Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.
Von Iquitos nach Pebas

Am folgenden Tage, dem 6. Juni, verabschiedeten sich Joam Garral und die Seinen vom Verwalter und dem Indianer- und Negergesinde, das auf der Fazenda zurückblieb. Um 6 Uhr morgens begaben sich alle Passagiere auf die Jangada – mit größerm Recht fast könnte man sagen alle Bewohner – und jeder ergriff Besitz von seiner Kabine oder richtiger, seinem Hause.

Der Augenblick der Abfahrt war gekommen. Der Pilot Araujo nahm seinen Platz vorn, und die Mannschaft trat mit ihren langen Stützen an.

Joam Garral überwachte mit Benito und Manuel das Abstoßen.

Auf Befehl des Lotsen wurden die Taue gelöst, die Stangen gegen den Strand gestemmt, um die Jangada vom Ufer wegzubringen, der Strom ergriff sie sogleich, und am linken Ufer entlang treibend, ließ sie die Inseln Iquitos und Parianta rechts liegen.

Die Reise war begonnen. Wo würde sie enden? In Para, in Belem, 800 Meilen von diesem kleinen peruanischen Dorfe, wenn die angenommene Route durch nichts abgeändert wurde! Wie würde sie enden? Das war das Geheimnis der Zukunft.

Das Wetter war herrlich. Ein frischer »Pampero« mäßigte die Sonnenglut. Es war dies einer der Juni- und Juliwinde, die von den einige hundert Meilen entfernten Cordilleren kommen, nachdem sie über die riesige Ebene von Sakramento hingezogen sind. Wenn die Jangada Masten und Segel gehabt hätte, hätte sie die Wirkung dieser Brise verspürt und ihre Geschwindigkeit sich vergrößert: aber bei den Windungen des Stromes und seinen jähen Ecken, bei denen doch alle Segel hätten gerefft werden müssen, hatte man auf diesen Vorteil verzichten müssen.

In einem so flachen Becken wie dem Amazonenstrom, das in Wahrheit nur eine unermeßliche Ebene ist, kann das Gefälle nur gering sein. Man hat denn auch berechnet, daß zwischen Tabatinga an der brasilianischen Grenze und der Quelle des großen Wasserlaufs der Niveauunterschied einen Dezimeter auf die Meile nicht übersteigt. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Flußlauf, dessen Neigung so gleich gering wäre.

Daraus folgt, daß bei mittlerm Wasserstand die Schnelligkeit des Amazonenstromes nicht über zwei Meilen in 24 Stunden geschätzt wird, und zur Zeit der Trockenheit schätzt man sogar noch weniger. Indessen hat man sie zur Zeit des Hochwassers bis zu 30 und 40 Kilometer steigen sehen.

Glücklicherweise sollte die Jangada unter diesen günstigern Verhältnissen fahren, da sie aber schwer beweglich war, konnte sie nicht die Schnelligkeit des Stromes haben, der rascher dahin lief. Wenn daher in Anschlag gebracht wurde, daß durch die Biegungen des Flusses, durch die zahllosen Inseln, die umfahren werden mußten, die Untiefen, die vermieden werden mußten, Verzögerungen verursacht wurden, wenn man ferner mit den Aufenthaltsstunden rechnete, die notgedrungen verloren gingen, wenn bei zu finsterer Nacht ein sichres Steuern nicht möglich war, so konnte man nicht mehr als 25 Kilometer Fahrt auf 24 Stunden rechnen.

Die Oberfläche des Wassers ist übrigens keineswegs völlig frei. Bäume, die noch grün sind, Pflanzenteile, Inseln von Gras, die beständig von den Ufern losgerissen werden, bilden eine ganze Flottille von Strandgut, das der Strom mit sich reißt und das beständig eine schnelle Fahrt hindert.

Die Mündung des Nanay verlor sich bald hinter einem Vorsprung des linken Ufers mit seinem Teppich von rötlichem Gras, das von der Sonne versengt war.

Die Jangada hatte bald ihren bestimmten Kurs zwischen den zahlreichen malerischen Inseln eingeschlagen, deren man von Iquitos bis Puccalza etwa ein Dutzend zählt.

