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7. Kapitel. Herr Besserwisser

Im Carolo-Alexandrinum-Gymnasium läutete es gerade zum Schulanfang, als Herbert erhitzt und abgehetzt die Treppen hinaufstürmte. Er hatte die Entfernung unterschätzt. Eine Sekunde stand er unschlüssig – in welchem Stockwerk mochte die Quarta sein? Dann trat er kurz entschlossen zu einem langaufgeschossenen Primaner heran und bat ihn um Auskunft.

»Eine Treppe tiefer, Knirps«, sagte der von oben herab.

Nun ging der »Knirps« dem Herbert ja gewaltig gegen sein Selbstgefühl. Aber jetzt war keine Zeit zu verlieren. In wilden Sprüngen setzte er wieder die Treppe hinab und hätte beinahe den Lehrer umgerannt, der gerade die Quarta betreten wollte.

»Holla, Eilzug – es gibt einen Eisenbahnzusammenstoß«, scherzte der. »Steh künftig fünf Minuten früher auf.«

»Daran lag's nicht«, erwiderte Herbert.

»Nicht? Dann hast du wohl die Frühstücksmahlzeit zu sehr ausgedehnt, übrigens, gehörst du denn hierher in die Quarta? Ich kenne dich ja noch gar nicht.«

Herbert nahm die Mütze ab und machte eine Verbeugung.

»Herbert Winter«, sagte er, sich verstellend, wie er es schon beim Vater beobachtet hatte.

Der Lehrer lächelte belustigt über den kleinen Gernegroß. »Ach so, du bist der Neue. Setz' dich hier vorn in die erste Bank, mein Junge.«

Bevor Herbert dem Gebot des Lehrers nachkam, überflog sein Blick voller Interesse seine Mitschüler. Etwas heller, etwas blonder sahen sie aus als die in Italien, blauäugig meist, aber sonst – Jungs sind Jungs. Sie musterten den Neuen ebenfalls eingehend. Schien ja ein ganz nettes Kerlchen zu sein.

»Was haben wir für Stunde?« fragte er seinen Nebenmann.

Der antwortete nicht, denn sobald der Lehrer die Klasse betreten hatte, war verboten, zu sprechen.

In Italien hatte man das nicht so genau genommen. Die kleinen Italiener ließen sich nicht so leicht in ihrer Lebhaftigkeit zügeln.

Herbert stieß den Nachbar mit dem Ellenbogen an. »Bist du taub?« fragte er dabei halblaut.

Der Lehrer wurde aufmerksam. »Für Privatunterhaltungen sind die Zwischenpausen da.«

»Ich wollte nur wissen, was für eine Stunde wir jetzt haben«, erklärte Herbert, durch den versteckten Tadel des Lehrers durchaus nicht eingeschüchtert.

»Das wirst du gleich hören. Erst möchte ich aber mal hören, wie du heißt, wann und wo geboren, Stand des Vaters?«

Herbert gab mit lauter Stimme Auskunft.

»Richtig – du bist ja der Herbert Winter aus dem Planetarium.«

Das offene Gesicht des Jungen überflog ein Schatten der Verlegenheit. Hatte man in der Schule etwa Wind bekommen von seiner Haft im Planetarium?

»Nun, da will ich nur hoffen, Winter, daß mit dir in unserer Quarta ein neuer Stern aufgegangen sein möge.« Die Klasse lachte, erfreut, daß man etwas Lärm machen konnte.

Doktor Dense, der Ordinarius der Quarta, war ein noch jüngerer Herr mit goldenem Kneifer. Er gab Geschichtsunterricht. Man nahm in diesem Semester die griechische und römische Götterlehre durch.

»Ihr wißt doch,« begann der Lehrer den Unterricht, »daß die alten Griechen ebenso wie die Römer trotz ihrer hohen geistigen Kulturstufe Vielgötterei trieben. Ich habe euch im vorigen Halbjahr von den alten Germanen erzählt, wie diese sich ihre Götter schufen. Woher nahmen sie ihre Gottheiten? Weber.«

Weber, ein keines, blasses Bürschchen, sprang von der Bank empor.

