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10. Kapitel. Das liebste Geburtstagsgeschenk

Als ob der erste November wußte, daß Professors Zwillingen an diesem Tage die ganze Welt entgegenlachte, so lachte nach tagelangem Regengrau endlich wieder goldene Sonne vom Himmel. Sie blinzelte durch die weißen Mullgardinen in das rosenrote Stübchen und kitzelte das eine der Geburtstagskinder mit ihrem spitzen Goldstrahl so lange unter das Näschen, bis es niesend erwachte.

Ach, war das ein schönes Gefühl, bei Sonnenschein aufzuwachen. »Herbert, heute sind wir zwölf Jahre!« Suse verkündete mit lauter Stimme durch die Verbindungstür die große Neuigkeit.

Auf ihren noch schlafenden Zwilling machte diese Mitteilung wenig Eindruck. Er grunzte nur und rollte sich wie ein Igel auf die andere Seite.

Erst als Minna mit ihrer derben, roten Hand gegen die Tür donnerte: »Sieben Uhr, Geburtsdagsgind!«, bequemte er sich dazu, ein Auge aufzumachen. Da sah er seinen Zwilling im weißen Nachthemd mitten in der Sonne an seinem Bette stehen mit so glänzenden Augen, als ob der Sonnenschein sich darin gefangen hätte. In der Hand hielt sie ein Primeltöpfchen. Vom eigenen Spargeld hatte sie es erstanden.

»Ich gratuliere dir schön, mein Herbertchen, und mir auch. Und nun sind wir groß, schon zwölf Jahre. Da dürfen wir uns nicht mehr zanken, sondern wollen uns immer bloß liebhaben, ja?« Solche guten Vorsätze faßte Suse für das neue Lebensjahr.

»Na ja, wenn du Bubi nicht mehr aus deiner Stube rausjagst.« Herbert schüttelte der Zwillingsschwester anstatt eines Glückwunsches den Arm fast aus der Schulter. Seine Jungenehre erlaubte ihm nicht, zärtliche Gefühle zu zeigen.

»Freust du dich über das süße Primeltöpfchen? Sieh mal, lauter kleine Knospen hat es. Du mußt es schön pflegen.«

»Ach, weißt du was, Suse, mach' du das lieber. Ich habe schon meinen Regenwurm und den Laubfrosch zu pflegen.« Herbert wußte mit dem Blumentopf augenscheinlich nicht viel anzufangen.

»Was schenkst du mir denn?« konnte sich Suse doch nicht versagen zu fragen.

»Wirst schon sehen. Das kommt erst heute mittag auf den Geburtstagstisch.« Herbert tat sehr geheimnisvoll.

»Ist es auch nicht wieder solch oller Schmetterling für deine Sammlung?« Suse hatte schon schlechte Erfahrungen mit Geschenken ihres Zwillings gemacht. Er wählte meistens das, was ihm selbst Freude machte. Sie waren ja Zwillinge.

»Nee, ein Schmetterling ist es nicht, aber – – –«

»Aber lebendig! Es ist sicher wieder lebendig. Da graule ich mich«, lehnte Suse schon vorher ab.

»Na, dann können wir ja tauschen. Du nimmst deinen Blumentopf, der beißt nicht, und ich das Lebendige.« Aber davon wollte Suse auch nichts wissen.

In diese Verhandlung klang Muttis Stimme vom Eßzimmer herauf: »Wo bleiben denn unsere Geburtstagskinder? Gleich ist es halb acht.«

Hei, wie sprangen da die beiden Hemdenmätze. Wer sollte auch an seinem zwölften Geburtstag daran denken, daß der Zeiger der Uhr unerbittlich weiterrückt! Alle guten Wünsche mußten sich die Eltern bis auf den Mittag aufsparen. Die Geburtstagskinder hatten gerade nur noch Zeit, ihre Tasse Kakao hinunterzujagen. Dann jagten sie selbst der Schule zu. Denn wenn man an seinem Geburtstag zu spät kommt, dann kommt man das ganze Jahr zu spät.

In der Schule ging es ihnen recht gut. Suse hatte null Fehler im französischen Extemporale. Und selbst Doktor Klemm, der englische Lehrer, behandelte sie heute netter als sonst und wünschte ihr many returns of the day« – häufige Wiederkehr des Tages. Zwar verstand Suse kaum ein Wort davon, aber es war sicher ein Glückwunsch.

