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14.

Nun waren sie wieder allein. Josef sagte es sich mit tiefem Aufatmen; aber ein bitterer Nachgeschmack war ihm doch geblieben: wie geschmacklos von Heinrich, ihm noch beim Aufsteigen auf den Wagen, als er Abschied nehmend am Tritt stand und Bärb in der Tür, mit dem Finger zu drohen und dann nach dem Mädchen hinzublinzeln: »Vorsicht, alter Junge!« Und dieser Scheffler hatte dazu gegrient. Gräßlich, gräßlich! Ein Glück, daß die Bärb Heinrichs Anspielung nicht verstanden hatte.

Sie war unbefangen wie immer. Aber Josef war es nicht mehr. Fast scheu ging er ihr aus dem Wege. Warum kam sie denn immer herein und störte ihn und wollte schwatzen? Er wollte nichts wissen. In Ruhe lassen sollte sie ihn! Zum erstenmal, seit sie miteinander hausten, fuhr er sie unwirsch an, und hernach tat es ihm doch wieder leid; es kam ihm vor, als hätte sie rotgeweinte Augen. Er entschuldigte sich. Aber da stellte es sich heraus, daß sie gar nicht deswegen geweint hatte. Oh, der Herr Josef konnte schelten mit ihr, soviel er wollte, der war wie ihr Vater! Dabei sah sie ihn mit ihren schönen Augen so treuherzig an, daß ihm das Blut zu Kopf schoß. Sie war wirklich rührend in ihrer Demut; aber zugleich ärgerte er sich, daß sie ihn auf dieselbe Stufe mit ihrem Vater stellte: zählte er auch vielleicht an Jahren nicht viel weniger als der Weber, es war doch etwas anderes mit ihm als mit diesem abgearbeiteten, verbrauchten Mann. Unwillkürlich richtete Josef seine schlanke, noch sehr elastische Figur stramm auf und strich den Schnurrbart, dessen Blond noch nicht wie das des Kopfes mit Grau untermischt war. Wenn sie nicht deswegen geweint hatte, warum denn? Da errötete sie und stammelte verlegen, daß sie gern wieder einmal herunter zu den Ihren möchte. Und vor allem in die Kirche. Nun, seit sie den Bürgermeister gesehen und gehört hatte, standen das Dorf mit seinen Hecken, das Elternhaus mit all den Geschwistern, die Kirche mit ihrem Turm so lebendig vor ihr, daß es sie zog an Händen und Füßen. Die Tränen kamen ihr schon wieder.

Da stieß er rasch heraus: »Geh, geh, wenn du willst, ich habe dir doch nichts in den Weg gelegt. Geh!« –

Sie war am Sonntag aufgebrochen in aller Morgenfrühe, noch war es nicht hell. Er hatte sie aufstehen hören und in der Kammer hin und her gehen. Es war ihm ganz recht, daß sie fortging; nun genoß er doch einmal die Einsamkeit ganz. Er blieb noch eine Weile liegen. Sonst störte ihn oft am Morgen ihr Klappern in der Küche; heute hörte er nichts. Nicht ein Atemzug war im Haus. Heute hätte er schlafen können bis in die Unendlichkeit, aber heute konnte er nicht. Gähnend raffte er sich auf: rasch nur heraus! Die Sonne schien, es war noch ein guter Tag. Und im Hause würde es heute wohl etwas frostig sein. Aber als er ins Wohnzimmerchen kam, knisterte dort das Feuer, und in der Küche stand der Kaffee für ihn warm. Es war alles wie immer, nur das bräunliche Gesicht mit den schwarzen Augen fehlte, das ihm sonst alle Morgen zulächelte. Wie sehr man sich an jemanden gewöhnen kann!

Den ganzen Tag trieb sich Josef draußen umher. An das Essen dachte er nicht. Nun war er Robinson, nun lebte er auf einer wüsten Insel; er hatte sich das als Knabe immer gewünscht. Und doch wollte das knabenhafte Entzücken sich heute nicht mehr einfinden. Wohl fühlte er einen Schauer, als er allein, ganz allein auf dem kleinen Wiesenplan stand – weltenfern die Stätten der Menschheit – als er, einsam unter den schwarzen Tannen dahinschreitend, deren Wurzeln tief ins Moor hinabreichen, sich sagen konnte: wenn du jetzt rufst, es hört dich keiner. Aber es war ein leises Unbehagen in diesem Schauer.

Huh, war das eine Öde! Er war durch eine Lücke aus den Tannen heraus ins Freie getreten. Hier war die Jagdkanzel oben auf dem Baum, von hier aus hatte Heinrich neulich den großen Hirsch geschossen, als der draußen im offenen Venn stand und ins Freie orgelte. Ein Blitz, ein Knall, das Tier hatte das stolze Haupt geschüttelt – ein Satz – hier hatte es sich noch davongeschleift – noch jetzt, nach Tagen, sah man die Fährte hundert Ellen weit. Und hier war der Hirsch zusammengebrochen. Ein brillanter Schuß.

Josef sah den getrockneten Schweiß auf dem Moos und wendete sich rasch ab; die Lust war ihm vergangen, hier zu spazieren. Er kehrte in den Tannenwald zurück. Aber aus dem Dickicht wechselte plötzlich eine Wildsau, und wenn er sie auch nicht fürchtete, es war doch kein angenehmes Gefühl, ohne Flinte, ohne jegliche Waffe, selbst ohne Stock zu sein.

Wohin er sich heute auch wendete, es behagte ihm nicht. Das war ja noch dieselbe unendliche Weite, die wie die Heide der Niederung erscheint, fast flach, nur leise wellenförmig bewegt, und auf der man doch nie vergißt, wie hoch, hoch oben man ist. Blauer Horizont grenzte ihr purpurnes Braun ein. Und dahinten, da weit, da ganz unten waren die Berge, die Flüsse, die Täler, Menschen wohnten da, lachten und freuten sich, kämpften und litten! Das war alles noch wie sonst. Hier war nur die Einsamkeit. Aber sie ging wie eine graue Frau mit gesenktem Kopf über das dämmernde Moorland und wob am Netze der Schwermut, dem niemand entrinnt.

Josef fühlte eine tiefe Bangigkeit. Es saugte ihm etwas an der Seele.

Ein Stein lag mitten im Heidebraun, halb eingesunken, und doch noch fast so groß wie ein Haus. Es gab deren viele im Venn, sie sollten einstmals vom Himmel heruntergefallen sein. Er kroch auf den lagernden Block, setzte sich oben nieder und starrte ins Weite.

Was sollte werden? Ewig konnte er doch nicht hier oben bleiben, denn wenn Bärb einmal fortging von ihm, dann blieb auch er nicht mehr auf der Fangeuse. Nein! Er schüttelte den Kopf, und dann lächelte er wehmütig: sie würde ja einmal fortziehen, sie mußte doch heiraten, solche Mädchen heiraten immer. Ob sie heute recht glücklich war bei den Ihren? Sicherlich. Er hatte ihr Geld geschenkt; das würde sie nun der Mutter schenken, und den Geschwistern würde sie etwas kaufen, was sie nur Schönes im Dorfladen fand. Es würde da unten ein Jubel sein. Schade, daß er das nicht mit ansehen konnte! Bärb konnte sich freuen wie ein Kind.