»Sie nahmen sie – sie nahmen sie aus – – –«, stotterte er. Augenscheinlich hatte er keine Ahnung.

»Na, woher denn, Weber? Denke mal nach. Aus der Schublade haben sie sie nicht genommen, also – – nein, Weber muß selbst darauf kommen.« Der Lehrer winkte den sich stürmisch Meldenden ab.

»Aus dem Walde«, erriet Weber schließlich aus dem, was er von mitleidigen Brosamen auffing.

»Falsch – du meinst vielleicht das Richtige. Haben sie die Tiere des Waldes angebetet?«

»Nein.«

»Welches Volk betete Tiere an?« Die Zeigefinger sanken herunter, einer nach dem andern.

»Weiß es keiner in der ganzen Quarta?«

Herbert Winter, trotzdem er soeben erst die Nase in die Quarta hineingesteckt hatte, empfand das als eine Schande. Obwohl er es ebensowenig wußte wie die andern, meldete er sich.

»Na, läßt der neue Stern sein Licht leuchten?«

»Die Inder«, sagte Herbert dreist. Denn er hatte irgendwo mal was von indischen Schlangenanbetern gelesen.

»Die Inder sind Buddhisten. Sie beten zu ihrem Gotte Buddha. Ich meine die Ägypter. Wißt ihr nicht, welches Tier ihnen heilig war?«

Das mußte Herbert unbedingt wissen. Tiere interessierten ihn in jeder Gestalt, ob als Gottheit oder im Zoo. Wieder hob er den Finger. Aber noch andere Zeigefinger durchflogen die Luft. Der Lehrer rief einen auf mit Namen Sauerteig.

»Die Pyramide«, sagte Sauerteig.

»Haach – die Pyramide ist doch kein Tier, ist der dumm!« rief es von der vordersten Bank lebhaft.

»Winter, du bist nicht gefragt. Ob etwas falsch oder richtig ist, beurteile ich. Was ist eine Pyramide?«

Darüber waren merkwürdige Ansichten in der Quarta vertreten. Der eine meinte: »Ein Palast«, der zweite: »Ein Steinhaufen«, der dritte gar: »Eine Art Weihnachtsbaum, den man an die Krone hängt.«

»Du denkst au eine Weihnachtspyramide aus Tannen. Wir meinen aber eine große Steinpyramide.« Doktor Dense malte sie mit einigen Kreidestrichen an die Tafel. »Also was ist das – unten breit, oben spitz zusammenlaufend?«

»Ein Zuckerhut«, erwiderte ein Naschmäulchen.

»Nein, eine Pyramide, Junge. Ein Grabdenkmal für die alten ägyptischen Könige. Ihr wißt doch, was die Ägypter mit ihren toten Königen taten, um ihren Körper vor Verwesung zu schützen? Wer will uns das sagen? Klose.«

»Sie stopften sie aus.«

»Hahaha, die ägyptischen Könige sind doch keine toten Papageis«, lachte es wieder temperamentvoll dicht vor dem Lehrer los.

Der schüttelte unzufrieden den Kopf. »Erstens heißt es Papageien. Zweitens gebe ich zu, daß ein ausgestopfter ägyptischer König etwas Komisches ist. Aber deshalb darfst du nicht mir nichts, dir nichts, ohne gefragt zu sein, hineinsprechen, Winter. Durftest du denn das in deiner früheren Schule?«

»In Italien sind die Jungs alle lebhaft. Da sind sie nicht so doof wie hier. Und der Lehrer freut sich, wenn man sich doll beteiligt.«

»Hm – doof ist weder ein Kompliment für deine Mitschüler, noch ist das überhaupt ein Ausdruck, den man in der Schule anwendet. Du bist jetzt in einem deutschen Gymnasium, Winter, und mußt dich wieder an die deutsche Schulordnung gewöhnen«, sagte der Lehrer ernst. Dann wandte er sich aufs neue der Klasse zu. »Die Ägypter balsamierten ihre toten Könige ein, das heißt, sie legten ihnen statt der Eingeweide Medikamente in den toten Körper, die denselben vor der Verwesung schützten. Wie nannte man solch einen Einbalsamierten?«

»Einen Leichnam«, antwortete ein Schüler.