Araujo vergaß nicht, Gesicht und Gedächtnis vermittels seiner Flasche zu stärken, und steuerte sehr geschickt durch diesen Archipel. Auf sein Geheiß hoben sich gleichzeitig. 50 Stangen an jeder Seite des Floßes und senkten sich wie automatisch wieder ins Wasser. Das war seltsam anzusehen.

Während dessen legten Yaquita, Lina und Cybele eine letzte Hand an alles, und die indianische Köchin machte das Frühstück zurecht.

Die beiden jungen Männer und Minha gingen in Gesellschaft des Padre Passanha auf und ab und hin und wieder blieb die junge Dame stehen, um die Pflanzen am Fuße des Herrschaftshauses zu begießen.

»Nun, Padre, kennen Sie eine angenehmere Art zu reisen?« fragte Benito.

»Nein, liebes Kind,« antwortete Padre Passanha. »So reist man tatsächlich mit aller Behaglichkeit eines Daheims.«

»Und ohne jede Strapaze!« setzte Manuel hinzu. »So legt man Hunderte von Meilen zurück.«

»Es wird dir also nicht leid tun, sagte Minha, »daß du die Reise mit uns zusammen angetreten hast. Kommt es dir nicht so vor, als führen wir auf einer Insel, die, vom Flußbett losgelöst, mit ihren Wiesen und Bäumen ruhig dahinschwömme? Bloß –«

»Was denn?« fragte Padre Passanha.

»Bloß daß wir, Padre, die Insel eigenhändig gebaut haben, sie gehört uns, und ich ziehe sie allen Inseln des Amazonas vor! Ich habe das Recht, stolz auf sie zu sein.«

»Ja, meine liebe Tochter,« antwortete Padre Passanha, »und ich erteile dir Absolution für dieses Gefühl des Stolzes! Uebrigens würde ich mir in Gegenwart Manuels nicht erlauben, dich auszuzanken.«

»Aber im Gegenteil!« antwortete das junge Mädchen heiter. »Manuel muß lernen, mich auszuzanken, wenn ich es verdiene. Er ist viel zu nachsichtig gegen mich kleines Ding, und ich habe viele Fehler.«

»Dann will ich diese Erlaubnis benutzen, liebe Minha,« sagte Manuel, »dich daran zu erinnern –«

»An was denn?«

»Daß du in der Bibliothek der Fazenda sehr fleißig studiert hast, und daß du mir versprochen hast, mich über den obern Amazonas ganz ausführlich zu unterrichten. Wir kennen ihn in Para nur sehr unvollkommen, und hier fährt die Jangada schon an mehreren Inseln vorüber, ohne daß du daran denkst, mir ihre Namen zu sagen.«

»Wer könnte das!« rief das junge Mädchen.

»Ja, wer könnte das!« wiederholte Benito. »Wer könnte die Hunderte von Namen im Tupi-Idiom behalten, die all diese Inselchen tragen. Darauf kennt sich niemand aus. Die Amerikaner sind mit ihren Inseln im Mississippi praktischer, sie numerieren sie einfach.

»Wie sie die Alleen und Straßen in ihren Städten numerieren!« sagte Manuel. »Offen gesagt, ich bin kein Freund von diesem Zahlensystem. Die Phantasie kommt dabei zu kurz weg, die 64. Insel, die 65. Insel, das sagt ebenso wenig wie die 6. Straße und die 3. Allee! Denkst du nicht auch so, Minha?«

»Ja, Manuel, mag mein Bruder darüber denken, wie er will!« antwortete das junge Mädchen. »Aber wenn wir auch ihre Namen nicht kennen, so sind die Inseln unseres Stromes doch wirklich schön! Sieh, wie sie daliegen im Schatten dieser riesigen Palmen, deren Blätter tief herabhängen. Ein Gürtel von Rosen umschließt sie, zwischen denen selbst eine schmale Piroge kaum hindurchkommen würde. Und die phantastischen Wurzeln der Mangobäume stemmen sich gegen das Ufer wie die Tatzen eines ungeheuerlichen Bären! Ja die Inseln sind schön, aber so schön sie auch sind, sie können doch nicht so schwimmen wie unsre!«

»Meine kleine Minha ist heute ein wenig enthusiastisch!« bemerkte Padre Passanha.

