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Elftes Kapitel. Die Everglades

Eine zugleich entsetzliche und herrliche Gegend sind diese Everglades. Im Süden Floridas gelegen, ziehen sie sich bis zum Kap Sable, dem letzten Punkt der Halbinsel. Diese Gegend ist nichts als ein unermeßlicher Sumpf, der fast auf gleichem Niveau mit dem Atlantischen Ozean liegt.

Die Fluten des Meeres überschwemmen die Everglades in Massen, wenn die Stürme vom Ozean oder vom Golf von Mexiko her die Wässer dorthin wälzen, und diese mischen sich mit den Wässern des Himmels, die die Winterzeit in strömenden Katarakten herabschütten.

Dies hat hier eine halb feste, halb flüssige Gegend geschaffen, die fast ganz unbewohnbar ist.

Diese Wasser sind eingefaßt von weißem Sand, gegen den sie dunkelfarbig abstechen. Fische gibt es hier keine, dafür aber wimmelt es von Schlangen.

Wenn man ein paar Meilen weit in dieses Gebiet eingedrungen ist, gelangt man an eine ziemlich umfangreiche Wasserfläche: den Okeechobee-See, der ein kurzes Stück unterm 27. Breitengrade liegt. In einem Winkel dieses Sees tag die Insel Carneral, wo Texar sich ein unbekanntes Versteck gesichert hatte, in welchem er jeder Verfolgung entgangen zu sein glaubte.

Eine Texars und seiner Spießgesellen würdige Gegend! – Damals, als Florida noch den Spaniern gehörte, waren in der Regel die Verbrecher hierher geflüchtet, um der Justiz ihres Landes zu entrinnen. Indem sie sich mit der eingeborenen Bevölkerung vermischten, bei denen sich noch karaibisches Blut vorfindet, sind jene Creeks oder Seminolen entstanden, jene nomadisierenden Indianer, die in langwierigem blutigen Kriege unterworfen werden mußten, was erst im Jahre 1845 endgiltig gelungen war.

Die Insel Carneral schien vor jedem Angriff geschützt zu sein. Im Osten ist sie allerdings nur durch einen schmalen Kanal vom Festlande getrennt – wenn man dem Sumpfgebiet, das den See umgibt, diese Bezeichnung geben kann. Dieser Kanal mißt etwa 100 Fuß, die mit einer Barke überschritten werden mußten. Auf anderm Wege kann man nicht zur Insel gelangen. Schwimmend, ist unmöglich. Wie hätte sich jemand in dieses schlammige, von Kraut durchwucherte Wasser wagen sollen, das von Reptilien wimmelt?

Jenseits erhebt sich der Zypressenhain mit seinem halb unter Wasser stehenden Boden, der nur enge, schwer erkennbare Durchgänge bietet. Der Boden ist klebrig und haftet zäh an den Beinen, mächtige Stämme versperren den Weg, ein starker Modergeruch wirkt erstickend.

Texars Behausung war nichts weiter als ein ehemaliger Indianer-Wigwam, der unter den dichten Bäumen im östlichen Teil der Insel stand. Ganz im grünen Dickicht verborgen, konnte man ihn selbst von der nächsten Stelle des Ufers nicht bemerken. Die beiden Spürhunde bewachten ihn genau so scharf, wie das Blockhaus in der Schwarzen Krampe. Einst auf die Jagd nach Menschen abgerichtet, hätten sie jeden in Stücke gerissen, der sich dem Wigwam genähert hätte.

Hierher waren seit zwei Tagen Dy und Zermah gebracht worden. Die bis zum Washington-See unschwere Tour war durch den Zypressenwald von großer Mühseligkeit, selbst für kräftige, an dieses schädliche Klima gewöhnte Menschen. Zermah war zwar tapfer und aufopfernd, aber als sie die Insel Carneral erreicht hatten, war sie doch am Ende ihrer Kräfte angelangt.

Wie hätte sie nach dem, was sich ereignet hatte, als Texar und Squambo sie aus der Schwarzen Krampe wegführten, nicht verzweifeln sollen? Sie wußte nicht, daß das Briefchen, das sie dem jungen Sklaven übergeben hatte, in James Burbanks Hände gelangt war; aber sie wußte, daß er seinen aufopfernden Versuch, sie zu retten, mit dem Leben hatte bezahlen müssen.

