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Sechzehntes Kapitel.
Egas

Am 20. Juli 6 Uhr morgens schickten sich Yaquita, Minha, Lina und die beiden jungen Männer an, die Jangada zu verlassen.

Joam Garral, der bisher noch nicht die Absicht, an Land zu gehen, bekundet hatte, entschloß sich diesmal auf die Bitten seiner Frau und Tochter seine tägliche, die ganze Zeit ausfüllende Arbeit liegen zu lassen und sie aus ihrem Ausflug zu begleiten.

Torres zeigte sich nicht erpicht darauf, sich Egas anzusehen, worüber Manuel sehr erfreut war, der gegen diesen Mann eine Abneigung gefaßt hatte, und nur auf eine Gelegenheit wartete, dies ihm zu zeigen.

Fragoso hatte auch nicht das Interesse an einem Gang nach Egas wie nach Tabatinga, einem doch sehr unbedeutenden Flecken gegen diese kleine Stadt.

Egas ist vielmehr ein Hauptort von 1500 Einwohnern, wo all die Beamten wohnen, welche die Verwaltung einer so bedeutenden Stadt erheischt – bedeutend für das Land – als Militärkommandant, Polizeichef, Friedensrichter, Landrichter, Elementarlehrer und Militär unter Vorgesetzten jedes Ranges.

Wo so viele Beamten mit Frauen und Kindern wohnten, war anzunehmen, daß es an Barbieren und Friseuren nicht fehlte. Das war auch wirklich der Fall, und Fragoso hätte kein Geschäft gemacht.

Obgleich also der liebenswürdige Bursche in Egas nichts weiter zu suchen hatte, beabsichtigte er doch, mit von der Partie zu sein, da Lina ihre junge Herrin begleitete. Aber als er eben die Jangada verlassen wollte, fügte er sich zu guterletzt doch noch darein, zu bleiben, auf Linas Bitten selber.

»Signor Fragoso?« sagte sie zu ihm, nachdem sie ihn beiseite genommen hatte.

»Jungfer Lina?« antwortete Fragoso.

»Ich glaube nicht, daß Ihr Freund Torres die Absicht hat, uns nach Egas zu begleiten.«

»Allerdings bleibt er an Bord, Jungfer Lina, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn nicht meinen Freund nennen wollten.«

»Aber Sie haben ihn doch bestimmt, uns um einen Platz auf der Jangada zu bitten, ehe er selber die Absicht bekundet hatte.«

»Ja, und diesen Tag, wenn ich Ihnen sagen soll, was ich so denke – an diesem Tage fürchte ich eine Dummheit begangen zu haben.«

»Und wenn ich Ihnen sagen soll, was ich so denke, Signor Fragoso, der Mensch gefällt mir gar nicht.«

»Mir gefällt er auch nicht, Jungfer Lina, und es ist mir immer so, als hätte ich ihn schon mal irgendwo gesehen. Aber die unbestimmte Erinnerung, die er in mir hinterlassen hat, ist nur in einem Punkte klar: daß es kein guter Eindruck war.«

»An welchem Ort, zu welcher Zeit könnten Sie diesen Torres getroffen haben? Sie können sich dessen nicht entsinnen? Es wäre vielleicht gut, wenn man erführe, was er ist, oder vor allem, was er gewesen ist.«

»Nein ... Ich denke nach ... Ist es lange her? ... In welchem Lande, unter welchen Umständen? ... Ich komme nicht darauf.«

»Signor Fragoso?«

»Jungfer Lina?«

»Sie werden an Bord bleiben müssen, um während unserer Abwesenheit diesen Torres zu überwachen.«

»Was!« rief Fragoso. »Ich soll Sie nicht nach Egas begleiten und Sie einen ganzen Tag lang nicht sehen?«

»Ich wünsche es.«

»Ist das ein Befehl?«

»Es ist eine Bitte.«

»Ich werde bleiben.«

»Signor Fragoso?«

»Jungfer Lina?«

»Ich danke Ihnen.«

»Geben Sie mir zum Danke eine Patschhand!« antwortete Fragoso. »Das ist die Sache wert!«

Lina reichte dem wackern Burschen die Hand, die er einen Augenblick festhielt, das reizende Gesicht des jungen Mädchens betrachtend.