Ihre Freundin Inge flüsterte ihr leise zu: »Du mußt › thank you‹ sagen.« Worauf Suse getreulich den ganzen Satz: »Du mußt thank you sagen« zum Gaudium der Klasse wiederholte.

Auch Herbert hatte heute Gelegenheit, in der Naturkunde seine Kenntnisse zu zeigen. Er hatte das weltberühmte Aquarium in Neapel gesehen und bei seinem Interesse für alles Getier ein fabelhaftes Gedächtnis dafür. Der Lehrer ließ sich von den wunderbar gefärbten Fischen und farbenprächtigen Quallen der Südsee berichten. Die andern Jungen staunten, was der Winter alles gesehen hatte. Und diese Bewunderung tat Herbert wohl. Er liebte es, Mittelpunkt zu sein.

Seitdem die Zwillinge schulpflichtig waren, hatten die Eltern ihnen den Gabentisch stets erst mittags aufgebaut, damit sie in der Schule nicht unaufmerksam wären und an die Geschenke dächten, statt an den Unterricht. Heute stand Suse nicht nach Schulschluß wie sonst noch Gott weiß wie lange mit den Schulfreundinnen an der Ecke. Mit eindringlicher Mahnung: »Also kommt pünktlich um halb vier!« lief sie dem bereits vorangehenden Bruder, den sie meistens mittags auf dem Heimwege traf, nach.

»Du, Herbert, glaubst du, daß das Sternenhaus sehr teuer gewesen ist?« erkundigte sich Suse, als das Haus am Berghang sichtbar wurde.

»Sicher«, meinte der Bruder.

»Ob es da wohl noch für mein Fenster zu den Gläsern mit Hyazinthenzwiebeln und den hübschen bunten Tütchen, die ich auf meinen Wunschzettel geschrieben habe, reichen wird?«

Herbert sah zweifelhaft aus. »Ich weiß auch nicht, ob ich die weißen Mäuse, die ich schon solange haben wollte, kriegen werde. Sie sind sicher teuer.«

Aber als die Eltern dann daheim ihre Zwillinge in die Arme schlossen und ihnen wünschten, daß sie zu braven Menschen heranwachsen mögen, da dachte keins von ihnen weder an Hyazinthengläser noch an weiße Mäuse. Da empfanden sie nur das Geborgensein in treuer Elternhut.

Und dann stand auf dem Zwillingsgeburtstagstisch ein ganzes Dutzend Hyazinthengläser mit roten, blauen, grünen und gelben Tütchen, wie die Soldaten aufmarschiert. Da gab es einen Behälter mit drei allerliebsten Goldfischen, die Herbert der Suse geschenkt hatte. Sie waren wirklich sehr niedlich, wenn sie auch lebendig waren.

»Zwei weiße Mäuse – Hurra!« Herbert war selig mit der neuen Einquartierung. »Sind sie nicht entzückend, Suse?«

Das konnte Suse beim besten Willen nicht zugeben. Sie fand die kleinen, beweglichen Dinger grauenhaft.

»Na, so lange sie in ihrem Käfig sind, geht es«, meinte sie schließlich.

»Ich werde sie zähmen, daß sie mir aus der Hand fressen«, überlegte Herbert.

»Ihr habt noch nicht alles gesehen«, meinte die Mutter mit eigentümlichem Lächeln.

»Ach, die neuen Wintermäntel. Die haben wir ja anprobiert, die kennen wir schon.«

»Meinst du den Geburtstagskuchen von der Minna, Muttichen?« Die Mutter schüttelte lachend den Kopf. Sie machte ein sehr geheimnisvolles Gesicht.

»Ist es noch ein Geburtstagsgeschenk, Vati? Sag' du's uns doch!« Suse platzte vor Neugier.

»Ein Geburtstagsgeschenk ist es«, erwiderte der Vater verschmitzt. Die Zwillinge begannen auf ihrem schön geordneten Tisch das Unterste zu oberst zu kehren, ob sie auch nichts übersehen hatten.

»Ist es groß oder klein?«

»Wie man's nimmt«, lachte der Vater. »Als Geschenk ist es groß. Aber ihr nennt es doch manchmal klein«, lautete die rätselhafte Antwort.