Nun sagte sich natürlich die Mestizin, James Burbank würde nie erfahren, was sie dem unglücklichen Neger mitgeteilt hatte, daß nämlich der Spanier und seine Leute sich zum Aufbruch nach der Insel Carneral rüsteten.

Zermah konnte also nicht einen Schimmer von Hoffnung mehr hegen. Jede Aussicht auf Rettung mußte schwinden in dieser Gegend, deren wilde Schrecken ihr wohl bekannt waren. Von hier war eine Flucht nicht möglich. Hier gab es kein Entrinnen mehr!

Als sie ankamen, befand sich das kleine Mädchen im Zustande äußerster Schwäche. Die Abspannung trotz der beständigen Sorge Zermahs und das schädliche Klima hatten sie sehr angegriffen. Blaß, abgemagert, als sei sie von den Ausdünstungen dieser Sümpfe vergiftet worden, hatte sie nicht mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, und konnte kaum noch ein paar Worte sprechen, höchstens nur, um nach ihrer Mutter zu fragen.

Zermah konnte ihr nicht mehr sagen, wie sie es in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in der Schwarzen Krampe getan hatte, daß sie Frau Burbank bald wiedersehen werde, daß ihr Vater, ihr Bruder, Fräulein Alice und Mars bald zu ihr kommen würden.

Bei ihrem für ihr Alter vorgerückten Verstande begriff Dy, daß sie vom Elternhause weggerissen worden sei, daß sie sich in den Händen eines bösen Menschen befände und daß sie Camdleß-Bai nie wiedersehen werde, wenn keine Hilfe käme.

Nun wußte Zermah ihr keine Antwort mehr zu geben, und trotz aller ihrer Hingabe mußte sie das Kind langsam hinsiechen sehen.

Der Wigwam war, wie gesagt, nur eine ganz primitive Hütte. Regen und Wind konnten von allen Seiten hinein, aber zur heißen Zeit, deren Einfluß sich unter diesem Breitengrade schon jetzt bemerkbar machte, waren die Insassen wenigstens vor der Sonnenglut geschützt.

Dieser Wigwam war in zwei Räumlichkeiten von ungleicher Größe eingeteilt: die eine, ziemlich schmal und kaum erhellt, stand nicht direkt in Verbindung mit der Außenwelt und war nur durch die andere, ein ziemlich großes Gemach, zu betreten. Aus dem letztern führte eine Tür an der Hauptseite der Hütte, derjenigen, die nach dem Ufer des Kanals zu gelegen war, ins Freie.

Zermah und Dy waren in die kleine Kammer gesperrt worden, wo sie nur das notdürftigste hatten und auf einer Grasschütte schliefen.

In dem andern Gemach hausten Texar und der Indianer Squambo, der seinen Herrn nie verließ. Die sechs Sklaven, die Texar aus der Schwarzen Krampe mitgebracht hatte, schliefen draußen wie die Hunde und bewachten ebenfalls den Wigwam.

Schon vom ersten Tage an konnten Dy und Zermah frei aus- und eingehen. Sie waren nicht gefangen, wie in der Schwarzen Krampe. Sie wurden nur bewacht – was eine überflüssige Vorsicht war, denn es war unmöglich, über den Kanal anders als mittels der Barke, an der fortwährend ein Neger Posten stand, hinüberzukommen.

An diesem Tage war die Mestizin zwar beständig von Squambo beobachtet worden, Texar selber aber hatte sie gar nicht gesehen. In der Nacht jedoch hörte sie seine Stimme. Er wechselte ein paar Worte mit Squambo, dem er scharfe Wachsamkeit befahl. Und bald schliefen in dem Wigwam alle, bis auf Zermah.

Bisher hatte Zermah noch kein Wort aus dem Spanier herausbringen können. Auf der Fahrt zum Washington-See hatte sie ihn vergebens gefragt, was er mit dem Kinde und ihr vorhabe. Er hatte sie nur mit seinen kalten, boshaften Augen angesehen und die Achseln gezuckt.

Zermah gab es nicht auf. Sie beschloß, gleich nach der Ankunft auf der Carneral-Insel, Texar aufzusuchen, an sein Mitleid zu appellieren, wenn nicht für sich selbst, so doch für das unglückliche Kind, und wenn das nicht gelang, wollte sie ihn beim Eigennutz fassen.