Aus diesem Grunde nahm Fragoso nicht in der Piroge Platz, sondern blieb als Wächter Torres' zurück, ohne sich das merken zu lassen.

Merkte Torres seinerseits, was für Widerwillen er allen einflößte? Vielleicht, jedesfalls hatte er seine Gründe, nicht dergleichen zu tun.

Eine Entfernung von vier Meilen lag zwischen dem Anlegeplatz und der Stadt Egas.

Acht Meilen hin und zurück, zu sechs Mann in einer Piroge, die obendrein bloß von zwei Negern gerudert wurde, das wäre eine Ueberfahrt gewesen, die mehrere Stunden in Anspruch genommen hätte, ganz zu schweigen von den Strapazen der hohen Temperatur, die immer noch herrschte, obgleich der Himmel leicht bewölkt war.

Aber zum Glück wehte eine leichte Brise aus Nordwesten, die für eine Fahrt über den Tefe-See günstig war, wenn sie nicht umsprang.

Man konnte nach Egas segeln und auch schnell zurückkommen, ohne kreuzen zu müssen.

Am Mast der Piroge wurde das Segel gehißt. Benito übernahm die Steuerung, und man fuhr ab, nachdem Lina ein letztesmal Fragoso anempfohlen hatte, gut auf der Hut zu sein.

Sie brauchten, um nach Egas zu kommen, bloß am südlichen Ufer des Sees entlang zu fahren. Zwei Stunden darauf langte die Piroge im Hafen der alten Mission an, die ehemals von Karmelitern gegründet, 1759 Stadt wurde und von General Gama endgiltig unter brasilianische Herrschaft gebracht wurde.

Die Piroge legte an einem flachen Strande an, an dem nicht nur die landesüblichen Fahrzeuge, sondern auch ein paar kleine Schooner lagen, die die Küstenfahrt am Atlantischen Ozean besorgen.

Als man nach Egas hineinging, waren die beiden jungen Mädchen zuerst nicht wenig erstaunt.

»Ah! die große Stadt!« rief Minha.

»Was für Häuser! was für Menschen!« rief Lina, die die Augen aufsperrte, wie um besser sehen zu können.

»Glaub's wohl,« lachte Benito, »über 1500 Einwohner, mindestens 200 Häuser, von denen manche ein Stockwerk haben, und sogar ein paar Straßen, wirkliche Straßen!«

»Mein lieber Manuel,« sagte Minha, »nimm uns gegen meinen Bruder in Schutz! Er macht sich über uns lustig, weil er schon so viele schöne Städte in den Provinzen des Amazonenstromes und in Para gesehen hat.«

»Nun, dann wird er sich auch über seine Mutter lustig machen,« setzte Yaquita hinzu, »denn ich gestehe, ich habe noch nie dergleichen gesehen.«

»Dann seht Euch nur vor, Mutter und Schwester,« versetzte Benito, »denn Ihr werdet in Ekstase verfallen, wenn Ihr nach Manaos kommt, und werdet völlig futsch sein, wenn Ihr in Belem eintrefft.«

»Fürchte nichts!« antwortete Manuel lächelnd. »Die Damen werden allmählich sich auf die großen Wunder gefaßt machen können, indem sie die bedeutendsten Städte des obern Amazonas in Augenschein nehmen.«

»Wie? auch den Manuel,« sagte Minha, »du sprichst wie mein Bruder? Tu machst dich lustig?«

»Nein, Minha, ich schwöre dir –«

»Mögen doch die Herren lachen,« fügte Lina hinzu, »wir wollen die Augen aufmachen, teure Herrin, denn das alles ist sehr schön!«

Sehr schön! Ein Haufen von Häusern, meistens ans Lehm gebaut und mit Kalk geweißt, mit Stroh oder Palmblättern gedeckt! Einige waren allerdings aus Stein oder Holz gebaut und hatten Veranden, Türen und Fenster, die mit rohem Grün gestrichen waren, und einen kleinen Garten voll blühender Orangen.