»Das ist jeder Tote. Winter weiß es nur wieder? Eigentlich sollte ich dich nicht fragen, bis du dir dein vorlautes Wesen abgewöhnt hast.«

Herbert aber wartete gar nicht ab, daß er erst gefragt wurde.

Er rief bereits mit lauter Stimme: »Ein einbalsamierter oller Ägypter ist eine Muhme.«

Die Jungen sahen sich verdutzt an. Nur für eine Sekunde. Dann erhob sich ein wieherndes Gelächter, das nicht enden wollte.

Auch Doktor Dense dachte nicht mehr an die Schulordnung. Er lachte, daß der goldene Kneifer von seiner Nase sprang. »So, nun lacht mal alle den Winter aus. Er hat's verdient. Eine Muhme ist eine Tante. Die einbalsamierten ägyptischen Könige aber heißen Mumien. Siehst du, das kommt davon, wenn man sich vordrängt und alles wissen will.«

»Ich habe mich bloß versprochen«, meinte Herbert nun doch etwas kleinlaut.

Nachdem der Lehrer die Ruhe wiederhergestellt hatte, nahm er den Faden des Unterrichtsstoffes wieder auf. »Wir haben eine kleine Abschwenkung gemacht. Wollen mal sehen, ob wir den Weg zurückfinden. Welches Tier war den Ägyptern heilig?«

Es gab wohl kein Tier aus dem Zoologischen Garten, das die Quarta nicht heilig sprach. »Bär, Löwe, Affe, Tiger, Rhinozeros, Antilope, Känguruh« – das war ein Geschrei, als ob die Tiere selbst ihre Stimmen abgaben.

»Jetzt fehlt nur noch der Floh«, sagte der Lehrer, sich lachend die Ohren zuhaltend. »Ruhe – raten kann man das nicht.« Allein nicht mal sein Ruheruf drang durch. Der Floh hatte alle Schleusen der Heiterkeit entfesselt.

Doktor Dense mußte zu stärkeren Mitteln greifen. Er klopfte mit dem Zeigestock auf den Kathedertisch. »Ruhe – wer jetzt noch lärmt oder lacht, bekommt eine Stunde Arrest. Winter, kannst du nicht hören? Melde dich heute nach Schulschluß bei mir.«

Das Lachen verging Herbert. Sollte er wirklich gleich am ersten Tage Arrest erhalten? War das eine Schande! Die Tränen begannen ihn im Halse zu würgen, als wäre ihm einer von Minnas Thüringer-Riesenklößen dort steckengeblieben. Nur nicht weinen! Ein Junge, und noch dazu ein Quartaner, weint nicht. Herbert ballte die Hände zu Fäusten, um Widerstand gegen die aufsteigenden Tränen zu leisten. Er war doch keine Heulsuse wie sein Zwilling.

Inzwischen war in der Klasse wieder die gewohnte Stille und Aufmerksamkeit eingekehrt. Daß der Neue gleich den ersten Tag nachsitzen sollte, machte keinen besonderen Eindruck. Das kam in der Quarta öfters mal vor. Schadete ihm gar nichts, dem Winter, wenn er sich immer so vortat.

Der Lehrer hatte die abirrenden Gedanken wieder in die verlassenen Bahnen gelenkt. »Der schwarze Stier, der Apis, war den alten Ägyptern heilig. So – nun merkt's euch. Wir gingen davon aus, woher die Germanen ihre Götter nahmen. Es wurde uns bereits gesagt, aus dem Walde. Das stimmte nicht. Wie mußte die Antwort lauten?« Der Lehrer, der vor den Schultischen auf und ab ging, tat, als ob er Herberts Finger, der ihm dicht vor der Nase herumfuchtelte, überhaupt nicht sah. »Krause, sage du's uns.«

»Aus der Natur nahmen die Germanen ihre Götter.«

»Richtig, Krause. Nennt mir einige dieser Naturgötter.«

»Der Donnergott Tor – der Sonnengott Balder –.«

»Wie hieß der oberste Gott der Germanen?«

»Wotan«, antwortete Schmidt, der Erste.

