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Siebentes Kapitel. Letzte Worte und ein letzter Seufzer

Am nämlichen Tage, dem 17. März, kehrten Burbank Vater und Sohn mit Herrn Stannard und dessen Tochter und Mars, dem Ehemanne Zermahs, nach der Pflanzung von Camdleß-Bai zurück. Frau Burbank ließ sich die Wahrheit nicht verheimlichen. Das war ein neuer Schlag für die unglückliche Mutter, der bei ihrem Schwächezustande leicht tödlich hätte werden können.

»Wenn nun aber Texar keine Schuld an diesem Verbrechen trifft,« fragte Gilbert im Laufe des Gesprächs, das sich über diesen unerklärlichen Ausgang des Prozesses entspann, »wen trifft sie dann?«

»Von den ihm anhängenden Subjekten hat das Verbrechen auch ausgeführt werden können,« bemerkte Stannard, »ohne daß er selber anwesend war.«

»Das wäre die einzige mögliche Erklärung,« sagte hierauf Edward Carrol.

»Nein, Vater! nein, Herr Carrol!« entgegnete Fräulein Alice; »Texar hat in dem Kahne gestanden, der unsere kleine Dy hinwegführte! ich habe ihn gesehen und erkannt, in dem Augenblicke, als Zermah seinen Namen rief. Ganz gewiß! ich habe ihn gesehen!«

Was blieb auf diese so ausdrückliche Erklärung des jungen Mädchens zu erwidern? Kein Irrtum ihrerseits sei möglich, beteuerte sie in Castle-House ganz ebenso entschieden wie vor dem Kriegsgerichtshofe. Und doch wiederum: wie konnte der Spanier, wenn sie sich nicht irrte, zur selben Zeit unter den Kriegsgefangenen des Kommodore Dupont gewesen sein? Hierfür ließ sich keine Erklärung finden. Mars indessen ließ, wenn auch für alle anderen jeder Zweifel beseitigt schien, seinen Zweifel nicht fallen. Er nahm sich vor, sich Texar an die Fersen zu heften und den Schurken, sobald er ihn wiederfände, zum Geständnis zu bringen, und müßte er es ihm abpressen!

»Du hast recht, Mars,« antwortete Gilbert, »aber auf den Wicht wird man wohl Verzicht leisten müssen, da man ja doch nicht weiß, was aus ihm geworden ist – wir müssen unsere Suche wieder aufnehmen! – ich habe für die hierzu notwendige Zeit Urlaub genommen, und von morgen ab –«

»Jawohl, Herr Gilbert! von morgen ab!« erwiderte Mars.

Darauf begab sich der Mestize in seine Stube, wo er seinem Schmerz wie seinem Zorne freien Lauf lassen konnte.

Am nächsten Tage trafen Gilbert und Mars ihre Vorbereitungen zu der Expedition. Zunächst nahmen sie sich vor, die engsten Kanäle und die kleinsten Werder stromauf von Camdleß-Bai und an den beiden Ufern des Saint-John abzusuchen.

