. Pah, so ein bißchen Windrumoren und Nebelspreuen, was machte das?! Er kannte das. Nicht umsonst hatte er als verwaister Junge hier oben den Bauern das Vieh gehütet, und später Torf gestochen und aufgesetzt und, knöcheltief im Wasser stehend, das Vennheu gemäht. Hier war er herumgestoßen worden von einem zum andern, hier hatte er gefroren und oft auch gehungert, und doch, obgleich es ihm beim Militär so gut gegangen war – satt Essen und Trinken, warme Montur, freie Wohnung in den Kasematten in Köln, nie Arrest – er hatte sich doch immer hierher zurückgesehnt. Hier war seine Heimat.

Simon Bräuer, dem langgedienten Unteroffizier, der dann Aufseher zu Siegburg gewesen war, hatte man es gern bewilligt, als Pionier voranzugehen; es hatten sich ohnehin nicht viele gemeldet zur Kolonisation oben im Venn. Er hatte sich dazu gedrängt. Seine Frau hatte zwar geweint, seine Kinder sich an ihn gehängt, aber er hatte kurz gesprochen: »Ich geh!« Zum Sommer vielleicht, dann sollten sie nachkommen.

Und nun atmete Simon Bräuer wieder Vennluft. Das tat ihm gut. Er hatte nicht einmal den dicken Uniformrock angetan, er ging im Leinenkittel. Was froren denn die Kerle, warum klapperten sie mit den Zähnen? Er fuhr sie an: hier wurde nicht geschnattert, wie alte Weiber tun, und auch nicht gehustet. Hier wurde frisch drauflos geschafft, nicht in die Hände gepustet und mit den Füßen gestampft!

»Frieren dir die Poten ab?« sagte er zu einem jungen Menschen, der, blau vor Kälte, in seinen Holzschuhen schlotterte. »Wenn du arbeitest, frierste nit – voran!«

Einen bösen Blick unter gesenkten Lidern herauf schoß der Sträfling, nur einen einzigen, Sekunden dauernden, kurzen Blick, aber der Aufseher schrie ihn an: »Hier wird nit jemuckst!«

Nein, sie hätten ja auch kein Wort gewagt. Mit gesenkten Köpfen, wie eine Herde, betäubt von Unwetter mit Blitz und Donnerschlag, so duckten sie stumm unter. Vor ihnen lag das Venn, ohne Schranken, frei und offen; sie hatten zwei Beine, Füße zum Laufen, wer wollte sie hindern, davonzurennen, dahinzuschießen wie ein Pfeil, vom straffen Bogen geschnellt? Dieser einzelne Mann doch wohl nicht? Und doch rannte keiner. Sie waren wie geschlagen, wie gelähmt.

Nun arbeiteten sie schon ein paar Wochen hier; vom ersten Tagesstrahl an bis in den sinkenden Abend, bis die Nebel so dicht übers Venn krochen, daß sie wie in Wolken standen, daß keiner zehn Schritt weit den andern sehen konnte. Es war jetzt über sie selber eine Hast gekommen, war es doch ein zu schlechtes Kampieren in dem alten Torfschuppen. Dort schloß der Aufseher sie des Nachts ein. Er selber schlief im nächsten Haus des Dorfes, machte nur dann und wann unvermutet einmal die Runde.

Man hatte die kräftigsten unter den Gefangenen zu der Arbeit im Venn ausgesucht. Es hatten sich viele dazu gemeldet; mancher mochte wohl gedacht haben: da oben kannst du dann gut weg, aber jetzt lagen sie hier ganz gleichgültig, wie Hunde in sich zusammengekrochen. Was sie sich auch erwartet haben mochten von der größeren Freiheit, jetzt hatten sie nur das eine Verlangen: schlafen, schlafen. Sie waren alle da, todmüde und eiskalt.

Ein Stück Land war schon gerodet, man hatte Strünke und Heidegestrüpp abgebrannt, einen Zaun darum aufgeführt, roh aus Fichtenstangen zusammengeschlagen. Nun erhob sich in halber Manneshöhe bereits der Bau.