»Jawoll!« – Es war Herbert nicht möglich, seinen mit ihm durchgehenden Mund im Zaume zu halten. Er riß sich beinahe einen Arm aus, um aufgerufen zu werden.

Aber Doktor Dense verstand es, solche sich vordrängenden Bürschchen einfach zu übersehen, als ob sie Luft seien.

»Gut, Wotan«, bestätigte er. »Und wie hieß dessen Gattin, die oberste Göttin?«

»Frigga«, kam die richtige Antwort. Die Quarta wußte in der germanischen Götterlehre Bescheid.

Das war Herbert noch nicht passiert, daß er einfach übersehen wurde, als ob er gar nicht da sei. Er hatte sich in der Berliner Waldschule sowohl als auch im Gymnasium zu Neapel stets zu behaupten gewußt und überall als guter Schüler gegolten. Wenn man ihn hier nicht fragte, dann sprach er eben, ohne gefragt zu sein. Arrest bekam er ja sowieso. Das ließ er sich nicht gefallen, daß man ihn einfach ausschaltete. Noch dazu, wo die Jungen alles falsch beantworteten. Mit empörtem Gesicht saß Herbert Winter da.

»Welchen Namen hatte die himmlische Burg der Götter?«

»Walhall«, antwortete einer der Schüler.

Das war zuviel für Herbert. »Haach – alles falsch. Auf dem Olymp wohnten die Götter. Und ihr Präsident hieß Zeus, höchstens noch Jupiter. Und die Frau Zeus hieß« – aber weiter kam Herbert nicht. Der Lehrer, der erst starr war über die Unverfrorenheit des neuen Schülers, nahm ihn am Arm und führte ihn zur Tür.

»So, Winter. Da du dich in der Klasse nicht zu benehmen weißt, wie es sich gehört, so sieh dir die Tür mal von außen an. Wenn du schweigen gelernt hast, kannst du anklopfen und wieder hereinkommen.«

Um Herberts Mund begann es verdächtig zu zucken.

»Na, wenn die Jungs doch alles falsch gesagt haben«, verteidigte er sich noch zwischen Tür und Angel.

»Falsch war deine Antwort. Wir sprachen von den germanischen Göttern, und du hast die griechischen und römischen Götter genannt«, bedeutete ihm der Lehrer.

»In Italien hießen sie eben so«, beharrte Herbert.

»So ein Besserwisser!« Damit schlug die Klassentür vor Herberts Nase zu.

Besserwisser – das Wort hallte durch die leeren Korridore. Es war, als ob es von allen Seiten wieder zurückschallte. Woher wußte der Lehrer nur, wie er zu Hause so oft genannt wurde?

Alles still. Ganz verlassen lag der Korridor da. Aus den Klassen kamen Stimmen. Herbert stieg es heiß in die Augen. Die Scham brannte ihm auf den Wangen – an die Luft gesetzt war er worden. Wenn das seine Suse wüßte! Grenzenloses Mitleid überkam ihn mit sich. Was hatte er denn verbrochen, daß man ihn so schmählich behandelte? Wie er es in Italien gelernt hatte, so hatte er geantwortet. In Neapel hätte man ihn sicher dafür belobt. Er konnte doch nicht dafür, daß er die germanischen Götter noch nicht kannte.

Aber dafür konnte er, daß er immer dazwischen gesprochen hatte, ohne gefragt zu sein, trotzdem der Lehrer es ihm verboten hatte. Daß er sich vordrängte und ein Besserwisser war – das war unrecht gewesen. Wer raunte ihm denn diese unbequemen Gedanken zu? Es war eigentlich so, als ob es Muttis Stimme wäre. »Quatsch!« sagte Herbert laut zu sich selbst, um die lästige Stimme in seinem Innern zu übertönen.

Anklopfen sollte er, wenn er schweigen gelernt hätte. Na, da konnte der Herr Doktor lange warten. Gegen die Tür hätte er bumbern mögen, mit den Fäusten und mit den Füßen, so empört war er über die entehrende Strafe. Und heute mittag sollte er noch außerdem Arrest erhalten? Fiel ihm ja gar nicht ein. Er blieb überhaupt nicht hier in dem Gymnasium, wo man ihn so wenig zu würdigen wußte. Es gab ja noch mehr Schulen in Jena. Der Vater hatte sowieso daran gedacht, ihn aufs Realgymnasium zu geben. Gleich wollte er ihn darum bitten. Nein – hier blieb er nicht!

