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4. Kapitel. Bestrafte Neugier

Suse hatte inzwischen das Planetarium von außen betrachtet. Wie ein Tempel schaute es aus mit seiner Säulenvorhalle. Ach, und was für herrliche bunte Herbstastern die Rasenflächen davor schmückten.

Herbert, fürwitzig wie stets, hatte sich zum Eingang gepirscht, aus dem die Menge ins Freie strömte. Die Neugier ließ ihm keine Ruhe. Es gelang ihm, unbemerkt durch eine Lücke hineinzuschlüpfen.

So – nun war er drin. Er kroch unter eine Bank, um nicht bemerkt und hinausgewiesen zu werden. Einen Blick mußte er wenigstens in das ersehnte Planetarium tun.

Pah – das war alles? Herbert erblickte ein Riesenrondell, etwa wie einen Zirkus. Bänke standen darin, viele Bänke. In der Mitte war ein mächtig großer Apparat aufgestellt. Darüber wölbte sich die gewaltige Himmelskuppel; eine weiße, netzartige Stoffkuppel schien es zu sein. Das war alles. Keine Spur von Sternen. Grenzenlos enttäuscht war der Junge. Und davon machte der Vater solch ein Aufhebens? Herbert hatte doch zumindest gedacht, daß der Himmel mit allen Sternbildern dort zu sehen sei. Nichts davon. Eine langweilige weiße Kuppel. Na, sobald ging er nicht wieder in das olle Planetarium hinein.

Er sollte aber auch sobald nicht wieder herauskommen. Denn als Herbert gerade noch den großen Apparat, der in der Mitte des Raumes ausgestellt war, näher in Augenschein nehmen wollte, ob das wohl ein Fernrohr sei, gab es einen lauten Knall. Krach – da flog die Eingangstür zum Planetarium zu. Der Schlüssel drehte sich zweimal im Schloß. Dunkelheit herrschte plötzlich.

Entsetzt sprang der Junge zur Tür, stieß sich in der Finsternis das Knie an den Bänken und rüttelte, als er die Eingangstür endlich gefunden, mit aller Gewalt daran. Der Diener würde schon aufmerksam werden.

Aber der Diener hatte, nachdem er das Planetarium abgeschlossen hatte, sich sofort nach Hause begeben. Der dachte nicht daran, daß sich da einer verkrochen haben könnte. Es war ja Sonntag heute. Da wollte er auch was von seiner Familie haben. Um vier ging die Nachmittagsvorführung wieder an.

Herbert begann es in dem dunkeln, großen Raum eigentümlich beklommen zumute zu werden. Er versuchte über seine unfreiwillige Gefangenschaft zu lachen. Aber sein Lachen dröhnte in dem leeren Raum schauerlich, als ob nicht einer, sondern viele lachten. Er war doch sonst solch ein beherzter Junge.

Wieder begann er aus Leibeskräften an der Tür zu rütteln. Himmelmohrenelement – man mußte ihn doch hören, ihn vermissen. Der Vater kannte doch seinen Jungen. Der würde es sich schon denken können, daß er nur mal einen Blick hatte hineinwerfen wollen. Vater war ja der Direktor vom Planetarium. Er hatte sicher die Schlüssel dazu und würde ihn gleich aus seiner Dunkelhaft befreien.

Aber Minute auf Minute verstrich – Ewigkeiten schienen sie Herbert. Keiner kam. Keiner suchte ihn.

Ja, vermißte denn die Suse ihren Zwilling nicht? Und Mutti? Und wo war denn Bubi? Ach, wenn Bubi doch wenigstens bei ihm gewesen wäre. Doch ein lebendes Wesen in dieser herzbeklemmenden Stille und Finsternis.

War es nicht zum Lachen? Er, der Sohn des Planetariumdirektors, war hier in dem Institut des eigenen Vaters gefangen. Wirklich, es war zum Lachen. Und Herbert tat gerade das Gegenteil davon. Er begann zu heulen, als ob er noch ein kleiner Abcschütze wäre und nicht ein großer Quartaner.

Aber vermißte man ihn denn wirklich nicht?

Freilich, Suse, das getreue Schwesterchen, war die erste, die fragte: »Wo ist denn Herbert?«

»Sicher schon am Gartenausgang«, meinte die Mutter. »Der Junge kann ja nie genug bekommen. Es geht ihm mal wieder zu langsam.«

»Ja, da ist ja auch Bubi«, sagte der Vater, auf den Köter, der sie bereits am Ausgang erwartete, weisend. Freilich, Bubi war da. Aber von Herbert keine Spur, soweit man auch die Marienstraße auf und ab blickte.