Ein plötzliches Frösteln überfiel ihn: huh, war das kalt! Nun fühlte er, daß er ganz erstarrt war, Hände und Füße waren wie abgestorben; der Vennatem hatte ihn durchhaucht. Durch die graue Luft kam's angeflattert mit klatschendem Flügelschlag und klagendem Ruf. Das waren die Moorhühner, sie strichen ihm um den Kopf, trübselig und graufarben wie Venngedanken. Er sprang auf. Die Heide hatte abgeblüht, dahin war der Schimmer. Fort, nur fort, daß er aus der endlosen Weite fortkam zu begrenzterem Raum! Hier war zuviel Raum, zuviel Endlosigkeit. Er ertrug sie heut nicht.

Wie ein Zerschlagener kam er heim. Und dann fing die Ungewißheit an, ihn zu peinigen: ob sie nun bald kam, oder erst spät auf den Abend? Oder ob sie gar am Ende erst morgen früh wiederkam? Wer weiß, die Ihren hatten sie nicht mehr fortgelassen, es wurde ja schon dunkel! Wenn sie nun nicht bald kam, ging er noch einmal hinaus und ihr entgegen.

Der Wind, der den Tag über geweht hatte, war zum Sturm geworden. Mit einer Gewalt schnob er von Westen her, daß selbst die Hecke aus armesdickem Astwerk ihn nicht abhalten konnte. Das Haus erzitterte, die Türen sprangen auf, im Schlot erhob sich ein Winseln und Heulen. Die Tannen ächzten.

Der Einsame stand am Fenster und versuchte, den Himmel zu beobachten, aber die ragende Hecke schnitt ihm jeden Ausblick ab. Im Zimmer war es dunkel. Rastlos schritt er auf und nieder. Eine dumpfe Traurigkeit schien über diesem Erdwinkel zu lasten, eine plötzliche Trostlosigkeit machte seine Seele erschauern; wie gejagt, wie vor sich selber fliehend, stürzte er zur Tür, riß sie auf. Aber ein Zugwind klatschte sie wieder zu. Er saß drinnen wie gefangen. Es fing an zu regnen. Er hörte die gepeitschten Tropfen hart gegen die dürre Hecke rasseln. Da war nun auch bald das letzte Blatt heruntergeschlagen, Sommer und Herbst waren hin, der Winter war da – wie würde er ihn überdauern?!

Zum erstenmal kam auch ihm der Zweifel, den alle anderen schon gehabt hatten: würde er's auch aushalten hier oben?! Er lehnte sich niedergeschlagen gegen die kalte Wand im dunklen Flur und seufzte. Eine lange, lange Reihe öder Tage gähnte ihn an – da hörte er plötzlich draußen, in der atemschöpfenden Stille zwischen zwei lärmenden Windstößen, einen hurtigen Tritt. Die Tür flog auf, Bärb wehte herein mit zerzausten Haaren, das bunte Kopftuch im Nacken, durchnäßt, erhitzt.

Ihre Augen strahlten ihn an, der dunkle Flur war auf einmal nicht mehr so dunkel. »Do bin ich!«

Er konnte nicht an sich halten – er war ja so froh, sie wieder zu haben – er riß sie heftig mit beiden Händen zu sich heran und küßte sie.

Sie ließ sich den Kuß gefallen; sie leistete nicht den geringsten Widerstand, als er hastig, wie verdurstet, seine Lippen auf ihren Mund drückte. War dieser Mund frisch, den hatte noch kein anderer vor ihm berührt! Das Blut stieg ihm siedend zu Kopf, er fühlte sich auf einmal wie neu belebt, verjüngt – – – aber dann wich ihm alles Blut jäh aus dem Gesicht zurück: nein, das durfte nicht sein, dieses Mädchen durfte er nicht küssen! Alle, alle Mädchen der Welt – aber diese, diese hier nicht!

Mit Mühe unterdrückte er das Beben seiner Stimme und zwang sich zu ruhigem Ton: »Nun, mein Kind, war's schön zu Haus?« Und dann drehte er sich von ihr ab, ging zur Stube hinein und machte die Tür hinter sich zu.

Aber sie kam ihm nach. Ihr Herz war zu voll, sie mußte es ihm erzählen, wie gut es der Mutter jetzt ging, wie das Kleine trefflich gedieh, wie die Maiblum so reichlich Milch gab, daß sie alle Tage Suppe kochen konnten, und daß Kathrinchen vom reichen Adams außer den Schuhen noch ein Extratrinkgeld bekommen hatte, weil von den Kühen, die sie im Sommer hüten gegangen, keine, aber auch gar keine zu Schaden gekommen war. Nun konnte das Kathrinchen nicht mehr hüten, nun ging es wieder in die Schule. Und auf des Dores Grab war ein Kreuzchen gekommen, darauf stand zu lesen:

»Vater, Mutter, tröstet euch,
Ich bin jetzt im Himmelreich!«

Nun weinte die Mutter auch nicht mehr. Sie betete alle Abend zur allerheiligsten Mutter von Lourdes, und alle Morgen zum heiligen Willibrord; zu den zweien, denen sie am meisten zu danken hatte.

Bärb lachte froh: ja, wenn der Mutter nicht dazumal, gerade als es ihr am allerschlechtesten ging, die heilige Frau an der Ley begegnet wäre, wer weiß, ob sie, die Bärb, dann nach Echternach springen gegangen wäre! Sie sprach es gedämpft, wie mit andächtiger Scheu. Und ein nachdenklich-ernsthafter Zug, der ihrem harmlosen Gesicht sonst fremd war, ließ es älter erscheinen.

Josef hatte gar nicht recht hingehört auf das, was sie sagte. Im Lehnstuhl saß er, hatte den Arm auf die Seitenlehne gestützt und beobachtete sie hinter der vorgehaltenen Hand. Wie hübsch sie aussah, wie besonders hübsch! Auf ihren bräunlichen Wangen glühte ein tiefes Rot, ihre Augen waren feucht. Es gab vielleicht Schönere! Josef schloß einen Moment lächelnd die Augen, Gestalten huschten an seiner Erinnerung vorüber. Er hatte viele schöne Frauen gekannt, die Welt war weit, aber so, wie dieses Mädchen hier, hatte ihm doch keine gefallen.

»Geh«, murmelte er – er war ganz heiser – »geh, zieh dich um, du bist ja ganz naß. Ich will allein sein!«

*

Das wurde eine böse Nacht. Waren denn alle Geister des Venns lebendig geworden und jammerten?

Josef hörte das Mädchen ruhig atmen – oh, die focht nichts an! Aber ihn. Er fluchte dem Lärm draußen, er fand keinen Schlaf. Oder war es etwas anderes, das ihm die Ruhe verscheuchte? Ihm war es heiß, glühend, trotzdem es kalt in der Kammer war; der Wind schnob durch alle Ritzen bis hin an sein Bett. Und dem Toben draußen gesellte sich der Aufruhr innen. Er schlug sich wütend mit der flachen Hand gegen die Brust, so heftig, daß ihn ein Husten erschütterte. Sollte es nun auch schon wieder aus sein mit ihm hier an diesem Platz? Sollte er so rasch wieder das Leben hier aufgeben, es wechseln, wie man ein Kleidungsstück wechselt, das man noch gar nicht zu Ende getragen hat? Er war verzweifelt über sich selber. Alter Tor! Ja, Heinrich hatte ganz recht, der wußte besser Bescheid über ihn, als er über sich selber: er taugte zu nichts. Er hatte keine Energie. Nicht einmal diesem hier war er gewachsen. Und – aber was war denn eigentlich weiter dabei, daß er der schönen Bärb einen Kuß gegeben hatte? Sie würde den bald vergessen. Vielleicht hatte sie ihn schon vergessen, ihn kaum gefühlt.