Auch ein paar öffentliche Gebäude waren da, eine Kaserne und eine Kirche, die der heiligen Therese geweiht war und gegen die bescheidene Kapelle von Iquitos eine Kathedrale genannt werden konnte.

Wenn man sich nach dem See umdrehte, umfaßte man mit dem Blick ein reizendes Panorama, das in einen Rahmen von Kokospalmen und Assais eingeschlossen war, und dessen Abschluß die ersten Wellen des Wasserspiegels bildete, und darüber hinaus auf der andern Seite zeigte sich, drei Meilen entfernt, das malerische Dorf Nogueira mit den in den dichten Olivenbäumen des Ufers ganz versteckten Häuschen.

Aber für die zwei jungen Mädchen war noch ein anderer Anlaß zum Staunen – zu echt weiblichem Staunen – nämlich die Kostüme der eleganten Damen von Egas, nicht die auch hier noch ziemlich primitive Kleidung der Eingebornen des schönen Geschlechts vom Stamme der bekehrten Omaas oder Muras, sondern das Kostüm der echten Brasilianerinnen.

Ja, die Frauen und Töchter der Beamten oder Großkaufleute trugen Pariser Toiletten, von allerdings etwas verspätetem Schnitt – und dies 500 Meilen von Para entfernt, das selber noch mehrere 1000 Meilen von Paris entfernt ist. Die Art, wie Jules Verne hier diesen übrigens recht trügerischen Beweis für die weittragende Bedeutung von Paris registriert, ist ein interessantes Beispiel seines einseitigen Chauvinismus. A. d. Ü.

»Aber sehen Sie nur, Herrin, die schönen Damen in ihren neuen Kleidern!«

»Lina wird noch närrisch darüber!« rief Benito.

»Wenn diese Toiletten mit Geschmack getragen würden,« antwortete Minha, »würden sie vielleicht nicht so lächerlich aussehen.«

»Meine liebe Minha,« sagte Manuel, »mit deinem einfachen baumwollnen Kleid und deinem Strohhut, glaube mir, siehst du schmucker aus, als all diese Brasilianerinnen mit ihren überschwenglichen Hüten und Volantröcken, die weder ihres Landes sind noch zu ihrer Rasse passen.«

»Wenn ich dir so gefalle,« antwortete das junge Mädchen, »brauche ich niemand um was zu beneiden!«

Aber sie war einmal gekommen, sich alles anzusehen.

Sie gingen daher in den Straßen spazieren, wo mehr Buden als Läden waren, sie schlenderten über den Platz, wo sich die Stutzer und Modedamen, die unter ihrer europäischen Kleidung vor Hitze umkamen, sich ein Stelldichein gaben; sie frühstückten sogar in einem Hotel – es war freilich kaum ein Gasthof – dessen Küche sie die ausgezeichnete Verpflegung auf der Jangada schmerzlich vermissen liefe.

Nach dem Diner, das lediglich aus Schildkrötenfleisch in verschiedenen Zubereitungen bestand, bewunderte die Familie Garral ein letztesmal die Ufer des Sees, den die sinkende Sonne mit seinen Strahlen vergoldete, und kehrte dann zur Piroge zurück – ein wenig ernüchtert vielleicht betreffs der Großartigkeit einer Stadt, die in einer Stunde »genossen« war, ein wenig ermüdet auch von dem Hin- und Herlaufen in den heißen Straßen, die mit den schattigen Pfaden von Iquitos nicht zu vergleichen waren.

Bis auf die schaulustige Lina war bei allen die Begeisterung stark gedämpft worden.

Alle nahmen in der Piroge Platz. Der Wind wehte noch immer von Nordwesten und wurde kühler, je später es wurde.

Das Segel wurde gehißt. Sie fuhren denselben Weg wie heute morgen über den See, der von dem schwarzwässrigen Rio Tefe sein Wasser erhält. Nach den Angaben der Indianer ist dieser Fluß auf die Strecke von 40 Marschtagen nach Südwesten hin schiffbar.