Während ihrer Abwesenheit gedachten James Burbank und Edward Carrol ihre Vorkehrungen zu einem durchgreifenden Feldzuge zu treffen. Proviant, Schießbedarf, Transportgerät, Mannschaft: nichts sollte vernachlässigt werden, um der Expedition das Gelingen zu sichern. Wenn es notwendig sein sollte, würde man dieselbe ausdehnen bis in die wilden Regionen von Nieder-Florida, bis in die Marschländer des Südens, quer durch die Everglades. Daß Texar das floridische Landgebiet verlassen haben solle, wurde für unmöglich erklärt. Nach Norden hinauf würde ihm der Weg durch den von der Bundesarmee an der georgischen Grenze gezogenen Kordon abgeschnitten sein. Bei der Absicht, über das Meer zu fliehen, hätte bloß ein Versuch, durch die Meerenge von Bahama zu den in englischem Besitze befindlichen Lukayischen Inseln zu gelangen, unternommen werden können. Solcher Versuch wäre aber insofern ziemlich aussichtslos gewesen, als die Fahrstraßen vom Moskito-Eiland bis zur Bahama-Enge von den Schiffen des Kommodore Dupont besetzt waren. Ueber die ganze Küste war die Blockade verhängt. Auch nach dieser Seite hin bot sich mithin dem Spanier keine Gelegenheit zur Flucht. All diese Erwägungen führten zu dem Ergebnis, daß Texar noch in Florida zu suchen sei, und zwar ohne Zweifel dort, wo er seit vierzehn Tagen seine Opfer unter Aufsicht des Indianers Squambo in Gefangenschaft halten mochte. Der von James Burbank geplanten Expedition mußte also das Ziel vorschweben, den Spanier durch das ganze floridische Gebiet zu verfolgen. Infolge der Anwesenheit von Bundestruppen und dank den an der ganzen östlichen Küste errichteten Blockhäusern herrschte übrigens in ganz Florida Ruhe. Daß es sich in Jacksonville nicht anders verhielt, braucht nicht gesagt zu werden. Die alten Stadtbehörden waren wieder eingesetzt worden. Kein Bürger saß mehr wegen zu lauer oder abweichender Gesinnung im Kerker. Alle Parteigänger Texars hatten sich zerstreut und waren, so weit es ihnen möglich gewesen war, mit der floridischen Miliz zusammen geflohen.

Der Sezessionskrieg nahm im mittlern Teile der Vereinigten Staaten zum Vorteil der Bundesarmee seinen Fortgang. Am 18. und 19. März war die erste Division der Potomac-Armee im Fort Monroe gelandet. Am 22. März rüstete sich die zweite Division zum Abmarsch aus Alexandria nach dem gleichen Bestimmungsorte. Trotz des militärischen Genies des unter dem Kriegsnamen »Stonewall Jackson« bekannten Generals waren die Südstaatler binnen wenigen Tagen bei Keyestown aus dem Felde geschlagen worden. Von einer Erhebung Floridas stand also zur Zeit nicht das geringste zu befürchten, zumal sich Florida schon immer ziemlich gleichgiltig gegen die den Norden und den Süden in zwei Heerlager scheidenden Fragen verhalten hatte.

Unter solchen Umständen hatten die nach dem Sturm der Pflanzung verjagten schwarzen Arbeiter allmählich zurückkehren können. Die auf die Austreibung freigelassener Sklaven bezüglichen Erlässe Texars und seines Ausschusses hatten seit der Einnahme von Jacksonville keinen Wert mehr. Vom 17. März ab beschäftigte sich die Mehrzahl der auf die Pflanzung zurückgekehrten Neger mit dem Wiederaufbau ihrer Baracken. Unter Edward Carrols Aufsicht vollzogen sich die Arbeiten prompt und in Ruhe. Die wackeren Leute widmeten sich ihren Aufgaben mit Eifer und Treue.

Es verblieben also Festsetzungen nur über die Führung der Expedition zu treffen. Bezüglich der Ausführung derselben durfte nicht gesäumt werden. Ein gänzlich unvermuteter Umstand sollte für die Nachforschungen ein bestimmtes Ziel geben. Am 19. nämlich fuhren Gilbert Burbank und Mars, die am frühen Morgen aufgebrochen waren, den Saint-John in einem der leichtesten Boote hinauf, die in Camdleß-Bai aufzutreiben waren. Keiner von den in der Pflanzung aufhältlichen Negern begleitete sie auf diesen tagtäglich an beiden Flußufern unternommenen Touren, die so geheim wie möglich gehalten wurden, um den Spionen, die schließlich auf Texars Befehl die Zugänge zu Castle-House überwachen konnten, keinerlei Anhalt zu geben.

Am 19. März, wie gesagt, fuhren sie am linken Ufer hin, zwischen dem hohen Schilf hinter den von den starken Aequinoktialfluten abgelösten Werdern, das sie vor jeder Gefahr, beobachtet zu werden, schützte. Selbst von den im Flußbett fahrenden Schiffen konnten sie unmöglich gesehen werden. Der Zweck ihrer diesmaligen Fahrt war die Erforschung der verborgensten Buchten und Wasserläufe in den Countys Duval und Putnam.