Er lauschte angestrengt: ob sie wirklich so ruhig schlafen konnte? Es wurmte ihn, es kränkte ihn. Wie es an der Hecke riß, an den Läden klapperte! Jetzt stürzte ein Dachziegel – krach. Aha, jetzt rührte sie sich! Jetzt tat sie einen zitternden Seufzer! Jetzt stammelte sie: »Jesus Maria!«

Josef saß im Bett aufrecht, umstürmt und durchstürmt. Mit einer jähen Aufwallung von Freude hatte es ihn durchzuckt: ah, sie konnte auch nicht schlafen! Aber gleich darauf schämte er sich dieser Freude: nein, alle Nacht sollte sie einen so friedlichen, unschuldigen, ungestörten Schlaf haben, den harmlosen Schlaf der Kindheit.

Josef hatte Tränen in den Augen. Er war froh, daß es draußen gewaltig stürmte, so konnte er es sich doch selber weismachen, daß er deshalb nicht schlafen konnte. Mochte sie nebenan schlafen oder nicht schlafen, ruhig atmen oder zitternd seufzen, er versenkte sich ganz in das Toben der Nacht. Wie mußte das Haus der Strafkolonie, das einsame Haus ohne Hecke, sich ducken! Zitternd hockten die Menschen darin; mußten sie nicht wähnen, weggefegt zu werden, nicht denken, Weltuntergang sei da?

Es toste in den Lüften, es brüllte und lärmte. Jetzt rollte ein Getöse sich vom Grenzbach herauf. War das ein gewaltiger Hirsch, der da in den Tannen orgelte? Nein, der Sturm, der Sturm. Er übertönte alles Sterbliche. Das war eine ohrenbetäubende Musik, die Musik des jüngsten Gerichts. Wohl dem, der sie hören konnte mit reinem Herzen!

Die Bärb schlief wieder ganz fest – horch, wie sie gleichmäßig atmete! Ja, die hatte nichts zu bereuen. Aber die armen Strafgefangenen! Huh, wie sie zitterten in ihren Leinenkitteln, aufgestanden waren sie alle, der barsche Aufseher hatte sie aufgetrieben; sie wußten ja nicht, ob das Dach ihnen nicht über den Köpfen aufflog.

Josef stellte sich die nächtlichen Gestalten deutlich vor – ein zitternder, erbärmlicher Spuk. Er versuchte wieder das alte Mitleid mit ihnen zu finden, und fand zuletzt doch nur Mitleid für sich allein. War es nicht scheußlich für ihn, hier einsam zu liegen und sich so zu quälen? Wenn er nun aufstünde, wenn er nun einträte nebenan –? Er kniff die Augen zusammen und preßte die beiden Hände gegen das Gesicht. Nein, das wäre gemein!

So lag er kämpfend, lange, lange, bis das Brüllen im Venn nachließ, bis es aber auch schien, als sei kein Ziegel mehr auf dem Dach, kein Laden am Haus mehr, kein Blatt mehr an der Hecke und auch keine Tanne mehr im Forst. Resigniert schlief Josef endlich ein.

Die Stimme Bärbs weckte ihn. Es klopfte an seiner Kammertür: »Herr Josef, Herr Josef, nu steht aber auf, et is schon spät!«

Was, schon spät? Es war ja noch dunkel! Er sprang aus dem Bett. Was wollte sie denn, konnte sie ihn denn nicht wenigstens jetzt in Ruhe lassen?

Bärb lachte fröhlich: »Et is am schneien, arg am schneien! Wir schneien ein!« –

Und sie schneiten ein.

Die Tannen hatte der Sturm nicht weggefegt, noch standen sie unversehrt, aber nun schienen sie doch fast brechen zu müssen unter Schneelasten. Ihre Wipfel neigten sich demütig tief. Schnee, Schnee, Schnee, alle Tage und alle Nächte. Die Stürme schwiegen. Ganz ohne Geräusch, samtweich, sank der weiße Flaum und schichtete sich höher von Stunde zu Stunde. Man sah ihn steigen wie die Flut, unwiderruflich, unentrinnbar; aber eine Ebbe kam nicht.

Erst hatten sie wacker geschafft auf der Fangeuse. Sie hatten sich Ein- und Ausgang freigehalten; Josef half der Magd täglich einen Gang schaufeln, von der Haustür bis zum Heckenausgang, von da zum Brunnen, und von da weiter bis hin zum Wiesenplan. Er war in den ersten Tagen tüchtig umhergestapft und hatte sich nicht satt sehen können an der reinen, makellosen Weiße; es war ihm, als lägen auch alle Wünsche und Begierden unter dieser Decke und schlummerten ein. Aber das stete Weiß tat bald seinen Augen weh, sie brannten und flimmerten; die ungeheure Monotonie des Weiß fing an, ihn zu langweilen, mehr als das, ihn zu beängstigen. Er fühlte eine heimliche Angst. Vor was? Er hätte sie nicht erklären können. Aber die Angst war da, er fühlte sie genau, sie war keine Täuschung. Sie lauerte auf ihn in der endlos-unabsehbaren Einöde von Schnee, hinter diesen weißen, tiefgeneigten Tannen, in diesem Haus, das versunken lag hinter einer Mauer von Schnee. Die Hecke war zum Schneewall geworden. Grau war die Luft, die Ferne verhangen; man war wie geschieden von allem, was lebt, durch eine graue Wand. Man wußte, da unten tief lagen Städte und Dörfer, in denen Schlöte rauchten und Menschen wohnten, aber zu sehen war nichts von ihnen, gar nichts.

Die Post blieb aus.

Im Haus war's warm; an Heizmaterial hatten sie keinen Mangel, Holz und Torf genug. Nun war es eigentlich gemütlich in der starkgeheizten Stube, die Fenster liefen an, man konnte nicht einmal die Hecke draußen mehr sehen. Und es wurde am Mittag schon dunkel; frühe Dämmerung sank nieder, ebenso lautlos und geisterhaft still wie der großflockige weiße Schnee. Am Himmel zwängte kein Stern sich durch, einzige Helle gab nur noch der Schnee; aber diese Helle war kein Licht, sie war nur bleicher, matter, gespenstischer Widerschein. Und nirgend ein Laut.

Josef schrak zusammen, wenn Bärb etwas sprach. Sie saß jetzt fast den ganzen Tag hier innen. Verstört fuhr er dann von seinen Büchern auf. Er hatte lesen wollen und las doch nicht; er hatte geträumt. In solcher Abgeschiedenheit müßte es schön sein, sehr schön, wenn man glücklich ist!

»Und so ist es immer bei euch, alle Winter?«

Sie lachte und nickte: ja, so war's immer.

Über acht Tage hatte man nun schon keine Kunde mehr, daß es noch eine Welt gab. Die da unten hatten ihn wohl ganz vergessen?!

Es war eine Erlösung, als endlich, an einem Mittag, der Briefträger erschien. Mit einer an Gier grenzenden Eilfertigkeit riß Josef den Brief auf, den er erhielt. Heinrich schrieb, man hätte Schnee unten, da hätte man gewiß oben noch viel mehr Schnee, ob Josef nicht lieber herunterkommen wollte? Er sollte Nachricht geben durch den Mann, damit ihn ein Schlitten holen käme.

Sehr nett von Heinrich! Aber, aber – Josef sah nach Bärb hin. Sie saß auf der Bank unterm Fenster und sah zu, wie es dem Boten, dem sie eine Tasse Kaffee heiß gemacht hatte, schmeckte. Wie blühend sie aussah, wieviel gesünder und runder, als da sie noch unten in der Fabrik arbeitete! Dann würden sie wieder dort arbeiten müssen – nein, es war nicht möglich, daß er ging! Um Bärbs willen nicht. Er mußte aushalten.