Die Dörfler standen von weitem, halb neugierig, halb scheu. Man hatte den Frauen und Kindern verboten, nahe heran zu gehen – rumorten nicht jene Gestalten da wie die bösen Geister des Venns, den Sümpfen entstiegen?! Mit unheimlichem Druck lastete diese Nachbarschaft auf Heckenbroich.

Der Bürgermeister bekam in der nächsten Gemeinderatssitzung etwas anzuhören: wofür war er denn Bürgermeister und hatte das Wohl der Gemeinde zu vertreten, wenn er so was zustande kommen ließ? Nicht sicher war man jetzt mehr im eigenen Haus, man mußte zuschließen. Und wie sollte das erst werden, wenn die Beeren reiften im Herbst? Konnte man dann noch Frauen und Kinder sammeln schicken auf das Venn, wo die Verbrecher, die Halunken – Mörder wohl gar – sich herumtrieben?! Lange Jahre hatte man in Frieden im Dorfe gelebt, nun hatte man zu einer Hand das Lager – schlimm genug, daß die Soldaten den Mädchen nachpfiffen, und daß man sich fürchten mußte auf dem eigenen Acker, wenn Scharfschießen war – aber schlimmer noch war das Haus, das sie einem da im Rücken bauten. Das würde man sich nicht gefallen lassen! Hundert Jahre und darüber hatte das Venn den Bauern allein gehört, und nun kam auf einmal die Regierung und legte die Hand drauf und setzte einem Gesindel her, vor dem man sich grausen mußte.

Der Bürgermeister hatte viel zu beschwichtigen. Ganz verschließen durfte man sich doch der Einsicht nicht, daß Anforstungen, gegen die man sich auch erst mächtig gewehrt, jetzt schon das Klima verbessert hatten und dem Wild Schutz gewährten. Diese weiten, öden Strecken von Sumpf und Heide – verlorenes Land – konnten so der nächsten Generation vielleicht schon Wiesen und Kartoffel- und Roggenäcker bieten! Leykuhlen machte viele Worte, aber er überzeugte nicht.

»Dat sinn wohl auch so 'n neumodsche Ideen, Häher Burjermeester? Für eso jet sin mir net zu han. Ihr seid im Jrund jo ooch net dofür!« sagte der Bauer Balthasar Adams vom Hof am grünen Klee, einer der gewichtigsten von Heckenbroich und der höchste Steuerzahler. Er wurde ganz energisch: »Nee, mir bliewe beim Alde. Uns Eltere woren domit zofriede, uns Jrußeltere auch – nu han mer als die Eisenbahn, dat is meh wie jenug!«

Wahrhaftig, da hatte der Adams ganz recht! Es war gar kein Glück, wenn immer alles anders wurde, als es früher gewesen war. Wenn die Regierung helfen wollte, sollte sie lieber der Gemeinde von den Steuerlasten abhelfen, so wäre der Eifel gedient. Dann würde es bald nicht mehr heißen: »Arme Eifel!«

»Aber wir sind ja jar nit arm!« Leykuhlen schlug mit der Faust auf den Tisch. Er ärgerte sich: »Wie könnt ihr dat nur immer nachsprechen! ›Arm, arm‹ – wer dat sagt, kennt unsre Verhältniss' jar nit. Weil wir nit mit allem so voranjejangen sind, darum sagen sie ›arm‹! un wir wären rückständig!«

»Nit mit voranjejangen? Rückständig? Oho!« Nun wurde der Adams noch hitziger, und er war doch sonst ein ruhiger Mann. »Wer säät dann immer, uns Kinder sollen nit nach der Fabrik jonn?!«