Hm – der Schlingel mußte doch immer seine eigenen Wege einschlagen. Nun, sie würden dasselbe tun. Wenn er sich der väterlichen Führung entzog – schön. Verloren konnte er ja hier in Jena nicht gehen.

»Komm, Suschen«, rief der Professor das Töchterchen, das den Kopf immer noch rückwärts drehte. »Schau, hier ist der Botanische Garten. Da gehen wir mal an einem Nachmittag hin. Es ist eine herrliche Anlage. In dem Inspektorhäuschen hat Goethe mehrere Sommer lang gewohnt. Er hat dort ein Gedicht auf den fremdartigen Baum vor seinem Fenster, Gingko heißt er, verfaßt. Der Baum ist heute noch zu sehen.«

»Gingko? Ist das ein drolliger Name. Den habe ich noch nie gehört«, verwunderte sich Suse.

»Es ist auch ein höchst merkwürdiger Baum, ein Zwischending zwischen Nadel- und Laubbaum. Er kommt aus China und Japan und hat, trotzdem er zu den Nadelbäumen gehört, dicke, fleischige Blätter«, erzählte der Vater. »Solch ein Gingkobaum soll über tausend Jahre alt werden.«

Nun hatte Suse für alles, was Blumen und Pflanzen hieß, Interesse, mehr noch als für Goethe. Aber augenblicklich interessierte sie nur der fehlende Herbert. Wo mochte er nur stecken?

Auch die Mutter blieb alle paar Schritte stehen und hielt Umschau. Eine Mutter beruhigt sich ja nicht so leicht. »Kann unser Junge denn nicht noch im Prinzessinnengarten sein, Paul? Der Hund läuft doch immer dahin zurück.«

»Er sucht seinen kleinen Herrn. Sicher hat sich Herbert irgendwo versteckt und überfällt uns dann plötzlich aus dem Hinterhalt. Er macht ja gern derartige Flausen. Der Mosjö selbst hat ja den größten Schaden davon, daß er um die Erklärungen bei der Führung durch die Stadt kommt.« Der Professor war ärgerlich auf den Sohn, der die Harmonie des ersten gemeinsamen Spazierganges in Jena störte. Denn auch die Mutter hatte nicht mehr die rechte Ruhe und Andacht für die Denkwürdigkeiten der alten Stadt.

Suse aber hatte gar keine Freude an dem Neuen. Ihr zweites Ich fehlte. Wenn er doch irgendwo aus dem Hinterhalt hervorgeschossen wäre und sie noch so sehr erschreckt hätte. Am liebsten hätte sie es wie Bubi gemacht, der drei Schritte voranlief und dann wieder zurück.

Der Fürstengraben mit den herrlichen alten Linden und Kastanien, die zum Teil noch aus dem siebzehnten Jahrhundert stammten und von denen sie sonst begeistert gewesen wäre, machte gar keinen Eindruck auf sie. Sie zog den Vater, der sie auf das alte, efeuumrankte Frommannsche Haus, in dem Goethe mit seinen Freunden manchen Abend verlebt hatte, aufmerksam machte, aufgeregt weiter. Was fragte sie nach Goethe, wenn ihr Herbert verschwunden war?

»Wir wollen nach Hause gehen, Vatichen, ja? Herbert ist gewiß ins Sternenhaus zurückgegangen«, bat sie.

»Möglich. Schadet ihm gar nichts, wenn er dann draußen stehen muß, bis wir kommen. Wozu muß er immer eine Extrawurst haben?« Ruhig setzte der Vater seinen Weg fort.

Scharen von Studenten kreuzten ihren Weg. Wo sie sich blicken ließen, flogen die bunten Mützen grüßend in die Luft. Professor Winter hatte sich trotz der kurzen Zeit bereits Beliebtheit und Anerkennung bei seinen jungen Hörern erworben.

Suse gewahrte es kaum. Betrübt zog sie ihres Weges, Bubi ebenso betrübt hinterdrein mit gesenktem Schwänzchen.

Nicht mal das altersgraue Rathaus, das mehr als fünfhundert Jahre auf den Marktplatz herabblickte, fesselte sie. Nur nach Herbert schaute sie aus. Wo sie einen Jungen im Kieler Matrosenanzug erblickte, glaubte sie ihn gefunden zu haben.