Um 8 Uhr traf die Piroge am Ankerplatz ein und legte neben der Jangada an.

Sobald Lina Fragoso beiseite nehmen konnte, fragte sie ihn:

»Haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt, Signor Fragoso?«

»Nichts, Jungfer Lina,« antwortete Fragoso. »Torres ist aus seiner Kabine nicht herausgekommen, er hat dort geschrieben und gelesen.«

»Er ist nicht ins Haus gegangen, in das Eßzimmer, wie ich fürchtete?«

»Nein, die ganze Zeit über, daß er nicht in seiner Kabine gewesen ist, ist er vorn auf der Jangada hin und her spaziert.«

»Und was hat er gemacht?«

»Er hielt ein altes Stück Papier in der Hand, schien es mit Aufmerksamkeit zu studieren und murmelte ein paar unverständliche Worte.«

»Das alles ist vielleicht nicht so nebensächlich, wie Sie glauben, Signor Fragoso! Wo sich's um was zu lesen und was Geschriebenes und um alte Papiere handelt, da hat's immer seinen Haken! Wenn dieser Mensch gar liest und schreibt – der ist doch kein Professor und kein Rechtsmensch!«

»Da haben Sie recht.«

»Wir wollen ferner gut acht haben, Signor Fragoso!«

»Wir wollen immer gut acht geben, Jungfer Lina!«

Am folgenden Tage, dem 27. Juli, gab bei Tagesanbruch Benito dem Lotsen das Signal zur Abfahrt.

Durch den schmalen Zwischenraum der Inseln, die in der Bau von Arenapo liegen, wurde die 6600 Fuß breite Mündung des Hiapura auf einen Augenblick sichtbar.

Dieser große Nebenfluß ergießt sich in acht Armen in den Amazonenstrom, wie ein Strom in einen Ozean oder einen Golf. Aber sein Wasser kommt von weither. Die Cordilleren der Republik Ecuador entsenden sie in einem Laufe, der erst 210 Meilen vor seiner Mündung von Katarakten unterbrochen wird.

Diesen ganzen Tag nahm die Fahrt bis zur Insel Hiapura in Anspruch, hinter welcher der Strom freier und daher die Fahrt leichter werden mußte.

Da der Strom übrigens im Grunde wenig reißend war, ließ sich diesen Inselchen leicht ausbiegen, und nie stieß die Jangada an oder fuhr auf.

Am folgenden Tage fuhr die Jangada an endlosem Strand hin, der von hohen hügeligen Dünen gebildet war. Diese Dünen dienen als Dämme für unermeßliches Weideland, auf dem man das ganze Vieh von Europa unterbringen und beköstigen könnte.

Dieser Strand gilt als der reichste an Schildkröten im ganzen Becken des obern Amazonenstromes.

Am 29. Juli abends wurde an der Insel Catua angelegt, um hier die Nacht zuzubringen, die sehr finster zu werden drohte.

Während die Sonne noch überm Horizont stand, erschien auf dieser Insel eine Schar Muras-Indianer – der Ueberrest jenes alten mächtigen Stammes, der einst zwischen dem Tefe und dem Madeira ein Gebiet von über 100 Meilen am Ufer des Stromes inne hatte.

Diese Eingeborenen beobachteten hin und her gehend das Floß, das jetzt still lag.

Etwa 100 von ihnen waren mit Sarbacanen (Blasrohren) »Die Rohre«, schreibt Alexander von Humboldt, »waren 15 bis 17 Fuß lang und doch war keine Spur von Knoten zum Ansatz von Blättern oder Zweigen zu bemerken. Sie waren vollkommen gerade, außen glatt und völlig zylindrisch. Sie sind jenseits des Orinoco unter dem Namen »Rohr von Esmeralda« sehr gesucht. Ein Jäger führt sein ganzes Leben lang dasselbe Blaserohr; er rühmt die Leichtigkeit, Genauigkeit und Politur desselben, wie wir an unsern Feuergewehren dieselben Eigenschaften rühmen.« bewaffnet, die aus einer in dieser Gegend heimischen Rohrart gefertigt werden. Zur Festigung nach außen wird ein Schaft aus Zwergpalmenholz darum gelegt, aus dem das Mark entfernt wird.