»Hm!« Der Bürgermeister räusperte sich; er war über sich selber einen Augenblick im Zweifel. Richtig war's, er hatte immer gegen das Fabrikenlaufen geredet, er war auch dem Landrat schroff begegnet, wenn dieser ihm von Wasserleitung sprach, er schätzte das Althergebrachte, und doch, er mußte gegen das eigene Herz sprechen; von »rückständig« mußte er sprechen. Denn es war eine Kurzsichtigkeit, sich gegen die Kolonisation da oben zu sperren. Erstens gehörte das Venn ja gar nicht der Gemeinde, sondern dem Fiskus, da war überhaupt nichts anzufechten. Zweitens hatten die Gefangenen den Simon Bräuer über sich, einen Aufseher, der mehr in Banden hielt, als Schloß und Riegel; Mörder waren sowieso nicht unter ihnen. Drittens konnte es der Gemeinde nur von Vorteil sein, wenn kolonisiertes Land ihre Ländereien begrenzte. Hat man gutes Wiesenland neben sich, so ist die eigene Wiese auch besser, und hat man Ackerland neben sich, so weht einem der Wind keinen Unkrautsamen ins Korn.

Aber er sprach vor tauben Ohren. Die Bauern schimpften. Ohne Handschlag ging der Bürgermeister von ihnen fort. Sie blieben noch stehen in einem Trüppchen vor der Schule und disputierten laut und heftig untereinander. Leykuhlen sah sich nicht mehr nach ihnen um, obgleich er wußte, daß sie ihn beredeten.

»Mariechen!« rief er übers halboffene Gatter in den Flur hinein.

Es war ein altes Haus, in das er trat. So war das schon zu Lebzeiten von Mariechens Eltern gewesen, und die Großeltern hatten auch so gewohnt, und deren Eltern auch; »1724« stand, aus hölzernen Buchstaben gefügt, über dem niedrigen Eingang, durch den vor nunmehr zwanzig Jahren sie selber eingegangen waren, ein junges, glückliches Paar. Er hatte nichts ändern mögen am alten Familienhaus. So wie einst reichte auch heute noch das Dach an der Seite fast bis zur Erde herab, nur daß man das dickbemooste, grünbraun gewordene Stroh hatte entfernen müssen und statt seiner Schieferplatten gelegt hatte. Nur ungern hatte sich Leykuhlen dazu entschlossen. Aber das Gatter war noch keiner modernen Haustür gewichen, es zeigte noch sein kräftiges Tiefgrün mit den weißen Schnörkelverzierungen und dem schweren eisernen Klopfer in der Mitte. Der Backofen bauchte sich noch aus der Wand heraus wie ein Bienenstock, Kapuzinerkresse und ein Centifolienstrauch klammerten sich im Sommer an ihn und putzten die zartblaue Tünche mit feurigem Gelbrot und sanftem Rosa. Noch so wie einstmals waren die Balken der Länge und Quere nach braun gestrichen und karierten die Außenwände. Stall- und Scheuertüren leuchteten in freudigem Tiefblau. Farbenfroh lag das alte Haus hinter der mehrhundertjährigen Hecke.

»Mariechen!« Leykuhlen war aus dem dunklen Flur in die Küche getreten; auch hier war die Frau nicht. Einsam standen die silberblanken Melkeimer auf der weißgescheuerten Bank; der große, weitbauchige Milchkessel glänzte wie Gold daneben. Wenn sie doch käme! Er sehnte sich nach ihr, heute mehr noch als sonst. ›Bärtes‹, würde sie sprechen und ihm die Hand auf den Ärmel legen, ›hast du dich nicht schon oft über sie geärgert? Aber sei ruhig, sie kommen dir schon wieder, sie können ja gar nichts machen ohne dich – oder ärgerst du dich am Ende über dich selber?‹ Ja, da hatte sie recht, wie immer, wie in allem! Das Herz wallte ihm plötzlich auf, wie einem ganz jungen und noch verliebten Ehemann. Er rief noch lauter, noch ungeduldiger: »Mariechen!«

Die Seitentür öffnete sich, die aus der Küche gleich in den Kuhstall führte, aber es war nur die Magd, die den schwarzhaarigen Kopf hineinstreckte: »Se is nach Huesgens jejangen. De Dores hat als widder die Krämpf. Dat Kathrinche kam se holen!«

Also bei Huesgens war sie? Nun, da ging er ihr eben dorthin nach!