Bis zum Weiler Mandarin erinnert der Anblick, welchen der Fluß bietet, fast immer an Sumpfland. Hinter dem Weiler bedecken zahlreiche Inseln das verengerte Flußbett. Von dort bogen sie in den westlichen Flußarm ein, um zu untersuchen, ob sich vielleicht unter dem Dickicht der Mangrove-Bäume ein Rio öffne, der sich weiter ins Innere hinein verfolgen lasse. Sie waren erst ein kurzes Stück gefahren, als auch schon die weiten Sümpfe des Unterlaufs verschwanden. An ihre Stelle traten kleine Flußtäler, die mit baumhohen Farnbüschen und Ambrabäumen, von Serpentarien und Aristolochien umrankt, bedeckt waren. Weder am rechten noch am linken Ufer eine Wohnhütte, bloß hin und wieder eine leerstehende Jagdhütte; stellenweis sah die Gegend aus, als sei sie, in Ermangelung menschlicher Wesen, von allerhand Tierzeug zum ständigen Schlupfwinkel erkoren. Hundegebell, Katzenmiauen, Froschgequak, Schlangengezisch, Fuchsgebell schlugen an die Ohren der beiden Männer. Aber weder von Füchsen, noch von Katzen, Fröschen, Hunden oder Schlangen ließ sich etwas sehen. All die Töne rührten bloß her von dem alle Tierstimmen nachahmenden Katzenvogel, einer Art Braundrossel, mit schwarzem Schopf und rötlichem Schweif, die durch das anfahrende Boot aus ihrer Ruhe aufgescheucht wurde.

Es war etwa um drei Uhr nachmittags. Das leichte Fahrzeug bog mit seiner Spitze unter ein finsteres Schilfdickicht, als es von Mars durch einen kräftigen Stoß mit dem Bootshaken durch eine grüne Wand geschnellt wurde, die auf den ersten Blick jeder für unpassierbar gehalten haben würde. Hinter der Wand zeigte sich eine Art kreisrunder Einschnitt von der Größe etwa eines halben Morgens, dessen unter hohen Uferbäumen geschützt liegende Bäume wohl noch niemals die Wärme von Sonnenstrahlen verspürt hatten.

»Ein Weiher,« rief Mars aus und richtete sich empor, um einen Blick auf die Ufer desselben zu werfen – »den ich noch nicht kannte!«

»Suchen wir ihn also ab!« entgegnete Gilbert; »er muß doch mit der Kette von Tümpeln im Zusammenhang stehen, die durch diese Krampe gebildet werden. Vielleicht werden sie von einem Rio gespeist, der uns weiter in das Landinnere hineinführt?«

»Allerdings, Herr Gilbert,« versetzte Mars, »und nordwestlich von uns sehe ich auch die Oeffnung einer Fahrstraße.«

»Könntest du bestimmen,« fragte der junge Offizier, »an welchem Orte wir uns befinden?«

»Genau nicht, versetzte Mars, »es müßte denn gerade der unter dem Namen Schwarze Krampe bekannte Teicheinschnitt sein. Indessen bin ich, gleich allen Leuten der Gegend, der Meinung gewesen, es sei unmöglich, dorthin zu gelangen, weil es zwischen dieser Krampe und dem Saint-John keine Verbindung gebe.«

»Lag nicht einmal in dieser Krampe ein Fort oder Blockhaus zum Schutze gegen die Seminolen?« fragte Gilbert.

»Jawohl, aber die Einfahrt zur Krampe vom Fluß aus hat sich seit Jahren verstopft, und deshalb wurde das Blockhaus geräumt. Ich selber habe niemals einen Fuß dorthin gesetzt, und meiner Meinung nach muß es jetzt zerfallen sein.«

»Versuchen wir, es zu erreichen,« sagte Gilbert.