Joam Garral ließ ein Weilchen die Arbeit liegen, die seine ganze Zeit in Anspruch nahm, und wies seine Leute an, gut aufzupassen und die Eingeborenen ja nicht zu reizen.

Es wäre in der Tat ein ungleicher Kampf gewesen.

Die Muras besitzen hervorragende Geschicklichkeit, bis auf 300 Schritt aus ihren Sarbacanen Pfeile zu schießen, die unheilvolle Wunden verursachen.

Diese Pfeile, die aus den Blättern der »Kukurit«-Palme geschnitten und mit Baumwolle befiedert werden, sind 9 bis 10 Zoll lang, spitz wie Nadeln und werden mit »Curare« vergiftet.

Das Curare oder »Wurah« wird aus dem Saft einer Euphorbiacee und einer knolligen Strychnosart bereitet, auch das Sekret giftiger Ameisen und der Drüsen von Giftschlangen wird dazu gemischt.

Jules Verne ist über die Zubereitung des Giftes falsch unterrichtet: siehe Alexander von Humboldts Mitteilungen hierüber:

Das Glück wollte, daß wir einen alten Indianer trafen, der weniger betrunken als die andern und eben beschäftigt war, das Curaregift aus den frischen Pflanzen zu bereiten. Der Mann war der Chemiker des Orts. Wir fanden bei ihm große tönerne Pfannen zum Kochen der Pflanzensäfte, flachere Gefäße, die durch ihre große Oberfläche die Verdunstung befördern, dütenförmig aufgerollte Bananenblätter zum Durchseihen der mehr oder weniger faserigte Substanzen enthaltenden Flüssigkeiten. Die größte Ordnung und Reinlichkeit herrschten in dieser zum chemischen Laboratorium eingerichteten Hütte. Der Indianer, der uns Auskunft erteilen sollte, heißt in der Mission der Giftmeister ( amo del Curare); er hatte das steife Wesen und den pedantischen Ton, den man früher in Europa den Apothekern zum Vorwurf machte. »Ich weiß,« sagte er, »die Weißen verstehen die Kunst, Seife zu machen und das schwarze Pulver, bei dem das Ueble ist, daß es Lärm macht und die Tiere verscheucht, wenn man sie fehlt. Das Curare, dessen Bereitung bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, ist besser als alles, was ihr dort drüben (über dem Meere) zu machen wißt. Es ist der Saft einer Pflanze, der ganz leise tötet (ohne daß man weiß, woher der Schuß kommt).«