Es litt den Mann nicht mehr allein im Haus, rascher, als er gekommen war, ging er wieder zum Haus hinaus. Eben rasselte ein Wagen auf dem holprigen Pflaster vorüber; so rasch er auch fuhr, er erkannte den Landrat im Fond und trat unwillkürlich hinter seine Hecke zurück. Wo fuhr der hin? Zur Strafkolonie natürlich! Schon ein paar Briefe hatte er vom Landrat erhalten, worin er ihn aufforderte, doch einmal mit ihm dorthin zu fahren. Der interessierte sich sehr für die Kolonisation – wie eben für alles! Mit einem Seufzer, der mehr nach Unlust wie nach Befriedigung klang, sah Leykuhlen dem Wagen nach. Nein, das war heute nicht die Hotelequipage vom Schwan, es war der Krümperwagen oben vom Platz; sie hatten ihm den wohl heruntergeschickt. Der Herr Landrat fuhr zum Diner ins Offizierkasino.

Leykuhlen ging die Dorfstraße abwärts, er atmete auf: nun, der Landrat konnte ihm heute nicht in die Quere kommen! Wenn Mariechen Lust hatte, würde er mit ihr zur Strafkolonie gehen, sehen, wie die Leute da voran kamen. Das Wetter war heute lind, angenehmer als in all den letzten Wochen.

Schon schwollen die Knospen dick und braun und wie glänzend lackiert an den Hainbuchenhecken. Noch schliefen die Farne, die im Sommer so üppig unter den Hecken emporschießen, zu braunen Schnecken zusammengerollt. Es war nur Unkraut, was jetzt grünte, aber es hatte gelbe Blütchen, und jetzt kam ein Kind gelaufen, hatte die ganze Faust voll davon und streckte sie dem Manne entgegen: »Dag, Hähr Burjermeester!«

Er nahm die Blümchen aus der Kinderhand und sah die Kleine freundlich an. Sie war sehr hübsch, hatte ein rundes Gesichtchen mit großen, sanften, tiefschwarzen Augen, aber das runde Gesichtchen war blaß, und die Augen hatten keinen blanken Glanz. Es war etwas Ernstes in dieser Kindheit.

»Ah, du bis et, Kathrinchen«, sagte Leykuhlen. Es war die Elfjährige von Jörres Huesgen. Er griff ihr unters Kinn und hob so das blasse Gesichtchen zu sich auf: »Sag, kocht dein Motter auch alle Dag wat?«

Kathrinchen nickte stumm.

»Wat dann?«

»Kaffee«, sagte sie leise.

»Un Erdäppel?«

Sie nickte wieder.

Aha, gerade so, wie er sich's gedacht hatte! Und dieses zarte Ding würde auch bald in die Fabrik laufen wie seine ältere Schwester, die Bärb, und würde schmalbrüstig werden und den Husten kriegen beim Rennen durch Wetter und Wind. Schade! Der Huesgen Jörres, der seine Not hatte, eins satt zu kriegen, hatte ihrer acht – nein, neun lebendige Kinder, da war ja erst neulich wieder eins angekommen. Und mancher wohlhabende Mann, der sein halbes Besitztum gern dafür hingegeben hätte, der hatte keins! Es zog eine schmerzliche Erinnerung über das kräftige Männergesicht. Wie in einen Traum verloren, sah Leykuhlen in das weiche Kinderantlitz.