»Jawohl, versuchen wir es,« stimmte Mars bei, »wenn es auch nicht gerade leicht sein wird. Das Wasser wird bald verschwinden und solch zähem Sumpfe Platz machen, daß man nicht weiter kommen wird.«

»Höchst wahrscheinlich, Mars! Darum werden wir, solange es uns nicht an Wasser fehlt, im Boote bleiben müssen.«

»Säumen wir keinen Augenblick, Herr Gilbert! Es ist schon drei Uhr, und unter diesem Dickicht wird die Nacht nicht warten lassen.«

Es war tatsächlich die Schwarze Krampe, zu welcher der Stoß mit dem Bootshaken Gilbert und Mars durch das vorgelagerte Schilf- und Mangrove-Dickicht den Weg geöffnet hatte. Wie man weiß, war sie nur für leichte Skiffs fahrbar, ähnlich demjenigen, dessen sich Squambo in der Regel bediente, wenn er sich allein oder mit seinem Herrn auf den Saint-John hinaus wagte. Um bis zu dem Blockhause zu gelangen, das mitten in dieser Krampe lag, mußte man zudem durch das unentwirrbare Netz von Werdern und Kanälen dringen, mußte man Bescheid wissen mit den tausenderlei Windungen, in die sich seit Jahren kein Mensch mehr gewagt hatte. Man hielt das Vorhandensein des Blockhauses kaum noch für möglich. Aus diesem Grunde die vollständige Sicherheit für diese merkwürdige Figur von Bösewicht, der sich diese Oertlichkeit zu ihrem gewöhnlichen Schlupfwinkel auserwählt hatte. Daher das unbedingte Geheimnis, in das sich Texars Privatleben hüllte.

Man hätte, um sich durch dieses Labyrinth zu finden, über dem fortwährend, selbst in der Zeit, da die Sonne durch den Meridian tritt, tiefe Dunkelheit lag, einen Ariadnefaden haben müssen; freilich konnte es, wem es an einem solchen fehlte, auch beschieden sein, daß ihm der Zufall dazu verhalf, das in der Mitte der Schwarzen Krampe gelegene Eiland zu entdecken. Dem Zufall, diesem unbewußten Führer, mußten sich also auch Gilbert und Mars überlassen. Als sie den ersten Einschnitt passiert hatten, steuerten sie durch die Kanäle, in denen durch die jetzt im Steigen befindliche Flut das Wasser eine Höhe erreichte, daß selbst die engsten und schmälsten derselben für Boote befahrbar waren. Gleichwie durch eine Ahnung vorwärtsgetrieben, drangen die beiden Männer weiter hinein in dieses ihnen unbekannte Wasserwirrsal, ohne sich zu fragen; wie sie den Rückzug wieder aus demselben herausfinden würden. Sie hatten sich nun einmal vorgenommen, das ganze County zu erforschen, und so war es von Belang, daß sich von dem Bereich dieser Wasserkrampe nichts ihren Späherblicken entzog.

Nach einer halben Stunde, Gilberts Schätzung der Zeit nach, mühseligsten Ringens mußte das Boot eine starke Meile in der Krampe vorgedrungen sein. Bald aus dieser, bald auf jener Seite durch eine unüberschreitbare Bodenerhöhung gehemmt, hatte es zu wiederholten Malen aus dem einen Kanale wieder hinauslenken und in einen andern einbiegen müssen. Darüber jedoch, daß die Richtung sich im allgemeinen nach Westen zu hielt, bestand kein Zweifel. Keiner von den beiden Männern, weder Gilbert noch Mars, hatte versucht, den Fuß ans Land zu setzen: da all diese Werder kaum soviel Erdreich hatten, daß sie bei mittlerem Wasserstande über die Wasserfläche ragten, war es auch klüger, solange, wie es dem Boote nicht an Wasser fehlte, das Boot nicht zu verlassen. Immerhin war es nur mit großer Anstrengung möglich gewesen, das Boot um diese Meile weiterzubringen, und so kräftig der Mestize auch war, so mußte er sich doch eine kurze Weile Ruhe gönnen. Aber er wollte sich nicht früher dazu verstehen, als bis ein größeres und höher liegendes Werder gefunden war, zu welchem durch eine durchbrochene Stelle in den Kronen der sie überdachenden Bäume ein paar Lichtstrahlen den Weg hinunter fanden.

»Hm! das ist doch seltsam!« meinte jetzt der Mestize.

»Was ist denn?« fragte Gilbert.

»Das sieht doch ganz aus auf diesem Werder, als wenn der Boden bestellt würde!« versetzte Mars.