Und ohne Mütze, ohne den Lodenmantel, der in der Klasse hing, ja, ohne seine Schulmappe lief der Heißsporn davon, die breite Steintreppe hinunter.

Hu, war das ein garstiges Wetter draußen. Es stürmte und goß in Strömen. Wollte er wirklich ohne Mantel in das Regenwetter hinaus? Ach was, er würde schon nicht aufweichen, er war ja nicht aus Zucker. Ein richtiger Junge, der lief einfach unterm Regen weg.

Aber so einfach war die Sache doch nicht. Ein Paar Beine vertraten ihm plötzlich den Weg, als er eilig mit gesenktem Kopf den Schulhof überquerte.

»Wohin so eilig?« fragte der zu den Beinen Gehörende.

Herbert blickte flüchtig hoch. Er sah einen Mann mit einer Windjacke vor sich – sicher der Pedell.

»Nach Hause«, antwortete er und wollte schleunigst weiter.

Aber der vermeintliche Schuldiener hatte ihn bereits fest am Kragen.

»Was willst du zu Hause – hast du ein Buch vergessen?«

»Nein.«

»Bist du krank?«

»Ach wo.«

»Hat dich dein Lehrer nach Hause geschickt?«

Herbert schielte unbehaglich zu dem Fragenden empor. Es schien doch wohl nicht der Pedell zu sein.

»Nach Hause nicht. Aber – – –«

»Nun, aber?«

Herbert schwieg. Lieber biß er sich die Zunge ab, als daß er gestand, daß man ihn aus der Klasse gewiesen habe.

»Kehrt – marsch!« befahl der Unbekannte und wies ernst auf die Eingangstür zur Schule.

Was – zurück sollte er? Nimmermehr!

»Ich gehe nicht wieder hier in diese Schule«, erklärte Herbert.

»Was du sagst! Aber das kannst du mir drin auseinandersetzen. Hier ist es zu ungemütlich dazu.« Wie einen Gefangenen transportierte der Herr den entlaufenen Jungen in das Schulgebäude zurück.

An einer Tür machte er halt. »Direktorzimmer« stand auf einem Schild daran zu lesen.

Wollte der Unbekannte ihn beim Direktor verklatschen?

Herberts Begleiter öffnete, ohne anzuklopfen, die Tür. Das Zimmer war leer – Gott sei Dank. Der Herr zog seine Windjacke aus, hängte sie an einen Garderobenhaken und nahm auf dem Stuhl am Schreibtisch Platz.

Nanu? Was hatte das zu bedeuten? Jäher Schreck durchfuhr den Ausreißer. Er war dem Herrn Direktor selber in die Arme gelaufen!

»So – nun sage mir mal erst, wie du heißt?« begann der Direktor das Verhör.

»Herbert Winter.« Das klang durchaus nicht mehr selbstbewußt, sondern recht bescheiden.

»Winter – Sohn vom Planetariumdirektor?«

Herbert nickte. Eben hatte er doch noch seinen Weg zum Vater nehmen wollen, und jetzt gab ihm die Erwähnung des Vaters einen Stich ins Herz.

»Hm – du bist also der neue Schüler? In der Quarta, nicht wahr? Hattest soeben deine erste Stunde hier? Beim Ordinarius? Na, und es gefällt dir nicht bei uns?«

»Nein«, sagte Herbert aus tiefstem Herzensgrunde.

»Die Antwort läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Also du wolltest wieder fort von uns. Hattest du deinen Ordinarius davon in Kenntnis gesetzt?«

Herbert schüttelte den Kopf.

»Warum gefällt es dir nicht bei uns?«

»Weil man nicht ein Wort sprechen darf und – – –.« Er verstummte plötzlich.

»Na – und?« half ihm der Direktor ein.

»Nein, ich klatsche nicht«, sagte Herbert stolz.