Die Kleine stand starr da, das Gesichtchen durch seine Hand emporgehalten; sie wagte nicht, sich zu rühren. Da gab er sie endlich frei. Er holte tief Luft: »So is et!« Und dann, wie sich besinnend: »No, Kathrinchen, sag mal, wat kocht dein Motter dann noch?«

Das Mädchen sah ihn ganz verwundert an: das war doch wohl gut, Kaffee und Kartoffeln und ein Stück Brot – wenn man nur immer genug davon hätte! »Mein Motter is immer krank«, sagte sie schüchtern und tief errötend. »On uns Bärb jeht no'r Fabrik. Ich koche dat. Dat kann ich als!«

Leykuhlen strich ihr übers Haar. »Komm, Kathrinchen«, sagte er und nahm sie an die Hand. Sie gingen so miteinander immer weiter über die lange Straße, aber sie sprachen nicht mehr. Der Mann war in Gedanken, und das Kathrinchen traute sich kein Wort. Es wäre gern davongesprungen, aber erst vor der halb eingefallenen Hecke, hinter der niedrig das Huesgensche Häuschen lag, wagte es, sein Händchen dem festen Griff zu entziehen.

Sich tief bückend, um den Kopf nicht zu stoßen, folgte Leykuhlen dem Mädchen. Die Tür der Stube stand offen, er konnte aus dem Flur, der als Küche diente, gerade dort hineinsehen. Dunstig wie in einem Stall war die Atmosphäre, eine überwarme, dicke Luft in selten gelüftetem Raum. Er konnte sich nicht zu seiner ganzen Größe aufrichten, die schiefe Balkendecke hing ihm beengend überm Scheitel – oder machte ihm das, was er sah, so seltsam heiß?

Drinnen in der Stube neben dem Ehebett, auf dem die Huesgen lag, saß Mariechen auf dem Schemel. Sie hielt das Kleinste auf dem Schoß, ausgebündelt, ganz splitterfasernackt, als sei es eben geboren, und blickte darauf nieder mit einem Lächeln, wie er es nur einmal an ihr gesehen hatte.

»Mariechen!« wollte er rufen, aber er hielt an sich: nein, er wollte sie nicht stören. So war sie ganz in ihrem Element. Auf den Zehen ging er langsam rückwärts hinaus und sah dabei noch immer hin, obgleich er eigentlich gar nicht sehen wollte. Sie selber würde ja niemals mehr ein Kind bekommen, das hatte ihnen der berühmte Arzt in Aachen gesagt, sie hatten sich auch darein geschickt – aber – er seufzte – es war schwer! Zögernd nur entfernte er sich. Und als er schon längst draußen war, sah er noch immer sein Mariechen vor sich mit diesem stillen, seligen und zugleich doch ein wenig schmerzlichen Lächeln.

Ohne daß er es wußte, hatte er den Weg höher hinauf zum Venn eingeschlagen. Er sank plötzlich tief in weichen, schwarzen Moorboden. Das erst stöberte ihn aus seinem Sinnen auf. So oft er auch hier oben gestanden hatte, hinter sich die unermeßliche Weite des Venns, vor sich die Hecken des friedlichen Dorfes, hinter denen die Häuser zu schlafen schienen, er empfand immer wieder die Wohltat dieser Unbegrenztheit, die Beruhigung dieser ungeheuren weltentrückten Stille. Wie sah es jetzt hier aus? Nicht viel anders als sonst; nur daß sie dort, wo der einsame Baum steht, der Galgenbaum, der wie ein dürrer Pfahl ragt und nur im Sommer einen kurzen, nach der Seite gewehten Schopf zeigt, jetzt rohe Balken aufeinandersetzten. Ein primitiver Bau. Hui, mußte der Wind durch die Lücken pfeifen!

Ein harter Zuruf hielt ihn an. Mit starken Schritten kam der Aufseher heran:

»Was wollen Sie?«

Das klang drohend, und selbst, als jetzt Simon Bräuer den Heckenbroicher Bürgermeister erkannte, wurde sein Gesicht nicht viel freundlicher. Der Landrat war so und so oft hier gewesen und hatte ihn aufgehalten, und nun kam der Bürgermeister auch noch angerannt! Widerwillig gab er Auskunft: nun ja, sie waren am Arbeiten. Drainiert mußte der Boden zu allererst ordentlich werden – wo sollte sonst all die Nässe hin? Aber dann, dann – ein freundlicherer Strahl huschte jetzt über das finstere Gesicht – dann konnte es hier wohl was werden. Es mußte was werden!