Diese chemische Operation, auf die der Meister des Curare so großes Gewicht legte, schien uns sehr einfach. Das Schlinggewächs ( bejuco), aus dem man in Esmeralda das Gift bereitet, heißt hier wie in den Wäldern bei Javita. Es ist der Bejuco de Mavacure, und er kommt östlich von der Mission am linken Ufer des Orinoco, jenseits des Rio Amaguaca im granitischen Bergland von Guanaya und Yumariquin in Menge vor. Obgleich die Bejucobündel, die wir im Hause des Indianers fanden, gar keine Blätter mehr hatten, blieb uns doch kein Zweifel, daß es dasselbe Gewächs aus der Familie der Strychneen war (Aublets Rouhamon sehr nahe stehend), das wir im Walde bei Pimichin untersucht. Der Mavacure wird ohne Unterschied frisch oder seit mehreren Wochen getrocknet verarbeitet. Der frische Saft der Liane gilt nicht für giftig; vielleicht zeigt er sich nur wirksam, wenn er stark konzentriert ist. Das furchtbare Gift ist in der Rinde und einem Teil des Splints enthalten. Man schabt mit einem Messer 4-5 Linien dicke Mavacurezweige ab und zerstößt die abgeschabte Rinde aus einem Stein, wie er zum Reiben des Maniocmehls dient, in ganz dünne Fasern. Da der giftige Saft gelb ist, so nimmt die ganze faserigte Masse die nämliche Farbe an. Man bringt dieselbe in einen 9 Zoll hohen, 4 Zoll weiten Trichter. Diesen Trichter strich der Giftmeister unter allen Gerätschaften des indianischen Laboratoriums am meisten heraus. Er fragte uns mehreremale, ob wir por alla (dort drüben, das heißt in Europa) jemals etwas gesehen hätten, das seinem Embudo gleiche? Es war ein dütenförmig aufgerolltes Bananenblatt, das in einer andern stärkeren Düte aus Palmblättern steckte; die ganze Vorrichtung ruhte auf einem leichten Gestell von Blattstielen und Fruchtspindeln einer Palme. Man macht zuerst einen kalten Aufguß, indem man Wasser an den faserigten Stoff, die gestoßene Rinde des Mavacure, gießt. Mehrere Stunden lang tropft ein gelblichtes Wasser vom Embudo, dem Blatttrichter, ab. Dieses durchsickernde Wasser ist die giftige Flüssigkeit; sie erhält aber die gehörige Kraft erst dadurch, daß man sie wie die Melasse in einem großen tönernen Gefäß abdampft. Der Indianer forderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flüssigkeit zu kosten; nach dem mehr oder minder bittern Geschmack beurteilt man, ob der Saft eingedickt genug ist. Dabei ist keine Gefahr, da das Curare nur dann tödlich wirkt, wenn es unmittelbar mit dem Blut in Berührung kommt. Deshalb sind auch, was auch die Missionäre am Orinoco in dieser Beziehung gesagt haben mögen, die Dämpfe vom Kessel nicht schädlich. Fontana hat durch seine schönen Versuche mit dem Ticunasgift vom Amazonenstrom längst dargetan, daß die Dämpfe, die das Gift entwickelt, wenn man es auf glühende Kohlen wirft, ohne Schaden eingeatmet werden, und daß es unrichtig ist, wenn La Condamine behauptet, zum Tode verurteilte indianische Weiber seien durch die Dämpfe de Ticunasgifts getötet worden.

Der noch so stark eingedickte Saft des Mavacure ist nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Also bloß um dem Gift Körper zu geben, setzt man dem eingedickten Aufguß einen andern sehr klebrigten Pflanzensaft bei, der von einem Baum mit großen Blättern, genannt Kiracaguero, kommt.

Sobald der klebrigte Saft des Kiracaguero-Baums dem eingedickten, kochenden Giftsaft zugegossen wird, schwärzt sich dieser und gerinnt zu einer Masse von der Konsistenz des Teers oder eines dicken Sirups. Diese Masse ist nun das Curare, wie es in den Handel kommt. Hört man die Indianer sagen, zur Bereitung des Giftes sei der Kiracaguero so notwendig als der Bejuco de Mavacure, so kann man auf die falsche Vermutung kommen, auch ersterer enthalte einen schädlichen Stoff, während er nur dazu dient, dem eingedickten Curaresaft mehr Körper zu geben (was auch der Algarobbo und jede gummiartige Substanz täten). Der Farbenwechsel der Mischung rührt von der Zersetzung einer Verbindung von Kohlenstoff und Wasserstoff her. Der Wasserstoff verbrennt und der Kohlenstoff wird frei. Das Curare wird in den Früchten der Crescentia verkauft; da aber die Bereitung desselben in den Händen weniger Familien ist und an jedem Pfeile nur unendlich wenig Gift haftet, so ist das Curare bester Qualität, das von Esmeralda und Mandavaca, sehr teuer. Ich sah für zwei Unzen 5-6 Franken bezahlen. Getrocknet gleicht der Stoff dem Opium; er zieht aber die Feuchtigkeit stark an, wenn er der Luft ausgesetzt wird. Er schmeckt sehr angenehm bitter, und Bonpland und ich haben oft kleine Mengen verschluckt. Gefahr ist keine dabei, wenn man nur sicher ist, daß man an den Lippen oder am Zahnfleisch nicht blutet. Bei Mangilis neuen Versuchen mit dem Viperngift verschluckte einer der Anwesenden alles Gift, das von vier großen italienischen Vipern gesammelt werden konnte, ohne etwas darauf zu spüren. Bei den Indianern gilt das Curare, innerlich genommen, als ein treffliches Magenmittel. Die Piravas- und Salivas-Jndianer bereiten dasselbe Gift; es hat auch ziemlichen Ruf, ist aber doch nicht so gesucht wie das von Esmeralda. Die Bereitungsart scheint überall ungefähr dieselbe; es liegt aber kein Beweis vor, daß die verschiedenen Gifte, welche unter demselben Namen am Orinoco und am Amazonenstrom verkauft werden, identisch sind und von derselben Pflanze herrühren. Orfila hat daher sehr wohl getan, wenn er in seiner Toxicologie générale das Woorara aus holländisch Guyana, das Curare vom Orinoco, das Ticuna vom Amazonenstrom und all die Substanzen, welche man unter dem unbestimmten Namen »amerikanische Gifte« zusammenwirft, für sich betrachtet. Vielleicht findet man einmal in Giftpflanzen aus verschiedenen Gattungen eine gemeinschaftliche alkalische Basis, ähnlich dem Morphium im Opium und der Vauqueline in den Strychnosarten.