Die Männer stiegen aus und standen auf einem Boden, der nicht mehr so sumpfig war wie aller bisher von ihnen untersuchte. Mars ging nicht fehl in seiner Meinung. Spuren bestellten Bodens zeigten sich nun in unwiderleglicher Form: hier und da keimten Erdknollen; ein halbes Dutzend von Menschenhand gegrabener Furchen durchsetzten den Boden; eine vergessene Hacke steckte noch darin.

»Die Krampe wird also bewohnt?« fragte Gilbert.

»So muß es wohl sein,« versetzte Mars,« »oder sie erfreut sich zum wenigsten der Bekanntschaft von Waldläufern, vielleicht auch Indianern, die sich hier ihren Kohl bauen.«

»Dann wäre es gar nicht so unmöglich, daß sie sich Wohnungen – Hütten – gebaut hätten!«

»Allerdings, Herr Gilbert, und wenn es hier Hütten gibt, so werden sie uns nicht mehr lange verborgen bleiben!«

Es war von hohem Belang, zu ermitteln, was für Leute hier in dieser Schwarzen Krampe verkehren mochten: ob es sich um Jäger aus den südlichen Strichen handelte, die hier ihren heimlichen Treffort hatten, oder um Seminolen, die noch immer bandenweis im Marschlande von Florida sich aufhielten.

Ohne also an Rückkehr zu denken, bestiegen Gilbert und Mars wieder ihr Boot und drangen durch die Windungen an die Dunkelheit, die hier infolge der dichten Belaubung und Engen der Krampe weiter vor. Ihre Augen hatten sich der die Werder überdachenden Bäume herrschte, allmählich gewöhnt und schweiften nach allen Richtungen. Bald waren die Männer der Meinung, eine Hütte zu sehen, die sich aber in der Nähe als ein von einem Stamme zum andern gespannter Laubvorhang entpuppte. Bald wieder wähnten sie, einen Menschen zu sehen, der sie starr angaffte und dann nichts weiter war als ein alter knorriger Ast, von so wunderlicher Gestalt, daß er für einen menschlichen Schattenriß gehalten werden konnte. Dann wieder lauschten sie – vielleicht drang, was sich ihren Blicken entzog, zu ihrem Gehör? Das leiseste Geräusch wäre ja doch ausreichend, die Anwesenheit eines lebendigen Geschöpfs in solcher öden Gegend festzustellen.

Eine halbe Stunde mochte nach dem ersten Halt, den sie gemacht hatten, verstrichen sein, als sie sich bei dem mittlern Werder befanden. Das verfallene Blockhaus lag hier so dicht versteckt in dem urwaldähnlichen Blätterdickicht, daß keiner von ihnen etwas davon gewahr wurde. Es schien sogar, als fände die Krampe an dieser Stelle ihr Ende, als schlössen die überwucherten Kanäle sich nunmehr zu solcher Enge, daß sie nicht mehr befahrbar seien.

»Weiter vorzudringen scheint mir ausgeschlossen zu sein, Herr Gilbert,« bemerkte Mars; »das Wasser geht aus –«

»Und doch können wir uns nicht geirrt haben,« entgegnete der junge Offizier, »als wir vorhin Spuren von Landbau feststellten; es hausen also menschliche Kreaturen in dieser Krampe – vielleicht sind sie kürzlich da gewesen? – vielleicht sind sie noch da?«

»Ohne Frage,« erwiderte Mars; »aber wir müssen, was uns von Tageslicht noch bleibt, wahrnehmen, um den Saint-John wiederzugewinnen. Schon bricht die Nacht herein, bald wird Pechfinsternis herrschen! wie sollen wir uns aus diesem Wirrsal von Engen herausfinden? Ich glaube, Herr Gilbert, es ist klug, umzukehren, und unsere Tour hierher morgen in aller Frühe zu wiederholen. Fahren wir wie sonst heim nach Castle-House, erzählen wir dort, was wir gesehen haben, und richten wir uns auf eine gründlichere Erforschung dieser Schwarzen Krampe ein –«

»Jawohl! es geht nicht anders,« pflichtete Gilbert bei; »aber bevor wir umdrehen, hätte ich gern noch –«

Einen letzten Blick unter die Bäume werfend, stand Gilbert aufrecht im Boote – schon wollte er Mars winken, das Boot zu wenden, da faßte er den Gefährten am Arm – der Mestize hielt im Nu inne, und gleich Gilbert lauschte er gespannten Ohres.