Der Direktor blickte in die blitzenden blauen Jungenaugen. »Hübsch von dir, daß du deinen Lehrer nicht verklatschen willst. Das hat er sicherlich gar nicht um dich verdient.« In den Augen des Herrn Direktors, die so ernst blicken konnten, zuckte es belustigt. »Aber vielleicht versuchst du's noch mal mit uns, Winter. Wir sind nämlich gar nicht so schlimm, wie du denkst, auch dein Ordinarius nicht. Er wird sich um dich sorgen, wenn du einfach davongelaufen bist. Komm, wir wollen ihn beruhigen.«

»Ach, der sorgt sich nicht um mich«, meinte Herbert, folgte aber doch dem Direktor hinaus.

Herbert irrte sich. Doktor Dense sorgte sich recht sehr um den davongelaufenen Schüler. Als fünf Minuten vergangen waren, ohne daß der Hinausgeworfene angeklopft hätte, gebot der Ordinarius dem Primus, Winter wieder hereinzuholen. Schmidt ging hinaus und kam mit dem Bescheid zurück, es sei keiner mehr da.

Was hatte das zu bedeuten? Der Bengel würde doch nicht ausgekniffen sein? Aber seine Sachen, seine Mappe waren ja hier. Sicher würde er sich gleich wieder einfinden.

Doktor Dense unterrichtete weiter. Nach wiederum fünf Minuten wurde aufs neue ein Schüler hinausgesandt mit der Weisung, überall nach Winter zu suchen. Auch er kam erfolglos zurück.

Jetzt wurde es Doktor Dense doch ungemütlich zumute. Er hatte nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, als er den vorlauten Schüler vor die Tür gesetzt hatte, um ihn gleich von vornherein wieder an deutsche Schuldisziplin zu gewöhnen. Wer konnte annehmen, daß der Schlingel gleich auf und davon gehen würde! Es half nichts, er mußte dem Direktor Mitteilung machen, um telephonisch festzustellen, ob der Junge nach Hause gegangen war.

Als Doktor Dense diesen Entschluß gefaßt hatte und sich gerade zum Direktor begeben wollte, Meldung zu erstatten, stand dieser vor ihm und neben ihm Winter, der Gesuchte.

»Hier übergebe ich Ihnen den Ausreißer wieder, Kollege«, sagte der Direktor lächelnd. »Er will es noch mal mit uns versuchen. Vielleicht bringen wir ihm doch noch eine bessere Meinung von unserer Schule bei.«

Ein wenig beschämt nahm Herbert seinen Platz wieder ein.

Der Lehrer tat, als ob nichts vorgefallen sei. Er fragte Herbert wie jeden andern Schüler. Und der Herr Besserwisser hütete sich jetzt, ungefragt zu antworten.

»Bitte doch Doktor Dense, daß er dir den Arrest erläßt«, riet der Primus dem Neuen nach Ablauf der Stunde. »Er ist sehr nett, er tut es, wenn man ihn darum bittet.«

Oh, da biß Herbert sich ja lieber die Zunge ab, ehe er um Straferlaß gebeten hätte. So unangenehm die Sache auch war. Denn Vater kam um zwei Uhr zu Tische. Und was würde Suse sagen, wenn ihr Zwilling gleich am ersten Tage nachsitzen mußte! Und Bubi stand gewiß schon lange in Sturm und Regen an der Gartentür und schaute nach seinem jungen Herrn aus. Aber das half alles nichts.

Nach Ablauf der andern Stunden, in denen es Herbert, da er jetzt bescheiden und zurückhaltend war, recht gut erging, meldete er sich beim Ordinarius zum Arrest.

Doktor Dense hatte inzwischen vom Direktor die näheren Umstände über den entwischten Schüler vernommen und daraus seine anständige Gesinnung trotz des vorlauten Wesens erkannt.

»Nun, Winter,« sagte er, »ich denke, wir werden uns jetzt auch ohne Arrest verstehen. Was meinst du?« Er reichte Herbert die Hand hin und dieser schlug erfreut ein.

Das gute Einvernehmen mit Doktor Dense war besiegelt.


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