Hierzu bot sich bald Gelegenheit.

Schon am folgenden Tage ging Zermah, als das kleine Mädchen noch schlief, nach dem Kanal.

Texar ging gerade am Ufer auf und ab. Zermah trat geradeswegs auf ihn zu.

»Texar,« redete sie ihn in festem Tone an, »ich habe mit Ihnen zu reden. Es wird das letztemal sein, und ich bitte Sie, mich anzuhören.«

Der Spanier, der sich eine Zigarette angezündet hatte, antwortete nicht. Zermah hatte ein Weilchen gewartet und fuhr dann fort:

»Texar, wollen Sie mir endlich sagen, was Sie mit Dy Burbank vorhaben?«

Keine Antwort.

»Ich will nicht versuchen,« setzte die Mestizin hinzu, »Sie um Mitleid für mich selbst zu bitten. Es handelt sich nur um dieses Kind, dessen Leben in Gefahr schwebt und daß Ihnen bald genommen sein wird.«

Bei diesen Worten machte Texar eine Gebärde, die sehr starken Zweifel an der Möglichkeit dieser Behauptung aussprach.

»Jawohl, sehr bald,« fuhr Zermah fort, »wenn auch nicht durch eine Flucht, so doch durch den Tod!«

Der Spanier hatte langsam den Rauch seiner Zigarette ausgeblasen und antwortete nur:

»Bah! Das Mädchen wird sich in ein paar Tagen erholen und ich rechne darauf, daß du, Zermah, die Kleine recht sorgsam pflegst, damit ihr kostbares Leben uns erhalten bleibt!«

»Nein, ich sage Ihnen nochmals, Texar, das Kind wird bald sterben – bald sterben, ohne daß Sie einen Nutzen davon haben!«

»Keinen Nutzen!« versetzte Texar. »Wo ich sie doch fern von ihrer Mutter halte, die sich darüber zu Tode grämt, fern von ihrem Vater und ihrem Bruder, die darüber der Verzweiflung anheimfallen!«

»Sie sind also hinreichend gerächt, Texar,« sagte Zermah, »und glauben Sie mir, es würde für Sie von größerem Vorteil sein, wenn Sie das Kind den Eltern zurückgeben würden, als wenn Sie es hier behalten.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, Sie haben James Burbank genug Qualen erdulden lassen. Nun muß auch einmal ihr eigenes Interesse zu Worte kommen –«

»Mein Interesse?«

»Gewiß, Texar,« fuhr Zermah, lebhafter werdend, fort. »Die Pflanzung von Camdleß-Bai ist verwüstet worden, Frau Burbank liegt im Sterben oder ist vielleicht schon tot, ihre Tochter ist verschwunden, und der Vater sucht vergebens ihre Spur. All diese Verbrechen sind von Ihnen begangen worden, das weiß ich, Texar! Ich habe das Recht, Ihnen das ins Gesicht zu sagen. Aber nehmen Sie sich in acht! Für diese Verbrechen werden Sie eines Tages Ihre Strafe erhalten. Denken Sie an die Strafe, die Sie ereilen wird! Ja! Ihr eigenes Interesse erfordert es, daß Sie Mitleid haben. Behalten Sie mich, wenn Sie wollen, aber schicken Sie dieses Kind nach Camdleß-Bai zurück, geben Sie es seiner Mutter wieder. Niemand wird Sie wegen des Vergangenen dann noch zur Verantwortung ziehen. Wenn Sie es verlangen, wird sogar zu teuerm Preise die Freiheit dieses kleinen Mädchens erkauft werden, und wenn ich Ihnen zu diesem Tausch rate, so geschieht es, weil ich das Herz James Burbanks ganz genau kenne.«

»Das Mädchen dem Vater zurückgeben!« versetzte Texar im Tone des tiefsten Hasses. »Niemals!«

»Elender!« schrie Zermah, von Entrüstung hingerissen. »Nun, so wird Gott sie deinen Händen entreißen.«

Ein Lachen, ein Achselzucken war die einzige Antwort des Spaniers. Dann wickelte er sich eine zweite Zigarette, brannte sie ruhig am Stumpf der ersten an und, ohne Zermah noch eines Blickes zu würdigen, ging er hinweg.