Leykuhlen hörte die große Energie heraus in Wort und Ton. Bräuer war ihm nie sonderlich angenehm gewesen – er erinnerte sich seiner noch als Junge, und daß er andere Jungen, die ihn auf der Weide täppisch neckten, mit Steinen blutig geworfen hatte – aber jetzt interessierte er ihn. Das war doch ein Kerl, mit dem etwas auszurichten war! Wie kam dieser arme Junge, der nie ein Bröckelchen Land zu eigen besessen hatte, zu diesem lebhaften landwirtschaftlichen Interesse?

»Wenn wir nach dem Drainieren den Boden umbrechen, schiffeln und kalken, dann sollen wir wohl wat heraus kriegen. Wo Vennheu wächst, ist am End auch Kleeheu zu kriegen«, sagte Bräuer jetzt ganz von selber. Man merkte es ihm an, wie diese Idee ihn erfüllte. Mit einem scharfen Blick sah er sich um, hob seine Rechte und machte eine weitumfassende Bewegung: »Wer hat dat je erlebt, Roggen und Hafer auf dem hohen Venn?!«

»Oha!« Leykuhlen lächelte: das waren denn doch noch weitaussehende Pläne!

Aber wie beleidigt fuhr der andere auf: »Da is nix zu lachen. Wenn Sie et nit jlauben, wat kommen Sie dann hierhin? Un ich sag Ihnen: hier wächst Hafer!« Er hob wiederum die Hand und zeigte wie ein Gebieter über die unwirtliche Fläche: »Und hier wächst Roggen! – – – Voran, ihr Kerls!« Unsanft fuhr er ein paar Gefangene an, die langsam, schlorrenden Schritts eine schwere Karre voll Steine zum Bau hinschafften.

Der eine hatte sich vorgespannt, der Strick schnürte ihm die Brust ein; er zerrte mit vorgestrecktem Halse, die Augen waren ihm herausgequollen, die Sehnen zum Reißen angespannt. Tief sank das Gefährt in den schlammigen Boden ein. Der andere stieß von hinten dagegen, den Kopf ganz tief zwischen die Schultern gezogen, wie ein Tier fast auf Vieren laufend. Jetzt blieben sie stecken.

»Voran!« Simon Bräuer hob befehlend den Arm. »Voran, ihr Faulenzer!«

Da duckte sich der hintere, der für ein paar Augenblicke sein blasses, schweißbedecktes Gesicht emporgehoben hatte, wieder, und der vordere ruckte an, wie ein marodes Pferd zur letzten verzweifelten Anstrengung angepeitscht. Der Karren schob weiter.

»Schwere Arbeit hier«, sagte Leykuhlen. »Bräuer, werden Ihnen die Leut denn nit krank?«

Das unerbittliche Gesicht verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Fünf Schwachmatikusse hab' ich nach Aachen zurückgeschickt, hab' andere Leut dafür jekriegt. Et sitzen ihrer ja jenug hinter Schloß und Riegel, die jern heraus wollen. Is hier doch immer noch besser in freier Luft, wat, Jacobs?« schrie er den jungen Menschen an, der den Karren geschoben hatte, und jetzt, am Bau angelangt, sich emporrichtete und die steifgewordenen Arme umeinanderschlug. »Is doch besser hier als im Kaschöttchen?«

Es kam keine verständliche Antwort, ein heiseres Husten erstickte sie. Aber der Sträfling nickte und machte sich daran, die Steine abzuladen.