»Ach, Padre,« rief das junge Mädchen, »ich bin glücklich, daß ich alles um mich her glücklich weiß.«

In diesem Augenblick hörte man Yaquitas Stimme, die Minha ins Haus rief.

Lachend lief das junge Mädchen weg.

»Sie werden da eine liebenswürdige Lebensgefährtin bekommen, Manuel,« sagte Padre Passanha zu dem jungen Manne. »Die ganze Freude des Hauses nehmen Sie mit sich, mein Freund!«

»Wackre kleine Schwester!« sagte Benito. »Der Padre hat recht, wir werden sie wohl schmerzlich vermissen. In der Tat, wenn du sie nicht heiratest, Manuel – es ist noch Zeit – dann würden wir sie behalten können!«

»Sie wird Euch erhalten bleiben, Benito,« antwortete Manuel. »Glaube mir, die Zukunft – ich habe so eine Ahnung – wird uns alle vereinen!«

Dieser erste Tag verfloß gut. Frühstück, Mittagstisch, Siesta, Promenaden, alles ging vor sich, ganz als wären Joam Garral und die Seinen noch in der behaglichen Fazenda von Iquitos.

In diesen 24 Stunden kam man glücklich an den Mündungen der Rios Bacali, Chochio, Puccalpa auf der linken und der Rios Itinilari, Maniti, Moyoc, Tuyuca und den Inseln dieses Namens an der rechten Seite vorüber. Da die Nacht mondhell war, brauchte nicht Halt gemacht zu werden, und das lange Floß trieb ruhig auf dem Spiegel des Amazonenstromes dahin.

Am 7. Juli fuhr die Jangada an den Ufern des Dorfes Puccalpa, auch Neu-Oran genannt, vorbei. Alt-Oran liegt 15 Meilen weiter stromabwärts am selben linken Flußufer und ist jetzt verlassen. Die aus Indianern der Mayorunas- und Orejon-Stämme bestehende Bevölkerung wohnt in der neuen Stadt. Die Stadt mit ihren Ufern ist höchst malerisch.

Den ganzen 7. Juni über blieb die Jangada am linken Ufer des Stromes und kam an mehreren unbekannten und unbedeutenden Zuflüssen vorbei. Kurze Zeit war sie in Gefahr, gegen die Spitze der Insel Sinicuro anzufahren, aber der Lotse, dem die Mannschaft wacker zur Seite stand, vermochte die Gefahr zu vermeiden und hielt sich in der Mitte des Stromes.

Am Abend kam man in Höhe einer ziemlich ausgedehnten Insel, der Napo-Insel, nach dem Fluß genannt, der sich an dieser Stelle nach Nordnordwest zieht und sein Wasser in einer etwa 800 Meter breiten Mündung dem Amazonenstrom zuführt, nachdem er die Gebiete der Cotos-Indianer vom Stamme der Orejonen bewässert hat.

Am Morgen des 7. Juni befand sich die Jangada in der Durchfahrt der kleinen Mango-Insel, die den Napo vorm Einfluß in den Amazonas in zwei Arme teilt.

Ein paar Jahre später sollte ein Franzose, Paul Marcoy, die Farbe des Wassers dieses Flusses untersuchen, die er mit Recht mit der dem grünen Opal eigenen Absinthfärbung vergleicht. Gleichzeitig berichtigte er einige von La Condamine angegebenen Messungen. Aber zu dieser Zeit war die Napomündung von der Hochflut merklich verbreitert, und reißend mischte sich sein von den Ostabhängen des Cotopaxi kommendes Wasser, brausend und kochend, in die gelblichen Fluten des Amazonenstromes.

Ein paar Indianer gondelten in der Mündung dieses Wasserlaufes. Sie waren kräftig gebaut und hochgewachsen, mit langen wehenden Haaren, sie trugen durch die Nasenflügel Palmenholzstäbchen, und die Ohrläppchen waren bis zur Schulter herab gezogen durch das Gewicht von schweren Scheiben aus kostbarem Holz. Ein paar Frauen waren bei ihnen. Keiner bekundete Lust, an Bord zu kommen.

Nach ein paar Stunden kam die Stadt Bella Vista, die an dem hier etwas niedrigen Ufer liegt, in Sicht. Unter den schönen Baumgruppen liegen die mit Stroh gedeckten Häuser, auf die Bananen von mittlerm Wuchse ihre breiten Blätter fallen lassen.