Er gab dem Briefträger die Antwort an Heinrich mit: es gefiele ihm noch ganz gut, noch immer sehr gut, und wenn es bald aufhören würde, zu schneien, würde es sogar herrlich sein. Nein, er dachte gar nicht daran, hinunter zu gehen! Mit einem gewissen Trotz schloß er das Kuvert. Sie sollten auch nicht sagen, daß er nicht standgehalten hätte.

Mit der Miene eines Siegers übergab er dem Boten den Brief. Als aber der Mann fortgestampft war, hätte er ihn gern zurückgerufen.

Bärb hatte die weiße Katze auf den Schoß genommen; der Winter hatte das halbwilde Tier ins Haus getrieben. Nun sah Josef, wie sie sich anschmiegte, wie sie schnurrte; er hörte, wie das Mädchen sie mit zärtlicher Stimme liebkoste. »Heraus mit dir!« Unsanft jagte er das Tier aus dem Zimmer. Aber als ihn dann Bärbs Augen vorwurfsvoll anblickten, ging er hinaus, der Katze nach, und versuchte, sie wieder hereinzulocken. Doch sie kam nicht. Auf der steilen Leiterstiege, die zur Dachluke führte, saß sie und miaute kläglich. Er kletterte ihr nach, er kletterte bis aufs Dach; da jagte die Katze über die verschneiten Ziegel, lief hinüber bis zur Hecke, die mit dem Dach jetzt fast eine Schneefläche bildete, und er konnte ihr nicht mehr nach.

Nun hatte er Bärbs einzige Unterhaltung verjagt, nun hatte sie gar nichts mehr, was sie zerstreute. Es tat ihm leid. Er fand nicht den Mut, sie zu fragen, ob es ihr langweilig sei, öde und traurig? Wenn sie »ja« sagte, würde er sich ärgern – und wenn sie »nein« sagte, was dann? Lieber nicht fragen! Er glaubte in ihrem Blick etwas zu sehen, was er früher nicht darin gefunden hatte. Ihre Augen glänzten so weich, so vertraulich. War es nicht natürlich, daß sie das Verlangen nach Vertraulichkeit hatte? Sie hatte nicht Vater, nicht Mutter hier, nicht die Geschwister, nun nicht einmal das Kätzchen mehr. Wer weiß, vielleicht hatte sie auch einen Schatz da unten – was wußte er denn von ihr? Er beobachtete sie verstohlen. Oft, wenn sie im dämmernden Licht, das die kleine Lampe verbreitete, auf der Bank saß, ließ sie jetzt ihr Strickzeug sinken und sah mit leicht geöffnetem Mund, mit halbgeschlossenen, träumenden Augen ins Leere. An was dachte sie – und an wen? Ein Gefühl, das er nicht Eifersucht nennen wollte, und das doch Eifersucht war, durchzuckte ihn. Ja, sie hatte einen Schatz! So blickt ein verliebtes Mädchen. Und wenn sie vielleicht auch jetzt keinen hatte, so hatte sie doch einen gehabt. Daß er das früher nicht gesehen hatte! In diesen Augen, die so rund und harmlos in die Welt blickten, versteckte sich in der Tiefe etwas, das in keinem Kinderauge zu finden ist. Nun ja, sie war eben in den Jahren!

Er grübelte über sie; er lag förmlich auf der Lauer. Bald war es ihm, als dürfe er die Hand nach ihr ausstrecken, ohne unrecht zu tun, und bald verwies er sich schon diesen Gedanken hart. Nein, sie war noch ganz Kind, noch ganz unschuldig – wie sagte doch Leykuhlen? »Hier braucht man nicht bange zu sein, so was ist ausgeschlossen bei uns!«

Er sah wieder nach Bärb hin: träumte sie? Nein, sie träumte nicht. Ruhte nicht auf ihm, auf ihm ihr Blick, sinnend, glänzend, zärtlich?

Da schrie er sie an: »Hast du einen Schatz?« Und als sie nicht gleich antwortete, sondern die Augen rasch abwandte, vor sich niedersah, verwirrt und dunkelrot, da schrie er noch einmal, in unverständlicher Heftigkeit mit dem Fuß aufstampfend: »Willst du's mir wohl sagen! Oder hast du etwa einen Schatz gehabt?«

Er war aufgesprungen, er stand nun bei ihr und packte sie fest am Arm.

Ihr Arm war sehnig und stark, trotz der Schlankheit, aber nun sagte sie leise: »Au, Ihr tut mir weh!«

»Äh was, weh!« Er lachte grell. Er war plötzlich ein ganz anderer.

Sie sah scheu erschrocken zu ihm auf: was machte der Herr Josef denn für ein Gesicht?

Finster sah er auf sie nieder, all die Güte war aus seinem Gesicht geschwunden. »Hast du einen Schatz?« Er murmelte es fast drohend, ließ den Blick von ihr, schaute, blaß werdend, zu Boden und nagte an seiner Lippe. Wenn sie jetzt sagen würde »ja« – keinen Augenblick würde er sich dann mehr besinnen. Warum denn auch? Nehmen würde er sie, wie eine fällige Frucht, die gepflückt zu werden verlangt.

Aber sie sagte: »Nee!« Ernsthaft schüttelte sie den Kopf, fast traurig: »Nee, Herr Josef, ich hab' keinen Schatz, dat könnt Ihr mir jlauben.«

Da ließ er ihren Arm, den er noch immer krampfhaft gepackt hielt, fahren. Er stieß sie fast von sich. Knäuel und Strickzeug und Nadeln rasselten zur Erde, verwirrt bückte sie sich und raffte alles zusammen. Sie eilte hinaus, aber als sie schon in der Tür stand, schickte sie noch einen Blick nach ihm zurück, der ihm zu denken gab. Warum war sie so flammendrot, warum so erschrocken? Warum waren ihre Augen so eigentümlich? Ihre Blicke so unsicher? Sollte sie ihn belogen haben?!

Gleich darauf hörte er draußen ihre kosende Stimme. Hatte die Katze sich wieder eingefunden? Er hätte gern gewußt, mit wem sie so redete. Aber er traute sich nicht hinaus. Diesen Abend ging er früher zu Bett denn jemals, und als nebenan die wurmstichige Bettstatt zu knarren anfing, da zog er sich die Decke bis über den Kopf und steckte sich die Finger in die Ohren. –

Wenn man nur Menschen zu sehen bekäme, Menschen! Der Schnee fiel nicht mehr, aber er lag fest; er lastete mit schwerer Decke, unter der sich kein Weg abzeichnete und auch kein Grenzstein. Nirgendwo gab es ein Merkmal mehr, nach dem man sich richten konnte. Es trieb den Einsamen aus dem Haus. Und war es auch in dem kristallenen, körnigen Schnee, den niemand zusammengetreten hatte, der wie trockener Sand, lose und rinnend, in eisiger Kälte bis zu den Knien aufstieg, ein mühseliges Fortkommen, er wollte es doch versuchen. Bis hin zur Chaussee wenigstens, da mußte doch mal ein Lastwagen fahren oder die Post kommen. Alles konnte doch nicht ein Ende haben. Da würde er dann in den Räderspuren leichter weitergehen. Vielleicht auch, daß er einen Menschen antraf, einen Grenzjäger, einen Waldhüter, einen Förster, nur irgendeinen. Nur einmal ein anderes Gesicht sehen, als ewig, ewig das des Mädchens!