Ein Schrei oder vielmehr ein Laut, der sich wie ein langgezogener Seufzer anhörte, der sich aber nicht mit den gewöhnlichen Tönen der Waldmusik verwechseln ließ, drang zu ihnen – ganz wie der letzte Hauch einer schwindenden Seele!

»Hier ruft ein Mensch um Hilfe!« sprach Gilbert – »vielleicht einer, der im Sterben liegt!«

»Ja!« antwortete Mars, »wir müssen zu ihm! müssen sehen, wer es ist! Steigen wir aus!«

Rasch lag das Boot am Gelände und wurde festgemacht. Dann sprang erst Mars, hinter ihm her Gilbert auf die kleine Insel und beide rannten unter die Bäume.

Auch hier Spuren auf schmalen, durch das Dickicht geschlagenen Pfaden, sogar Spuren von Männertritten, im sinkenden Tageslicht noch deutlich sichtbar!

Von Zeit zu Zeit blieben die beiden Männer stehen und lauschten. Erklang der seufzerähnliche Laut noch immer? Einzig und allein nach ihm konnten sie sich richten.

Von neuem, diesmal in aller Nähe, hörten sie den Laut. Trotz der immer dichter werdenden Finsternis erschien es ihnen nicht unmöglich, bis zu der Stelle hinzudringen, von welcher aus die Laute kamen.

Plötzlich erklang ein schärferer Schrei. Ueber die Richtung, der sie folgen mußten, bestand kein Irrtum mehr. Mit wenigen Schritten hatten sie einen durch Dickicht führenden Pfad passiert und sahen sich nun angesichts eines Menschen, der röchelnd in einer Blutlache neben einem Bretterzaune lag. Ein Messerstich hatte ihm die Brust durchbohrt. Der letzte Lebenshauch entwich seinen Lippen. Sein Leben zählte bloß nach Augenblicken.

Gilbert und Mars hatten sich über ihn geneigt. Er schlug die Augen noch einmal auf; aber sein Bemühen, auf die an ihn gestellten Fragen zu antworten, war vergeblich.

»Sehen müssen wir den Menschen können!« schrie Gilbert; »eine Fackel her – steck einen Ast in Brand!«

Schon hatte Mars von einem harzhaltigen Baume, deren auf dem Werder in Menge wuchsen, einen Ast gerissen und mit einem Zündholz angebrannt. Der qualmige Lichtschein warf in die Finsternis ein wenig Helligkeit.

Gilbert kniete neben dem im Sterben liegenden Manne. Es war ein Neger, ein Sklave, noch jung an Jahren. Durch das aufgerissene Hemd sah man ein Loch in seiner Brust klaffen, aus dem das Lebensblut entrann. Die Wunde mußte tödlich sein, denn das Messer hatte die Lunge durchbohrt.

»Wer bist du?« fragte Gilbert – »wer bist du?«

Keine Antwort.

»Wer hat dich so zugerichtet?«

Der Sklave konnte kein Wort mehr sprechen.

Mars leuchtete mit dem brennenden Zweige die Stelle ab, wo der Mord begangen worden. Da bemerkte er den Zaun und hinter dem Einfalltore den unsichern Schattenriß des Blockhauses: des kleinen Forts in der Schwarzen Krampe, von dessen Existenz in diesem Teil des County Duval man kaum noch eine Ahnung hatte.

»Das Fort!« schrie Mars, und seinen Herrn bei dem armen Neger zurücklassend, war er mit einem Sprunge durch das Einfalltor verschwunden.

Im Nu hatte er das Innere des Blockhauses durcheilt und die Zellen besichtigt, die sich zu beiden Seiten des Mittelganges befanden. In der einen Zelle fand er einen noch qualmenden Ueberrest von Feuer. Also war das Fort noch vor kurzem bewohnt worden! Aber was für Leuten, Floridiern oder Seminolen, hatte es als Zuflucht dienen können? Das mußte festgestellt werden um jeden Preis – festgestellt werden durch Ausforschen des im Sterben liegenden Schwarzen. Festgestellt mußte ferner werden, wer der Mörder des Negers war, denn geflohen konnte derselbe erst vor ganz kurzer Zeit sein.