Das Curare, wie die meisten andern Strychneen (denn wir glauben immer noch, daß der Mavacure einer nahe verwandten Familie angehört), werden nur dann gefährlich, wenn das Gift auf das Gefäßsystem wirkt. In Maypures rüstete ein Farbiger (ein Zambo, ein Mischling von Indianer und Neger) für Bonpland giftige Pfeile, wie man sie in die Blaserohre steckt, wenn man kleine Affen und Vögel jagt. Es war ein Zimmermann von ungemeiner Muskelkraft. Er hatte die Unvorsichtigkeit, das Curare zwischen den Fingern zu reiben, nachdem er sich unbedeutend verletzt, und stürzte zu Boden, von einem Schwindel ergriffen, der eine halbe Stunde anhielt. Zum Glück war es nur schwaches ( destemplado) Curare, dessen man sich bedient, um sehr kleine Tiere zu schießen, das heißt solche, welche man wieder zum Leben bringen will, indem man salzsaures Natron in die Wunde reibt. Auf unserer Rückfahrt von Esmeralda nach Atures entging ich selbst einer ziemlich nahen Gefahr. Das Curare hatte Feuchtigkeit angezogen, war flüssig geworden und aus dem schlecht verschlossenen Gefäß über unsere Wäsche gelaufen. Beim Waschen vergaß man einen Strumpf innen zu untersuchen, der voll Curare war, und erst als ich den klebrigten Stoff mit der Hand berührte, merkte ich, daß ich einen vergifteten Strumpf angezogen hätte. Die Gefahr war desto größer, da ich gerade an den Zehen blutete, weil mir Sandflöhe ( pulex penetrans) schlecht ausgegraben worden waren. Aus diesem Fall mögen Reisende abnehmen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man Gift mit sich führt.

»Dies ist in der Tat ein furchtbares Gift,« sagte Manuel. »Es zerstört direkt im Nervensystem diejenigen Nerven, kraft deren wir uns unserm Willen gemäß zu bewegen vermögen. Das Herz aber wird nicht affiziert, und es hört nicht auf, zu schlagen, bis die Funktionen völlig versagen. Und gegen dieses Gift, das mit Lähmung der Glieder beginnt, kennt man kein Gegengift.«

Glücklicherweise bekundeten diese Muras keine feindlichen Absichten, obwohl sie einen ausgesprochenen Haß gegen die Weißen hegen. Sie sind allerdings gegen ihre Vorfahren schon stark degeneriert.

Als die Nacht hereinbrach, erklang hinter den Bäumen Flötenspiel in Moll. Eine andere Flöte antwortete. Dieser Austausch von Worten in Musik dauerte einige Minuten, dann verschwanden die Muras.

In einem Augenblick fideler Stimmung hatte Fragoso versucht, den Muras mit einem Liede nach seiner Weise zu antworten, aber Lina kam zur rechten Zeit, um ihm die Hand auf den Mund zu legen. So konnte er sein Sängertalent nicht verwerten, das er so gern zum besten gab.