Er floh vom Haus. Aber weit war er noch nicht gekommen, als er schon fühlte, daß ihn alle Glieder schmerzten, daß in seiner Brust der Atem keuchte. Er hielt an in dem tiefen Schnee. Ringsum Totenstille. Er drehte den Kopf nach allen Seiten: kein Mensch, nicht einmal Wild. Kein einziger dunkler Punkt, den das Auge hätte erhaschen können in der Unendlichkeit des verschneiten Venns. Sein Auge suchte die Richtung, in der tief unten die Stadt liegen mußte, aber nicht einmal die Richtung war mehr zu bestimmen; man wurde völlig verwirrt von dieser überall gleichen, eintönig weißen Weite. Ja, sie hatten sein vergessen! Er stieß einen ungeduldigen Seufzer aus und lächelte bitter. Selbst Hedwig, die sich doch sonst so oft an seinen Arm gehängt hatte, kümmerte sich jetzt nicht mehr um ihn in ihrem bräutlichen Glück. Sie hatte ja auch an etwas Besseres zu denken, als an ihn, den schrulligen, überflüssigen Junggesellen. Die Ausstattung mußte nun bald fertig sein, jedes Stück erregte das glühendste Interesse. Man schrieb und ließ sich zur Auswahl senden, man packte aus und packte wieder ein, man schrieb wieder und ließ sich wieder schicken, man reiste nach Aachen, nach Köln, man suchte selber aus, man kaufte ein, man probierte an, der Tag wurde zu kurz. Man hatte so viel zu tun, es war eine stete Unruhe. Heinrich würde wohl manchmal dazwischenfahren, wenn er nicht treten konnte vor Packen und Päckchen, vor gestickten Unterröcken und zarten Negligés, vor Spitzen und Seidenschleifen, vor duftigen Blusen und Staatskleidern. Pompös würde das Brautkleid ausfallen. Josef sah ordentlich, wie die beiden Verlobten mit glänzenden Augen die Stoffproben betrachteten. Der Bräutigam lispelte dabei der kleinen Braut tausend dumme Dinge ins Ohr. Zeit hatten sie ja genug zu dergleichen, das Militär war längst fort, der Platz geräumt; nur das Wachkommando lag noch oben. Der Adjutant vom Platz mußte zweimal die Woche hinauf, im übrigen aber hatte er die Vergünstigung, unten im Städtchen zu wohnen. Also Gelegenheit genug zu Liebesgetändel – und sie durften ja. Sie durften! Ende April schön würden sie heiraten. Jetzt war es bereits Januar.

Ob der Schnee denn ewig liegen würde? Zwei Monate fast war man schon begraben bei lebendigem Leib. Josef sah sich wild um. Aber so tief man auch eingegraben war, das Herz gab sich doch nicht zur Ruhe, das pochte nur um so lebendiger. Daß man doch davonrennen könnte – wohin? Ganz gleich. Nur einmal andere Eindrücke, andere Gesichter, daß man auf andere Gedanken kam!

Und doch mußte er immer wieder ins Haus zurückkehren, wo niemand war als die Bärb und er.

Nun aßen sie schon lange altes Brot; zehn Tage war es her, daß der Bote, der sonst alle Wochen Vorrat heraufbrachte, zuletzt dagewesen war. Blieb der etwa ganz aus? Es verlangte Josef nach frischem Brot; auch hatte er eine geheime Angst: wenn es einmal so käme, daß er auch ohne Licht sitzen müßte mit der Bärb im dunklen Haus?! Ungeduldig harrte er, aber der Mann kam nicht.

Da machte sich Bärb auf den Weg. Er wollte sie nicht lassen, aber sie lachte ihn aus: was war denn weiter dabei, sie war ja jung und kräftig, sie kam schon durch! So ließ er sie gehen. Aber als sie fort war, packte ihn die Reue. Er hatte dieselbe Unruhe wie damals, als sie gegangen war, ihre Eltern zu besuchen – nein, eine noch weit größere Unruhe. Es war ihm zu Mut, wie einem, der ein Kleinod verloren hat.

Er fing an, im Schuppen Reisig zu zerkleinern, aber er hieb sich dabei auf die Finger; dann begann er, Schnee zu schippen. Sie würde sich freuen, wenn er ihr einen recht breiten Pfad geschaufelt hatte bis hin zum Brunnen. Aber als er eine Stunde geschippt, geschaufelt, gehackt und gekarrt hatte, verließ ihn die Lust. Dieser Arbeit fühlte er sich nicht gewachsen. Zornig über die eigene Torheit, die ihn in eine solche Lage gebracht hatte, ließ er Schaufel und Besen fallen, warf sich todmüde drinnen aufs Bett und stierte die Decke an. Er war zu träge, um Licht anzuzünden, er blieb so liegen in der Dunkelheit. Er lag wie in einer Apathie. Nur das fühlte er, wenn es noch lange so anhielt, wenn das noch immer, immer so weiterging, dann beging er noch viel größere Dummheiten, als er bisher begangen hatte, oder – eine Schlechtigkeit. Oder – er faßte sich mit beiden Händen an die pochende Stirn – er wurde verrückt!

Diese Einsamkeit, diese Einsamkeit! Er stöhnte auf. Alles Übel kam von dieser Einsamkeit. Er verwünschte die Fangeuse. Hätte er sie nie betreten! Sie war der rechte Ort, Gedanken auszuhecken, die nichts taugten. Heute begriff er nicht, daß er hier einstmals Tage verlebt hatte, Tage solch reiner, solch hoher Entzückungen, wie er solche noch nie im Leben gekostet hatte.

Tiefe, tiefe Dunkelheit draußen; tiefe, tiefe Dunkelheit drinnen. Eine Trostlosigkeit kam ihm über das eigene nutzlose Leben. Was hatte er denn schon geleistet? Hatte er wohl mit all seinem guten Willen für das Wohl anderer je etwas Gutes geschafft? Immer hatte er Mitleid mit den Menschen; Mitleid mit den jungen Dingern, die unten auf den Lumpensäcken ihr Brot verzehrten, Mitleid mit den Sträflingen, die zur Arbeit getrieben wurden in Wind und Wetter. Dummes törichtes Mitleid, es hatte niemandem etwas genutzt!

Er lag verdrossen. Wäre er nur fort von hier! Er sehnte sich nach einer leichteren Luft, nach einer heiteren Sonne, nach lebhafteren Menschen. Nicht immer diese Stille, diese lastende Stille; Fröhlichkeit, Heiterkeit, ein rascher bewegtes Dasein, vielseitiger und vielgestaltiger! Ach, gingen denn selbst Leykuhlens Interessen über den Turm seiner Kirche hinaus?! Und diese gepriesene Frömmigkeit, diese Einfalt der Sitten, diese Zufriedenheit – entstammten sie nicht einer geistigen Armut?!

Heute gefiel ihm alles nicht mehr, er sah heute mit anderen Augen. An solch kritischen Tagen hatte er unten immer mit Heinrich gezankt – ach, hätte er jetzt nur einen zum Zanken! Da knarrte die Haustür – Gott sei Dank, endlich die Bärb!

Sie stand da, heiß und rot, ganz außer Atem, und streckte ihm den Laib Brot entgegen.

Er fühlte, daß das Brot noch warm war. Glühend heiß mußte sie's unter ihr Tuch gesteckt haben, es im Arm gehalten haben, dicht an ihrem Herzen. »Wie du außer Atem bist!« Er streichelte sie. »Nun, wie geht's deinen Eltern? Und den Geschwistern? Und der Maiblum?«

»Dat weiß ich nit!« Sie sah ihn groß an. »Ich bin nit bis zu Haus jewesen, dat war noch zu weit!«

Nicht zu Haus? Sie war doch nach Heckenbroich hinuntergegangen, hatte Brot geholt, und sie war nicht zu Hause gewesen?!