Regungslos blieb die Mestizin stehen. Was hätte sie auch tun können? Sie sah auf die Neger, die am Ufer arbeiteten. Nirgends ein befreundetes Gesicht, überall die wilden Mienen von Tieren, die mit der Menschheit nichts mehr gemein zu haben schienen.

Dann kehrte sie in den Wigwam zurück, um wieder Mutterstelle bei dem Kinde zu vertreten, das mit schwacher Stimme nach ihr rief.

Den ganzen Tag über bekam Zermah den Spanier nicht mehr zu sehen. Auch suchte sie ihn nicht. Wozu auch? Neue Schmähungen wider ihn würden ihre Lage vielleicht nur verschlimmern.

Wenn auch bisher das Kind und Zermah keine Mißhandlungen zu dulden hatten, so mußten sie doch von Seiten eines solchen Mannes auf alles gefaßt sein. Ein Wutausbruch genügte, um diesen Menschen zu rohester Gewalttat hinzureißen. Von den Gefährten des Spaniers, Squambo und den Sklaven war ebenso wenig menschliche Gesinnung zu erwarten wie von ihrem Herrn. Sie wußten ja auch, was dem bevorstand, der auch nur ein wenig Mitleid mit den Gefangenen an den Tag legte.

Zermah war aus sich selber angewiesen. Ihr Entschluß war gefaßt. In der kommenden Nacht wollte sie einen Fluchtversuch machen.

Aber wie? Sie mußte doch über das Wasser hinüber, das die Insel Carneral umgab. Das war nur möglich, indem sie sich der Barke bemächtigte.

Der Abend kam – die Nacht, die sehr finster war, brach herein und mit ihr strömender Regen, und der Wind brauste über das Sumpfland.

Wenn es ihr auch nicht möglich war, durch die Tür der großen Kammer den Wigwam zu verlassen, so war es vielleicht nicht schwer, ein Loch in die Strohwand zu machen, durch das sie kriechen und Dy nach sich ziehen konnte. Einmal draußen, würde sie schon weiter Rat finden.

Gegen zehn Uhr war draußen nichts mehr zu hören als das Pfeifen des Sturmes. Texar und Squambo schliefen. Die Hunde streiften nicht mehr um das Haus.

Der Augenblick war günstig.

Während Dy auf der Grasschütte schlief, begann Zermah leise das Stroh und Schilf herauszuziehen, das die Seitenwand des Wigwams bildete.

Plötzlich hielt sie inne.

In der tiefen Finsternis draußen ließ ein Geräusch sich vernehmen. Die Hunde bellten und meldeten, daß irgendwer käme. Texar und Squambo wachten auf und eilten hinaus.

Draußen wurden Stimmen laut. Augenscheinlich war eine Anzahl Männer am entgegengesetzten Ufer des Kanals angelangt. Zermah mußte ihren Fluchtversuch einstweilen aufschieben.

Bald waren in dem Heulen des Sturmes auch Tritte zu hören, die von einer großen Zahl Menschen herzurühren schienen.

Zermah lauschte. Was ging vor? Hatte die Vorsehung Erbarmen mit ihr? Kam ihr eine Hilfe, auf die sie nicht mehr gerechnet hatte?

Es war ihr bald klar, daß es nicht an dem sei.

Im nächsten Augenblicke hörte Zermah zwei Männer in den Wigwam eintreten. Der Spanier war in Begleitung eines andern, der nicht der Indianer Squambo sein konnte, denn dessen Stimme war noch draußen am Ufer zu vernehmen.

Die beiden Männer hatten mit leiser Stimme zu sprechen begonnen, als sie plötzlich ihr Gespräch abbrachen.

Der eine kam mit einer Laterne in der Hand auf Zermahs Kammer zu. Diese hatte nur noch Zeit, sich auf die Grasschütte zu werfen, so daß das in der Seitenwand gemachte Loch verdeckt wurde.

Texar selber öffnete halb die Tür, sah in die Kammer hinein, betrachtete die Mestizin, die auf dem Boden lag und zu schlafen schien, und ging dann wieder.

Sogleich war Zermah wieder hinter der Tür, die Texar geschlossen hatte.

Sie konnte nun zwar nicht sehen, was in der Kammer vorging, auch nicht erkennen, wer mit Texar sprach; aber sie konnte hören, was gesprochen wurde.

Und nun hörte sie folgendes:


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