»Suschen, achte auf die Turmuhr des Rathauses. Gleich schlägt es eins. Dann erscheint der Schnapphans, eins der sieben Wunder Jenas«, machte der Professor sein Töchterchen aufmerksam.

Dumpf dröhnte es vom Turm, und – »da ist er!« rief die Mutter, auf den Teufel, den sogenannten Schnapphans, der mit voller Stunde über das Zifferblatt hinweg nach einem Apfel schnappt, weisend.

»Wo – wo?« rief Suse aufgeregt.

»Dort oben mit dem Apfel.«

»Unser Herbert?«

»Aber Kind, der Schnapphans oben auf der Turmuhr. Hast du denn nicht beobachtet, wie der Pilger dem Teufel den Apfel auf einer Stange reicht?« fragte der Vater unzufrieden, daß Suse so wenig Interesse zeigte.

»Und den Engel auf der linken Seite der Uhr, der ein Glöckchen hebt, hast du auch nicht gesehen, Mädel?« erkundigte sich die Mutter.

Nein, Suse hatte nichts gesehen. »Ich will das auch gar nicht ohne meinen Herbert sehen. Wenn Herbert wieder da ist, gucken wir es uns zusammen an.« Das große Mädel begann jetzt wirklich mitten auf dem Marktplatz von Jena vor Aufregung zu weinen.

Wie peinlich – alle vorübergehenden Studenten blickten lächelnd oder mitleidig auf das weinende Professorentöchterlein. Der Vater nahm einen Wagen, um der auffallenden Situation ein Ende zu machen.

»Na, Kinder, ihr seid nett«, sagte er halb im Ernst, halb im Scherz. »Der eine ist unsichtbar, und die andere fällt durch ihr Geheul auf. Das ist ja ein vielversprechender Anfang.«

Auch die Mutter meinte: »Suse, erst zankt ihr euch heute morgen, und nun tust du, als ob einer nicht ohne den andern leben kann. Paß auf, Herbert sitzt seelenvergnügt im Sternenhaus und lacht uns alle aus.« Die Mutter wollte sich wohl selbst beruhigen.

Still lag das Sternenhaus in der Mittagssonne. Kein Herbert ließ sich sehen. Nur Piccola mauzte verlassen.

»Was nun, Paul?« Frau Professor Winter bekam rote Backen vor Erregung.

»Passieren kann ihm hier nichts. Er ist ja auch schon groß. Er wird allein auf Entdeckungsreisen ausgegangen sein. Aber komm' du mir nur nach Hause, mein Junge!« Der Professor hob vielsagend die Hand.

Ach, was kam es denn auf ein paar väterliche Katzenköpfe an. Die machten dem Herbert nicht viel aus. Wenn er nur endlich kommen wollte! Suse guckte sich die Augen nach ihm aus.

»Decke den Tisch, Suschen«, rief die Mutter aus der Küche, wo sie das Essen wärmte, zu der vom Balkon Ausschau haltenden Tochter hinauf. »Inzwischen kommt der Herbert. Er weiß, daß wir pünktlich um zwei essen.« Der Tisch war gedeckt, wenn auch mangelhaft. Suse verwechselte heute alles. Zwei Messer hatte sie dem Vater hingelegt anstatt des Suppenlöffels. Und das Salzfaß hatte sie ganz vergessen. Und war doch sonst so sorgsam und gewissenhaft.

Es schlug zwei. Wer nicht da war, war Herbert.

»Nun fängt die Sache an, mir rätselhaft zu werden«, meinte die Mutter kopfschüttelnd. Die Suppe wollte nicht rutschen.

»Er wird sich verlaufen haben. Er kennt die Entfernungen noch nicht in Jena.« Beruhigend klang des Vaters Stimme.

»Am Ende ist er zum Prinzessinnengarten zurückgegangen und wartet da auf uns«, überlegte die Mutter, den Braten tranchierend.

»Oder er ist ins Planetarium hineingegangen.« Wie eine Erleuchtung kam es plötzlich über Suse. Sie war ja auch sein Zwilling.

»Das ist lange geschlossen. Halt – – –.« Der Professor überlegte einen Augenblick. »War nicht der Vortrag gerade zu Ende, als wir dort waren? Richtig – so wird's sein. Der Schlingel ist heimlich ins Planetarium hineingegangen und sitzt jetzt wahrscheinlich da drin fest während der großen Mittagspause. Daß ich auch nicht eher darauf gekommen bin. Na, viel Vergnügen, mein Junge, laß dir nur die Zeit da im Dunkeln nicht lang werden.« Der Professor lachte belustigt.