»Ich konnt doch nit!« Sie sagte es ganz verwundert. »Ihr wollt doch so järn frisch Brot, do han ich mich plagen müssen, um jetzt widder hier zu sein!«

Er war entwaffnet. Für ihn, für ihn allein war sie also gelaufen? War im Dorf gewesen, hatte sich aber nicht einmal Zeit genommen, Eltern, Geschwister, an denen ihr Herz hing, wiederzusehen? Er wußte nicht, was er sagen sollte; das war mehr, als er erwartet hatte, mehr, als er erwarten durfte. Von der Verdrossenheit, in der er vorhin gelegen hatte, war urplötzlich nichts mehr in ihm. Er zog sie an sich. »Ich danke dir«, flüsterte er.

Und sie flüsterte wieder: »Dat han ich sehr jern für Euch jetan!«

Dann saßen sie in der Stube. Draußen war es dunkel und kalt, aber hier innen war es warm und hell. Heute bediente er sie; er hatte die Lampe angezündet, Holz aufgelegt, daß der Ofen glühte, sie gezwungen, in seine warmen Filzschuhe zu schlüpfen und rieb nun ihre Hände, die eiskalt und blaugefroren waren.

O ja, es war schon schwer gewesen heute durchzukommen, der Wind hatte einen förmlich durchblasen, als hätte man kein Tuch und kein Kleid an, gar nichts auf dem Leib. Aber nun war sie froh. Sie erzählte ihm, daß sie ein-, zweimal vom Wege abgekommen und schon so müde gewesen war, daß sie sich hatte hinsetzen wollen; aber da hatte sie an den Herrn Josef gedacht und wie dem so bange sein würde, wenn sie nicht bald wieder da war, und da hatte sie sich wieder aufgerafft. Ihr Schutzengel hatte sie denn auch richtig geführt. Zurück war der Weg leichter gewesen; den Wind hatte sie im Rücken gehabt, er hatte sie vor sich hergeblasen, daß sie kaum zu laufen brauchte, daß sie über den Schnee hingeweht worden war. Raben waren über ihr geflogen während des ganzen Weges, fast mit den Flügeln hatten die sie gestreift und sie immer umkreist; aber sie hatte ihr Brot festgehalten und war gerannt und gerannt. Sie lachte fröhlich.

Es war als hätte der heiße Wein, den Josef dem erstarrten Mädchen zu trinken gegeben hatte, es völlig verändert. So lebhaft war Bärb noch nie gewesen. Sie taute auf; da war nichts mehr von Scheu und Zurückhaltung. Aber als sie jetzt plötzlich seine Hand streichelte: »Ihr seid so jut«, war doch keine Dreistigkeit in ihrer Vertraulichkeit.

Mitten im Schwatzen wurde sie müde, wie einem Kinde fielen ihr die Augen zu. Schwarz hoben sich die langen Wimpern von den durch die scharfe Luft hoch geröteten Wangen. Sie hatte den Kopf gegen Josef geneigt und nickte, das schlummermüde Haupt an seiner Schulter. Er saß und rührte sich nicht und hielt den Atem an.

Er kam sich unsäglich lächerlich vor. Das mußte ihm, ihm passieren! Aber er traute sich nicht, sie aufzuraffen, sie davonzutragen wie einen willigen Raub. Steif blieb er sitzen, bis sie ein Stündchen geschlafen hatte und blinzelnd die Lider öffnete. Mit einem wohligverschlafenen: »Bin ich aber müd!« lächelte sie ihn an.

Er fühlte, jetzt brauchte er nur die Hand auszustrecken. Es war so still im Zimmer, so warm. Ganz allein waren sie – wo war die Welt?

Aber hastig rückte er zur Seite, daß ihr Kopf unsanft von seiner Schulter glitt. »Gutnacht, Bärb!« Es klang barsch.

Sie sah ihn verdutzt an mit schwimmenden Augen: war er bös mit ihr, der Herr Josef?!

*

Sein Ton blieb auch noch barsch am anderen Morgen. Er konnte es ja nicht vermeiden, ihr zu begegnen. Sie wohnten sich zu nahe; immerwährend streifte ihn ihr Rock, immerwährend umgab ihn ihre Sorgfalt. Er konnte das heute nicht vertragen. Träume hatte er diese Nacht gehabt, Träume, wie er sie sich nie mehr zugetraut hätte. Er war sich bewußt gewesen, daß er träumte, aber er hatte immer wieder die Augen zugedrückt und immer wieder den gleichen Traum gesucht. Aber am hellen Tage mied er die, um die sich seine Träume gewoben. Der weiße Tag stand auf der Schwelle; er floh aus dem Haus.

Draußen war es wie immer still und kalt; das heißt, nur still von Menschenlaut. Es war ein Ächzen in den Tannen, ein lautes Knacken, und ein Sausen von umherfahrenden Lüften zwischen Himmel und Schnee. Merkwürdig, es dünkte ihn heute minder kalt; vielleicht fühlte er's weniger, seine Stirn brannte so. Wie ein Planloser irrte er umher, der Tag draußen dünkte ihn besser als der Tag drinnen.

Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, jetzt konnte er ganz gut gehen. Er fühlte die Anstrengung nicht, seine Gedanken waren zu sehr beschäftigt. Er sah gar nicht, was um ihn war, er sah immer nur nach dem Hause zurück. – – – Nun räumte sie in seinem Zimmer auf – nun war sie in der Küche – nun sang sie beim Kartoffelschälen – nun richtete sie das Mittagbrot – nun wartet sie auf ihn, wartete mit heißen Wangen, mit blühenden Lippen – ah, Mittag mußte es wohl schon sein?

Plötzlich aufschreckend, sah er sich um: war's möglich, so weit war er schon gegangen? Da lag ja wie ein Würfel ein einsames Haus in der unendlichen Schneeweite. Nur wo der Schnee nicht angeweht war, schimmerte sein Gebälk dunkel, sonst war's weiß, weiß wie das Land rundum. Und das Dach schwer belastet. Tiefer noch hing es herab als sonst über Tür und vergitterte Fenster. Die Strafkolonie!

Nichts rührte sich. War das Haus verlassen? Nein, ein schwacher Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Josef hüstelte: es legte sich heute so schwer auf die Brust. Nun fühlte er doch, daß er müde geworden war. Er pochte an.

Drinnen rasselte es, ein Schlüssel wurde ins Schloß gestoßen, ein Riegel zurückgeschoben. Simon Bräuer öffnete selber.

Er sah den Ankömmling finster an: »Wat wollen Sie?« Dann erst erkannte er den Eindringling. Aber man merkte, daß ihm die Freundlichkeit Mühe machte: »Kommen Sie herein!«

Er scheuchte einen der Sträflinge auf, stieß ein Bündel Weidenruten und einen halbfertigen Korb beiseite und ließ Josef Platz nehmen.

Es saßen ihrer Zwanzig in dem engen Raum. Auf dem Herd brodelte es in einem großen Topf, ein alter Mann stand dabei und rührte mit einer riesigen Kelle. Im Herdloch fielen die Funken wie glühender Regen; von dort kam ein rötlicher Schein – das einzige Licht in dem winterdunklen Raum. Aber trotzdem es im Ofen knackte und knasterte, war es doch nicht warm hier; die Luft war nur dick.

Josef war ordentlich zurückgeprallt vor dem Dunst, der ihm entgegenschlug. Mit erschrockenen Augen sah er sich um: so hausten die hier im Winter? All diese Leute so zusammengepfercht?!