»Ach, ich weiß!« Herbert wußte natürlich schon wieder Bescheid. »Es ist das Geburtstagspaket aus Freiburg von den Großeltern oder aus Berlin.« Er mußte wohl ziemlich ins Schwarze getroffen haben, denn Vater und Mutter sahen sich belustigt an.

»Stimmte? Wo ist es, Mutti? Ich habe mir in Freiburg alle Teile zum Rundfunk gewünscht, daß ich ihn mir selbst bauen und anschließen kann.« Herbert suchte unter sämtlichen Sesseln. Auch Suse lag der Länge nach auf dem Teppich, um unterm Sofa nachzuforschen.

»Steht auf, Kinder, es ist nicht hier im Zimmer. Es ist draußen«, erklärte die Mutter.

»Sind es etwa Karnickel? Bekommen wir einen Kaninchenstall? Das wäre famos!«« Herbert kam schon wieder auf einen neuen Gedanken.

»Ja? Ist es was Lebendiges?« Suse schien weniger von dieser Aussicht erbaut.

»Lebendig ist es. Aber springen wie ein Karnickel kann es nicht. Kommt, holt euch das Geburtstagsgeschenk.« Mit vielsagendem Gesicht öffnete der Vater die auf die Diele führende Tür des Wohnzimmers.

Die Zwillinge stürzten hinaus. Sie bemerkten nicht, daß die Tür des gegenüberliegenden Zimmers, die sonst stets geschlossen war, offen stand. »Wo, Vati – wo?«

Da – stutzten sie, standen einen Augenblick starr und – »Omama, unsere kleine Omama ist da!« Zweistimmiger Jubel durchschallte das Sternenhaus.

Ja, da saß sie, die kleine Omama, in dem Lehnstuhl am Fenster, der so lange schon auf sie wartete. Die Wiedersehensfreude erregte sie so stark, daß sie nicht aufzustehen vermochte. Aber da waren ihre Lieblinge auch schon bei ihr, sie herzend und küssend: »Omama – kleine Omama – du bist unser liebstes Geburtstagsgeschenk!« Selbst Herbert vergaß seine Quartanerwürde und ließ sich von der Omama auf den Schoß ziehen.

»Meine Kinderchen, meine Goldkinderchen, habe ich euch endlich wieder!« Alte, welke Hände streichelten liebevoll die jungen, blühenden Kindergesichter.

Und daneben stand Frau Annchen, rundlich und behäbig wie immer, und lachte über das ganze breite, freundliche Gesicht. »Herreje, sind unsere Kinderchen inzwischen in die Höhe geschossen. Beinahe hätte ich euch nicht mehr erkannt.« Frau Annchen war früher Kinderfrau bei Professors Zwillingen gewesen und spiegelte sich in den beiden kaum weniger als die Großmama selbst. Auch Frau Annchen wurde stürmisch begrüßt. Bubi aber blaffte dazwischen, als ob er den Hauptanteil an der Wiedersehensfreude habe. Und wer war noch mitgekommen? »Piep – piep« – klang es plötzlich in das Wiedersehensglück hinein. Mätzchen, Suses Vögelchen, das bei der Großmama in Pension gewesen, meldete sich.

Frau Annchen brachte ein großes Paket herbei.

»Omama, du brauchst uns gar nichts mehr zu schenken, du bist selbst unser allerschönstes Geschenk!« Das kam Suse wirklich aus dem Herzen.

Aber als sie dann die wunderhübsche Sportgarnitur für den Winter, Wolljumper, Rodelmütze und Schal, eigenhändig von der Großmama in leuchtendem Rot gestrickt, erblickte, war die Freude doch groß. Sie erdrückte die zierliche kleine Omama beinahe mit ihren Dankesbezeigungen. Herbert erhielt dieselbe Garnitur in grüner Farbe.

»Weil du solche Vorliebe für Laubfrösche hast, mein Jungchen«, scherzte die Omama. »Eure alten Garnituren seid ihr doch inzwischen sicher ausgewachsen. In dem warmen Italien habt ihr sie ja nicht gebraucht.«

»Also, unsere Geburtstagsüberraschung ist gelungen?« erkundigte sich der Vater. Professor Winter strahlte vor Freude, sein altes Mütterchen im neuen Hause zu haben.