Am 2. August, um 3 Uhr abends, kam die Jangada, 20 Meilen weiter, am Apoara-See an, den mit seinem schwarzen Wasser der Rio gleichen Namens speist.

Zwei Tage später wurde gegen 5 Uhr am Coary-See Halt gemacht.

Der See ist einer der größten, die mit dem Strom in Verbindung stehen, und dient verschiedenen Rios als Reservoir. Fünf bis sechs Zuflüsse ergießen sich in ihn, vermischen sich hier, und ein enger Furo führt ihre vereinten Fluten in den Hauptstrom.

Der Weiler Tahua-Miri auf der Höhe kam in Sicht, auf seinen Pfeilern ruhte er wie auf Stelzen. Auf diese Weise wird er vorm Hochwasser geschützt, das oftmals diesen niedrigen Strand überschwemmt.

Dann legte die Jangada die Nacht über an.

In Sicht des Städtchens Coary wurde Halt gemacht. Dieser Flecken besteht aus einem Dutzend ziemlich verfallener Häuschen, die mitten in dichten Massen von Orangen- und Flaschenkürbisbäumen liegen.

Der Anblick dieses Weilers wechselt sehr, da infolge des hohen oder niedrigen Wasserstandes der See entweder eine weite Wasserfläche darstellt oder auf einen engen Kanal beschränkt ist, der nicht einmal tief genug ist, um mit dem Amazonenstrom in Verbindung zu stehen.

Am folgenden Morgen, dem 5. August, war bei Morgengrauen Aufbruch, und die Fahrt ging am Yucura-Kanal vorbei, der zu dem vor Seen und Furos zum Irrgarten verwandelten System des Rio Hiapura gehört.

Am 6. August morgens kam man an den See Miana.

An Bord hatte sich nichts Neues zugetragen. Alles vollzog sich in fast methodischer Regelmäßigkeit.

Noch immer von Lina veranlaßt, fuhr Fragoso fort, Torres zu bewachen. Mehrmals versuchte er, ihn über seine Vergangenheit auszuhorchen; aber der Abenteurer wich jedem Gespräch hierüber aus und zog sich schließlich vollständig vor dem Barbier zurück.

In seinem Verhalten gegen die Familie Garral blieb er der gleiche. Mit Joam sprach er wenig, aber er redete gern Yaquita und ihre Tochter an und schien gar nicht zu bemerken, daß sie ihm mit unverkennbarer Kälte antworteten.

Alle beide sagten sich übrigens, daß nach der Ankunft in Manaos Torres sie verlassen und man nichts mehr von ihm hören würde.

Yaquita befolgte in dieser Hinsicht den Rat des Padre Passanha, der sie ermahnte, Nachsicht zu üben; nicht ganz so leicht hatte es der würdige Vater bei Manuel, der nicht übel Lust hatte, dem Eindringling, der sich in so unwillkommener Weise auf der Jangada eingenistet hatte, alles Ernstes zu sagen, wo er hingehöre.

An diesem Abend ereignete sich nur ein bemerkenswerter Vorfall.

Eine Piroge, die den Strom hinunterfuhr, legte, von Joam Garral hierzu aufgefordert, an der Jangada an.

»Fährst du nach Manaos?« fragte der Fazendero den Indianer, der die Piroge fuhr.

»Ja,« antwortete der Indianer.

»Wann wirst du dort sein?«

»In acht Tagen.«

»Du kommst also ein gutes Weilchen vor uns an. Willst du es übernehmen, einen Brief zu besorgen?«

»Gern.«

»Dann nimm diesen Brief mit nach Manaos.«

Der Indianer nahm den Brief, den Joam Garral ihm reichte, und ein Handvoll Reis war der Lohn für den übernommenen Auftrag.

Von der Familie, die bereits im Hause weilte, hatte niemand das gesehen. Nur Torres war Zeuge von diesem Vorfall gewesen. Er hörte sogar die paar Worte mit an, die Joam Garral mit dem Indianer wechselte, und sein Gesicht, das sich verdunkelte, ließ leicht erraten, daß die Absendung dieses Briefes ihn wunder nahm.


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