»Im Dunkeln ist mein Herbert?« Suse blieb der Happen in der Kehle stecken. »Warum kommt er denn nicht wieder heraus?«

»Weil das Planetarium zwischen zwölf und vier Uhr geschlossen ist. Wahrscheinlich ist der Schlingel mit eingeschlossen worden. Ist ihm ganz gesund, die unfreiwillige Haft.«

»Und zu essen kriegt er da auch nichts.« Suse legte plötzlich Messer und Gabel hin. Als Zwilling mochte sie dann auch nicht mehr essen.

»Laß ihn nur hungern, den Banditen, geschieht ihm schon recht.«

»Aber Paul, du weißt ja gar nicht, ob er wirklich im Planetarium eingeschlossen ist.« So schnell war die Mutter nicht zu überzeugen. »Wir wollen doch erst mal nachschauen.«

»Verdienen tut er, daß er bis vier in Gefangenschaft bleibt. Nur um dich zu beruhigen, Fränzchen, werde ich nach Tisch nachsehen.«

»Vati, komm gleich, bitte, bitte. Die Schokoladenspeise essen wir nachher lieber mit Herbert zusammen. Mutti hat sie uns zu Ehren gemacht. Und Herbert ißt sie so gern. Komm, Vatichen«, drängte Suse. Sie hatte bereits den Hut wieder auf.

»Was – auch noch Schokoladenspeise zur Belohnung – daraus wird nichts.« Trotzdem griff der Vater ebenfalls nach Hut, Stock und dem Planetariumschlüssel. Bubi ließ sich nicht bei seinem Futternapf stören. Er war ja auch nicht Herberts Zwilling. Erst als die beiden schon den Berg hinunter waren, schoß Bubi von dem geleerten Futternapf fort wie ein Pfeil hinter ihnen her.

Die Mutter stand auf dem Balkon und sah ihnen nach. Sie war im Sternenhaus geblieben, falls Herbert sich inzwischen einfinden sollte. Wenn sie ihn nur mit heimbrächten, ihren Jungen. Dort unten floß die Saale – der Herbert war manchmal so tollkühn ...

Inzwischen hatte sich der junge Held nach einigen vergeblichen Tobsuchtsanfällen, die er an der unschuldigen Tür ausließ, allmählich in sein Schicksal ergeben. Ach, daheim saßen sie gewiß schon bei der Schokoladenspeise. Sein Magen begann laut zu knurren. Das hörte sich in der Stille ganz schaurig an. Warum hatte er auch Suse immer wegen ihrer Angst ausgelacht? Jetzt starrte er selbst mit furchtsamen Augen in die undurchdringliche Finsternis. Wie lange saß er denn schon hier gefangen? Sicher schon seit Stunden. Ihm fehlte jede Zeitberechnung. Ob das Planetarium heute überhaupt nicht mehr geöffnet wurde? Dann mußte er die ganze lange Nacht hier sitzen. Wie würden sich die Eltern, wie würde sich Suse um ihn bangen.

Alles still. Alles dunkel. Kein Hoffnungsstern wollte ihm im Planetarium aufgehen.

Erschöpfung trat nach der Erregung und dem Weinen ein. Die Augen fielen dem Jungen zu.

Da – fuhr er hoch. Was war das? Hatte da nicht irgendwas geraschelt? Eine Maus – gar eine Ratte?

Nein, der Schlüssel im Schloß war's, der sich drehte – Lichtschein fiel in die Finsternis. Gottlob, er war erlöst!

»Herbert, bist du hier?« Das war des Vaters Stimme. Da hatte der Professor seinen Jungen bereits am Schlafittchen. »Na warte, Schlingel, wenn du dich wieder heimlich ins Planetarium einschleichen wirst. Bist du mir auch nicht an den Zeißschen Apparat gegangen?« fragte der Vater, während Suse dem Wiedergefundenen jubelnd um den Hals fiel.

Ein recht kleinlautes, verweintes Bürschchen kam zum Vorschein, das ganz gegen seine Gewohnheit diesmal den Mund gar nicht voll nahm. Zwar blinzelte der Herbert, als ob ihn nur das Tageslicht nach der Dunkelheit blendete, aber man brauchte nicht sein Zwilling zu sein, um zu sehen, daß er geweint hatte.

So endete Herberts erster Besuch in Vaters Planetarium.


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