Bräuer sagte: »Sie flechten Körb und binden Besen. Der da«, – er wies auf ein Gesicht, das Josef bekannt vorkam – »der ist jeschickt, der hat uns Schemel jemacht. Nu schnitzt er Löffel. Zeig mal her!«

Der blasse Mensch, der den rotborstigen Kopf über seine Arbeit geneigt hatte, stand auf und kam heran; er zeigte ein Besteck aus Birkenholz, nur roh geschnitzt, aber an den abgeplatteten Stielen war als hübsche Verzierung eine Blume eingekerbt.

»Setz dich wieder!« Man merkte der Stimme des Aufsehers trotz aller Rauheit einen gewissen Stolz an.

Josef lobte die Geschicklichkeit des Sträflings. Der Gelobte wurde rot, er hob den Blick, zum erstenmal sah Josef in die grünen, unruhigen Augen. Jetzt zog der Mensch in einem geschmeichelten Lächeln den Mund breit, und Josef erschrak fast: ha, fletschte der Kerl die Zähne! Unangenehme Physiognomie! Aber gesünder sah er aus, nicht mehr so zum Erbarmen elend wie das letztemal. Und man sollte doch denken, hier eingeschlossen im vergitterten Haus müßte er elender aussehen als damals draußen in freier Luft. Merkwürdig, dieser Mensch schien jetzt ganz wohl und zufrieden.

»Wollen Sie wat von unserer Supp essen, Herr Schmölder?« fragte Bräuer.

Josef nickte; er war hungrig.

Der Alte am Herd nahm einen von den Blechnäpfen, die aufgestapelt standen, und füllte ihn mit seiner Kelle aus dem großen Kessel. Es roch ganz gut: nach Erbsen, nach Schmalz, nach Zwiebeln und nach Wärme. Aber als Josef ein paarmal den Blechlöffel in die dünne Brühe getaucht hatte, hatte er genug. Und auch das Stück schwarzen säuerlichen Brotes mit der zähen geräucherten Blutwurst wollte ihm nicht munden. Er erhob sich; ihm war, als müßte er ersticken in dieser dumpfen Dunkelheit. »Ich danke, Herr Bräuer. Ich muß nun zurück!«

»Ich bring Sie en Stück längs!« Es mußte dem Aufseher nun doch zum Bedürfnis geworden sein, mit jemandem zu reden. »Mer jewöhnt sich dat Sprechen janz ab«, sagte er wie entschuldigend, als sie draußen durch den Schnee stapften.

»Läuft Ihnen keiner fort? Sie haben ja nicht wieder zugeschlossen!« Josef sah noch einmal nach dem verlassenen Haus zurück und schauderte.

»Wohin?« Bräuer machte eine umfassende Handbewegung. »Hier sind die sicher verwahrt. Die sind auch janz zufrieden hier. Und ich bin auch zufrieden mit ihnen!« »Und doch wollen Sie fort, wie ich höre?«

Das Gesicht des Aufsehers wurde rasch wieder finster. Er zog die Stirn in Falten und schlug den Blick zu Boden.

»Es ist schade, Herr Bräuer!« Josef sagte es warm. Wahrhaftig, er hatte dem Menschen doch Unrecht getan, der war längst nicht so schlimm, als er sich stellte. »Sie sollten nicht gehen, Herr Bräuer!«

»Ich muß!« Der Aufseher brummte es zwischen zusammengebissenen Zähnen, und dabei zuckte es über sein Gesicht. Nun sagte er nichts mehr. Eine Strecke trabten sie stumm nebeneinander her, dann stieß er plötzlich heraus: »Ich hab 'ne Frau zu Haus. Adjüs!« Er machte kurz kehrt.

Ehe Josef noch etwas sagen konnte, war er schon fort. Josef wendete sich ärgerlich: er hätte Bräuer doch noch einmal fragen können, ob er hier auch auf dem richtigen Wege war?

Wie eine Wand hatte es sich plötzlich zwischen ihn und die Strafkolonie geschoben. Grau, dick. Das war nicht Nacht, das war ein dichter Sack, der sich einem urplötzlich über den Kopf stülpte.

Sollte das etwa Nebel sein? Venn-Nebel? Josef hatte schon oft davon erzählen hören. Ei, das war ja ganz interessant, den einmal mitzumachen! In London hatte er oft Nebel erlebt – nun, schlimmer war der berüchtigte Londoner Nebel auch nicht. Pfui, wie sich der schwere Dunst auf Hals und Brust legte!

Er nieste und hustete und knöpfte dann seinen Überzieher fester zu. Nun fror ihn, obgleich es gar nicht mehr kalt war. Kein Lüftchen regte sich, es war ganz still geworden, und trotzdem durchschauerte es ihn bis ins Mark. Kältende Tropfen hingen an Schnurrbart und Wimpern; das ganze Gesicht wurde feucht. Nur rasch nach Haus, es war zu unlustig, um spazieren zu gehen!

Er rannte wie toll. Aber als er hundert Meter gelaufen war, stand er plötzlich still: ging er denn auch richtig? Nur nicht die Richtung verlieren! Er ging langsamer. Er strengte die Augen an: endlich mußte doch einmal ein Ausblick kommen, irgendeinen Ritz mußte dieser Sack doch haben. Nur ein Auslug, und man wußte gleich wieder, wo man war.

Er ging und ging. Aber der Auslug kam nicht, der graue Sack wurde immer dicker. Und enger; gleichsam, als würde er einem über dem Kopf fest zusammengezogen. Er ging rascher. Er fühlte, daß er aufgeregt wurde. Ganz niederträchtig, hier so herumrennen zu müssen! Sein Herz klopfte. Hoffentlich war es nicht mehr weit bis zur Fangeuse! Aha, da schien ja jemand gegangen zu sein. Nun immer ruhig den Fußtapfen nach, sie nur nicht verlieren, dann kam man schon an ein Haus, an irgendeinen bewohnten Ort, wenn's auch, schlimmstenfalls, nicht die Fangeuse war.

Er bückte den Kopf nieder und ging wie ein Spürhund der Fährte nach. Noch immer Fußstapfen, noch immer. Bauerntappen waren das nicht. Merkwürdig, wie seine Füße gerade da hineinpaßten – der rechte Fuß, der linke Fuß – keine nägelbeschlagenen Sohlen! Er zuckte plötzlich zusammen und stieß einen Ausruf des Ärgers und der Verwunderung aus: was machte er denn, rannte er denn auf der eigenen Fährte herum wie ein Verrückter? Er wollte lachen, aber er konnte nicht.

»He! Holla! Ho–ho–o–oh!«

›He–holla–ho–ho–o–oh!‹ äffte ihm irgend etwas nach.

War hier ein Echo? Scheu blickte er sich um.

»He, he! Hört denn niemand?!«

›Niemand!‹

Seine Stimme klang nur schwach im dicken Nebel; der dämpfte jeden Schall. Er wischte sich über die Stirn; schon fing er an zu schwitzen, die Anstrengung war groß, er wurde müde. Unter seinen Sohlen ballte sich der Schnee, hing sich an die Absätze in Klumpen; je schwerfälliger er zutrat in seiner Müdigkeit, desto lästiger klebten die Klumpen an. Schwer stützte er sich auf seinen Stock. – – – –

Josef rief nicht mehr. Wer sollte ihm hier auch helfen? Hier mußte man sich selber zu helfen suchen, wenn man nicht, wie die Bärb, an einen Schutzengel glaubte. Überall Fußtapfen, überall Fußtapfen. Aber er war nicht mehr sicher, ob es nur die seinen waren; sie waren teilweise verwischt, auseinandergetreten im Schnee. Und es war zu wenig licht, um deutlich zu sehen. Mit beiden Händen faßte er seinen Stock und trieb ihn tief hinein in den Schnee: daran würde er's merken, wenn er wieder an denselben Platz zurückkam. Ob er etwa in die Runde lief, immer auf den eigenen Fußtapfen herum die ganze Zeit?