Sah der Mensch elend aus! Und ein unangenehmes Gesicht, die richtige Verbrecherphysiognomie! »Wat hat der denn pekziert?« fragte Leykuhlen halblaut. Es überlief ihn plötzlich eine schaurige Empfindung: dem möchte man nichts Wehrloses in den Weg schicken auf einsamem Venn. Diese roten Haare, diese abstehenden Ohren, diese unsteten Augen in dem abgezehrten, sommerfleckigen Gesicht! So konnte sich ein ängstliches Gemüt wohl einen Mörder vorstellen. »Wat hat der denn verbrochen?«

»O – – – –!« Bräuer zuckte gleichgültig die Achseln. »Wird wohl nur wegen Wechselfälschung oder Mundraub oder vielleicht wegen Sittlichkeit seine paar Jährchen jekriegt haben – weiß nit. Wer kann dat all behalten! Aber wenn Sie et jern wissen wollen – Jacobs!« Er winkte.

»Nee, nee!« Leykuhlen legte ihm rasch die Hand auf den Arm. »Ne, nit vor mir!«

Der Aufseher lachte: »Daraus macht sich so 'ne Kerl doch nix. Der hat so seine Sünden anzuhören jekriegt, bis auf Herz und Nieren is der ausjezogen worden im offenen Jerichtssaal, dat et dem janz Wurscht is, wat ich ihn hier frag, oder Sie. Dem is dat viel ärger, wenn Ihre Dorfmädchens ihn anjaffen wie ein wildes Tier und die Jungens hinter ihm dreinkreischen – Mädchens, mit denen er sonst poussieren würd, Bengels, mit denen zusammen er Kegel schieben würd. Dat is viel schlimmer für so einen, als wenn wir ihn fragen. Wir wissen doch auch, wat Versuchung is!«

»Sie haben recht!« Ganz betroffen sah Leykuhlen den Aufseher an: der Bräuer war doch nicht so roh, wie es den Anschein hatte. »Sie haben Verständnis für Ihre Leute!«

»No, wenn ich dat nit hätt! Herr Burjermeister, wenn Sie sich aber interessieren, so schaffen Sie mir doch ein paar Bund Stroh!« Es kam etwas wie eine Bitte in die harte Stimme. »Die Kerls liegen hundsmiserabel. Un wenn ich wat alte Leinwand kriegen könnt. Die Halunken verschweinigeln sich die offenen Frostbeulen mit Absicht, sie denken, wenn sie humpeln, dann brauchen sie nit zu arbeiten – aufjepaßt!« brüllte er plötzlich einen Sträfling an, der sich eben verstohlen bückte, um mit der hohlen Hand Wasser aus einer Lache zu schöpfen. »Hab' ich nit verboten: jetrunken wird nit?!«

Erschrocken fuhr der Sträfling zurück. Er stammelte etwas von »Durst«.

»Wenn du Bauchschmerzen kriegst, scheuer ich dir noch die Huck«, schrie der Aufseher böse.

»Sie sind sehr streng«, sagte Leykuhlen vorwurfsvoll. Es stieß ihn plötzlich wieder etwas von dem Manne zurück.

Aber der Aufseher zuckte die Achseln: »Wenn ich nit streng wär, könnten wir einpacken hier. Entweder, sie gingen mir alle ein, oder sie schlügen mich tot.« Damit kehrte er sich kurz um und ließ den anderen stehen.

Leykuhlen sah ihm nach, wie er mit starken Schritten auf die andere Seite des Bauplatzes ging und dort ein paar Sträflinge aufjagte, die sich in einem wärmenden Sonnenstrahl auf einem Balken niedergekauert hatten. Er sah sie auseinanderfahren wie Hühner, zwischen die der Habicht stößt. Arme Teufel! Es war nun schon Ende April, ab es war doch noch recht kalt.

Ein Wind ging, der selbst den an Vennluft Gewöhnten durchschauert. Und so braun, so dürr noch das einsame Land!

Eine von ihm selbst nicht verstandene Traurigkeit senkte sich plötzlich auf Leykuhlens Seele. Der Himmel trüb, schwere Wolken hatten jetzt jedes Strählchen von sonnigem Licht verjagt; die Luft war wie Rauch, voll von beklemmendem Nebeldunst. Wo waren Städte und Menschen, fröhliche Menschen, und fruchtbare Felder? Fern, sehr fern! Noch war kein Frühling im dunklen Moorland.


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