Mars trat aus dem Blockhaus, lief um den innern Zaun herum, leuchtete mit seinem brennenden Aste unter die Bäume – keine Seele! Wäre er mit Gilbert früh am Morgen hier gewesen, so hätte er am Ende gefunden, wer hier hauste! Zur Zeit aber war das Blockhaus leer – sie waren zu spät gekommen!

Nun eilte der Mestize zurück zu seinem Herrn, dem er schon von weitem zurief, daß sie im Blockhause der Schwarzen Krampe seien.

»Hat der Neger Antwort geben können?« fragte er.

»Nein,« erwiderte Gilbert; »das Bewußtsein fehlt ihm, und ob er es wiedererlangen wird, scheint mir zweifelhaft!«

»Probieren wir es, Herr Gilbert!« versetzte Mars »hier waltet ein Geheimnis ob, dessen Kenntnis für uns von Belang ist, und in dessen Besitz wir unmöglich gelangen können, sobald dieser Unglückliche aus dem Leben geschieden ist!«

»Gewiß, Mars! Tragen wir ihn in das Blockhaus! Dort kommt er doch vielleicht wieder zu sich. Hier im Freien können wir ihn unmöglich verscheiden lassen!«

»Nehmen Sie den Ast, Herr Gilbert,« antwortete Mars; »ich habe Kraft genug, ihn zu tragen.«

Gilbert nahm die brennende Harzfackel. Der Mestize hob den Körper auf, der bloß noch eine träge Masse war, trug ihn bis zum Einfalltore, drang in eine der Zellen hinein und legte seine Last dort auf eine Rasenmatte nieder. Hierauf nahm er seine Brieftasche aus dem Leibgurt und führte sie dem Sterbenden an die Lippen.

Noch schlug das Herz desselben, wenn auch schwach und in langen Pausen. Das Leben entwich – würde ihm auch sein Geheimnis entweichen, ehe er den letzten Seufzer getan?

Die paar Tropfen Schnaps schienen ihn leicht zu beleben. Die Augen öffneten sich wieder und hefteten sich auf Mars und Gilbert, die ihn dem Tode abspenstig zu machen suchten.

Er wollte sprechen – ein paar undeutliche Töne entrangen sich seinem Munde – vielleicht ein Name!

»Sprich! – sprich!« rief Mars.

Die übermäßige Erregtheit des Mestizen war wirklich ganz unbegreiflich; sie machte ganz den Eindruck, als ob die Aufgäbe, der er sein Leben geweiht hatte, von den letzten Worten dieses Sterbenden abhängig gewesen sei!

Umsonst versuchte der junge Sklave ein paar Worte zu sprechen. Er besaß die Kraft nicht mehr dazu.

Da fühlte Mars, daß in seiner Jackentasche ein Stück Papier steckte. Dasselbe hervorlangen, öffnen, beim Schein der Harzflamme lesen, war das Werk eines Augenblicks.

Ein paar Worte waren mit Kohle darauf gekritzelt; sie lauteten:

»Von Texar in der Marino-Krampe geraubt – nach den Everglades geschleppt – auf die Insel Carneral – Zettel diesem jungen Sklaven anvertraut – für Herrn Burbank!«

Die Schrift war Mars wohlbekannt: es war Zermahs Handschrift!

»Zermah!« schrie er.

Der Sterbende schlug, als dieser Name sein Ohr traf, nochmals die Augen auf, und als wenn er seiner Zustimmung Ausdruck geben wollte, ließ er den Kopf sinken.

Gilbert stützte ihn, und als er hierauf den Namen »Zermah« wiederholte, nickte der Neger wieder.

»Und Du?« fragte Gilbert weiter.

Abermals nickte der Neger.

»Wer hat dich erstochen?«

»Texar!« hauchten des Sterbenden Lippen.

Es war das letzte Wort dieses armen Sklaven. Tot sank er auf das Graslager zurück.


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