Es wurde ihm schwer, den Stock zu entbehren, seine müden Füße glitschten hin und her; es kostete ihn jedesmal eine Anstrengung, sie zu heben, die Knie waren steif. Aber er wankte weiter. Weiter mußte er, er konnte sich doch nicht hinlegen hier. Nicht einmal hinsetzen. Die größte Lust hatte er freilich dazu, er war so müde, und die grenzenlose Stille des Nebels schläferte unwiderstehlich ein. Wenn er sich nun hier hinlegen würde und einschlafen? Dann würde er nicht mehr aufwachen – es wäre der sanfteste Tod. Einen Augenblick kam ihm dieser Gedanke. Aber immer weiter, weiter, so leicht gibt man das Leben doch nicht auf.

Nun lief er, so rasch er konnte. Wie lange mochte er schon unterwegs sein? Es war Mittagszeit gewesen, als er in der Strafkolonie eingetroffen war; eine Stunde mußte seither wohl vergangen sein. Er sah nach der Uhr und starrte erschrocken – drei?! Er hielt sie sich ans Ohr, er rüttelte sie. Sie ging wie immer, gleichmäßig mit leisem Tick, tick. Um's Himmels willen, drei Stunden war er seither schon umhergeirrt? Jetzt fühlte er erst ganz die Müdigkeit. Sie war lähmend. Wenn er nun nicht mehr weiter konnte, wenn er hier im Nebel sich nicht bald zurechtfand?! All das fiel ihm ein, was einmal Bärb erzählt hatte.

Überall, rechts und links, vor ihm, hinter ihm, tauchten Kreuze auf. Er wußte, das war nur eine Halluzination, hier waren keine; aber er sah sie so deutlich, als ständen sie da, schwarz und verwittert, denen zum Gedächtnis, die im Schnee erfroren, die im Nebel verirrt waren.

Große Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn und fielen nieder in den Schnee. Noch ein paar Stunden, und es war vorbei. In der Abenddämmerung ging kein Mensch mehr durchs Venn. Vielleicht traf er noch einen Grenzjäger, ihr Dienst trieb die ja umher bei allem Wetter! Mit geschärftem Ohr lauschte er. Aber er hörte kein Klirren von Sporen, kein Traben eines Pferdes, kein ›Wer da!‹ Gar nichts. Nichts.

Eine grauenhafte Stille umfing ihn. Erst war er aufgeregt gewesen im Gedanken, so spät nach Hause zu kommen – Bärb würde sich ja um ihn ängstigen – aber nun kam ihm eine größere Angst. Sie überfiel ihn plötzlich wie eine Pantherkatze in jähem Sprung. Sie saß ihm im Nacken, er konnte sich ihrer nicht mehr erwehren, er wurde sie nicht los, so sehr er auch rannte. Das Klopfen seines Herzens war zum Hämmern geworden. Poch, poch – wie das gegen die Rippen anstieß, als wollte es sie eindrücken. Es stach ihm im Rücken bei jedem Atemzug. Jetzt mußte er langsamer gehen, so rasch ging es nicht mehr weiter. Er stand still, die Hand gegen das klopfende Herz gestemmt. Mit wirren Blicken sah er sich um.

Er war in seinem Leben schon in allerlei gefährlichen Lagen gewesen, viel gefährlicheren als heut: in einem furchtbaren Sturm auf der Überfahrt nach Amerika, und bei einem Zusammenstoß von zwei Eisenbahnzügen – er war ruhig geblieben. Hier wurde es ihm schwer, die Fassung zu bewahren. So allein, so mutterseelenallein. Und so gar nichts sehen können, keine zehn Schritt vor sich! Das war entsetzlich.

Er stieß einen Schrei aus – er war gegen etwas gerannt, sein Fuß strauchelte – er packte zu: es war sein Stock. Sein Stock, den er hier in den Schnee gerammt hatte. Bei ihm war er nun wieder angelangt. Also abermals in die Runde gelaufen!

Er schlug sich vor die Stirn: warum tat er das, warum ging er denn nicht nach rechts oder links? Er riß den tief eingebohrten Stock aus dem Schnee heraus und stapfte nach links. Aber dann hielt er auf einmal an: was nützte es, er kam ja doch nie, nie wieder hier heraus! Warum noch die letzte Kraft erschöpfen? Besser stehenbleiben und warten, bis der Nebel sich gelichtet hatte; der mußte sich wenigstens doch etwas heben. Regungslos stand er, auf den Stock gestützt; ohne den wäre er umgesunken. Die Überanstrengung verursachte ihm Schwindel; im grauen Nebel tanzten rote Punkte, sie wurden größer und größer, wurden zu rasch sich drehenden Kreisen. In seinen Schläfen stach es, der Boden, auf dem er stand, schwankte wie ein Schiff; ächzend schloß er die Augen. Oh, wie würde sie jammern, wenn er nicht wiederkam! Ob sie nicht hinauslief, um ihn zu suchen?

»Bärb, Bärb!«

Gellend war der Ruf der Brust entwichen. Er schrie den Namen des Mädchens mit aller Anstrengung. Aber nichts war in diesem Ruf zu hören von der Angst, von der Verzweiflung, von der Sehnsucht, die ihn herausgepreßt hatte; er klang matt. Die Stille war zu groß. Sie hatte eine viel gewaltigere Stimme, und die gebot: ›Schweig!‹ Der Mensch verstummte.

Josef riß die Uhr aus der Tasche. Vier Uhr! Wieder eine Stunde vorbei. Nun war er sieben Stunden von Hause fort. Bald kam die Nacht. Er stand und zitterte und rührte sich nicht mehr vom Platz, nur daß er zuweilen die Füße aufstampfte und die Arme umeinanderschlug, um nicht ganz zu verklammen. Durch seinen Kopf rasten die Gedanken; er wußte selbst nicht, was er eigentlich dachte, ihm war dumpf und wirr im Gehirn. Die Hoffnung, einem Grenzjäger zu begegnen, hatte er längst aufgegeben; die saßen bei dem Nebel auch in einem Unterschlupf. Niemand war im Venn, als er und die Kreuze der Toten.

Er sah wieder nach der Uhr. Er mußte sie sich dicht vor die Augen halten, selbst so war's kaum möglich mehr, sie zu erkennen. Halb fünf! Die Knie drohten unter ihm einzubrechen. Wenn jetzt nicht ein Wunder geschah, dann – – –

Horch, war das nicht ein Glöckchen? Es klang so.

Klingelingeling!

Ein blechernes Anschlagen wie von den Schellchen, die die Pferde vorm Schlitten tragen.

Er schrie nicht, er rief nicht Hilfe, der Mund war ihm wie zugehalten; aber er wandte sich jetzt nach der Richtung des Klingelns. Er rannte, er stürzte, er sank tief ein in den Schnee, er raffte sich wieder auf, rannte wieder aufs neue – immer das leise Klingelingeling. Jetzt ward es schon stärker – jetzt noch stärker – jetzt ganz deutlich: »Klingelingeling!«

»Halt!« Mit einem Schrei stürzte der Verirrte vorwärts und fiel der Länge lang einem Karrengaul vor die Füße. Der blieb stehen.

Der Mann, der heute vormittag endlich den ersehnten Proviant nach der Fangeuse heraufgeschafft hatte und jetzt auf der Rückfahrt begriffen war, sich ganz auf den Instinkt seine Pferdes verlassend, lud den Herrn auf seinen Schlitten und wendete noch einmal um.


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