Jetzt lenkte der Lotse, um bessern Kurs zu haben, das Floß nach dem rechten Ufer, dem er sich bisher noch nicht genähert hatte. Das ging nur mit Schwierigkeiten, die aber glücklich überwunden wurden, nachdem er sich mehrmals mit Schnaps gestärkt hatte.

Hierbei waren im Vorüberfahren einige der zahllosen Lagunen von schwarzem Wasser zu sehen, die am Amazonenstrom so zahlreich sind und oft mit dem Strom gar keine Verbindung haben. Eine davon, die Lagune von Oran, war nicht sehr groß und erhielt ihr Wasser durch einen breiten Abzugskanal. In der Mitte des Bettes lagen mehrere Inseln und einige kleine Inselchen seltsam gruppiert, und am entgegengesetzten Ufer bezeichnete Benito die Lage des alten Oran, von dem man nur noch einige ungewisse Spuren erkennt.

Zwei Tage lang hielt sich, je nachdem die Strömung es erforderte, die Jangada bald am rechten, bald am linken Ufer, ohne daß sie irgendwo empfindlich angestoßen wäre.

Die Passagiere hatten sich an das neue Leben schon gewöhnt. Joam Garral überließ seinem Sohn die Sorge für alles, was zum Geschäft der Expedition gehörte, und war meistens in seinem Zimmer, wo er sann und schrieb. Von dem, was er so schrieb, sagte er nichts, selbst seiner Frau nicht.

Benito, der seine Augen überall hatte, plauderte mit dem Lotsen und merkte sich den Kurs. Yaquita, ihre Tochter und Manuel bildeten meistens eine Gruppe für sich, bald unterhielten sie sich über Zukunftspläne, bald gingen sie spazieren, ganz wie sie es im Park der Fazenda getan hatten. Es war in der Tat ganz dasselbe Leben. Nur Benito fand das nicht, da er noch keine Gelegenheit hatte, dem Jagdvergnügen nachzugehen. Wenn die Wälder von Iquitos ihm fehlten mit ihrem Raubzeug, ihren Agutis, Peccaris, Kabiais, so flogen doch Vögel in Scharen an den Ufern umher und setzten sich sogar ohne Scheu auf die Jangada. Wenn es solche waren, die an Stelle von Wild auf die Tafel kommen konnten, so schoß Benito sie.

Als die Jangada endlich an der Stadt Omaguas und der Mündung des Ambiacu vorbei war, langte sie am Abend des 11. Juni in Pebas an und legte am Ufer an.

Da noch immer einige Stunden bis zum Einbruch der Nacht verblieben, fuhr Benito an Land, nahm den allzeit bereiten Fragoso mit und die beiden Jäger durchstreiften den Wald um diesen kleinen Flecken herum. Ein Aguti und ein Wasserschwein, sowie ein Dutzend Rebhühner, waren die reiche Beute dieses glücklichen Jagdausflugs.

In Pebas, wo man 260 Einwohner zählt, hätte Benito vielleicht ein paar Tauschgeschäfte mit den Laienbrüdern der Mission machen können, die zu gleicher Zeit Großkaufleute sind, aber diese hatten vor kurzer Zeit Ballen Salsaparille und eine Anzahl Arroben Kautschuk nach dem untern Amazonas gesandt, und ihr Magazin war leer.

Die Jangada fuhr bei Tagesanbruch weiter und gelangte in den kleinen Archipel, den die Inseln Iatio und Cochiquinas bilden, nachdem die Stadt gleichen Namens zur rechten Seite hinter ihr geblieben war. Mehrere Windungen winziger Zuflüsse, die keinen Namen haben, sah man durch die zwischen den Inseln offenen Durchblicke auf der rechten Seite.

Ein paar Eingeborne mit rasiertem Kopf und Tätowierungen auf Wangen und Stirn, Metallscheiben in den Nasenflügeln und Unterlippen, kamen am Ufer vorübergehend zum Vorschein. Sie waren bewaffnet mit Pfeilen und Sarbacanen, machten aber davon keinerlei Gebrauch und versuchten nicht einmal mit der Jangada in Verkehr zu treten.


 << zurück weiter >>