»Habt ihr's denn gewußt? Seid ihr denn nicht auch überrascht worden? Ach – nun weiß ich auch, warum wir heute keine Kindergesellschaft geben sollten.« Herbert war wieder mal schlau.

Suse sagte gar nichts. Sie saß auf dem Fußbänkchen zu Großmamas Füßen, wie sie es als kleines Kind gemacht hatte, schmiegte den goldbraunen Kopf an die liebe alte Frau und ließ sich verhätscheln. Bis Minna mit feuerrotem Gesicht die Herrschaften zu Tische bat.

Von jeder Seite wurde die Großmama von den Zwillingen ins Eßzimmer geführt.

»Omama, bist du aber klein geworden in den anderthalb Jahren«, verwunderte sich Suse. Die Großmama war ja kaum so groß wie sie.

»Quatsch, Suse, wir sind gewachsen«, verbesserte sie der Bruder.

»Nun mußt du immer bei uns bleiben, nun trennen wir uns nie mehr, kleine Omama.« Suse hatte ein merkwürdiges Gefühl der Zärtlichkeit für die alte Frau, als ob sie sie behüten müsse, wie einst ihre Puppenkinder. Sie sah jetzt erst, wie alt und runzlig das liebe Gesicht war. Hatte sie das früher nicht bemerkt? Oder hatte sich die Omama so nach ihnen gebangt?«

Kaum fanden die Zwillinge Zeit, ihre mit der Mittagspost eintreffenden Geburtstagssendungen anzuschauen. Da war eine eigenhändig mit Vergißmeinnicht bemalte Karte von Paulchen, ihrem Waldschulfreund. Wie mochte es dem armen Jungen gehen? Ob er wohl wieder vor der Schule Semmeln austragen mußte? Er schrieb nur mit seiner sauberen Schrift einen Glückwunsch und Gruß. Aber die Zwillinge freuten sich doch sehr über sein treues Gedenken. Da gab es weitgereiste Glückwünsche aus Neapel, von den Vesuvkindern Rita und Enrico, und von den Hausleuten Pietro und Teresina viele Grüße und Glückwünsche nebst einer Ansichtskarte, auf welcher der Vesuv wie ein Schornstein qualmte. Ach, Suse war doch heilfroh, daß sie der gefährlichen Nähe des Höllenberges entronnen war. Von den lieben Großeltern aus Freiburg, bei denen die Zwillinge die Sommermonate zugebracht hatten, bevor das Sternenhaus fertig war, traf ein umfangreiches Paket ein. Herbert fand darin außer seinen Lieblingsnäschereien einen kleinen Einröhrenapparat und alle notwendigen Utensilien, um sich einen Rundfunkanschluß zu bauen. Suse erhielt einen Band Schillerscher Gedichte, da sie doch jetzt an der Wirkungsstätte des großen Dichters lebte. Sie durchblätterte sie mit geteilten Gefühlen. Wenn sie bloß nicht so graulich gewesen wären.

Das wurde ein wunderschöner Geburtstag auch ohne Kindergesellschaft. Fast tat es den Zwillingen leid, daß sie Helga und Inge und die beiden Jungen Hans und Günther für den Nachmittag eingeladen hatten. Viel lieber wären sie bei der Omama in dem gemütlichen Stübchen mit den alten Möbeln geblieben.

Aber die Großmama brauchte nach der Reise ein paar Stunden Ruhe. Da war es recht gut, daß die Zwillinge mit ihren Freunden oben im rosenroten Stübchen Gesellschafts- und Schreibspiele trieben.

Herbert hatte sich auch schon mit den Martinschen Zwillingen angefreundet. Wenn er auch ab und zu mal an ihren Blondzöpfen »klingelte«, das tat der Freundschaft keinen Abbruch. Auch Hans und Günther waren gar nicht »doof«, sondern nette, frische Jungen. Sie waren von Herberts lebendiger Menagerie begeistert. Nur schade, daß Herbert, der sich vor seinen Gästen aufspielen wollte, den Mäusekäfig öffnete, um zu zeigen, wie man die weißen Mäuslein zähmen müßte.

Tap – tap – tap – war eins auf und davon. Trotzdem man eine allgemeine Treibjagd veranstaltete, an der sogar Frau Annchen und Minna teilnahmen, kam das weiße Mäuslein nicht wieder zum Vorschein. Nur Piccola wußte, wo es geblieben.


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