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5. Kapitel. Schulfieber und Thüringer Klöße

Die neue Minna hatte nun auch ihren Einzug ins Sternenhaus gehalten. Sie war ein blondes, frisches Ding aus der Gegend von Ruhla. »Minna, ist Ihr Vater Schmied?« erkundigte sich Herbert sogleich.

»Nu nä, mein Vater ist Schneider. Warum soll er denn Schmied sein, junger Härr?« Die Minna hatte eine eigenartig singende Sprechweise.

Der »junge Härr« sprang mit einem Satz auf den Küchentisch. »Nu, wenn er Schmied gewäsen wäre, hätte er vielleicht den Landgrafen von Thüringen hartgeschmiedet.« Der Frechdachs machte der Minna ihre singende Sprechweise nach. »Oder kennen Sie etwa die Erzählung vom Schmied von Ruhla nicht?«

Die Minna hielt im Aufwasch inne. »Nu freilich, das lernt man doch schon in der Schule, wie der Schmied zu Ruhla den Landgrawen von Dieringen hartgeschmiedet hat.« Sie begann wieder ihre Töpfe zu scheuern, ohne zu merken, daß Herbert sie aufzog, daß Suse sich das Taschentuch vor den Mund halten mußte, um nicht loszulachen.

»Wie war die Geschichte eigentlich mit dem Schmied, Minna?«

»Nu, wie wird sie gewäsen sein. Der Landgraw von Dieringen, der ein gar weichmüdiger Härr war, hatte sich bei der Jagd verirrt und bat den Schmied von Ruhla um Nachtquardier. Der wußte nicht, daß es der Landgraw sei und ließ ihn eindräden. Da hörde der Landgraw, wie der Schmied bei jedem Hammerschlag zornig sprach: »Landgraw, werde hard' – und von da an wurde aus dem weichmüdigen Landgrawen Ludwig der Eiserne. Er war in Ruhla hartgeschmiedet worden.« So erzählte die Minna beim Aufscheuern.

Suse vergaß über die interessante Begebenheit Minnas drollige Sprechweise. Sie hörte gespannt zu. Herbert aber mußte jedes Ding auf die Spitze treiben.

»Minna, wenn Sie mal wieder in Ihre Heimat nach Ruhla kommen, müssen Sie auch zu dem Schmied gehen«, sagte er lachend.

»Nu, der läbt doch gar nicht mähr. Der ist doch schon viele Jahrhunderte dot.« Minna lachte mit. »Und was sollde ich da wohl, junger Härr? Ich bin doch gar nicht so weichmüdig.«

»Sie sollten sich von dem Schmied von Ruhla Ihre weichen Konsonanten hartschmieden lassen, Minna. Es heißt nämlich Thüringen und nicht Dieringen«, lehrte der Besserwisser vom Küchentisch herab.

»Nu, ich sage doch Dieringen«, verwunderte sich Minna.

Da aber platzte die Suse raus. Sie lachte – lachte – bis Minna sie ärgerlich unterbrach: »Nu, was gibt's denn da zu lachen, Fräulein Suschen? Mir scheint, Sie wollen mich alle beide zum Narren halden.«

Da kam es der Suse erst zum Bewußtsein, daß sie durch ihr Lachen verletzt hatte, und das tat ihr leid.

»Ich habe doch bloß über den Herbert gelacht, Minna. Aber dem dürfen Sie's auch nicht übelnehmen, er ist nämlich immer ein Besserwisser. Aber warum sagen Sie denn bloß Sie und Fräulein und junger Herr zu uns, Minna? Wir sind doch noch Kinder. Wir werden doch erst zwölf Jahre.«

»Aber schon in vier Wochen«, fiel Herbert ein. Er fühlte sich eigentlich der neuen Würde als »junger Herr« entsprechend und fand es unnötig, daß Suse es ändern wollte.

»Nu, man gann doch nicht wissen, ob's nicht verlangt würden dut«, meinte Minna. »Aber wenn's den jungen Härrschawten lieber ist, dann sagen wir du.«

»Nee, es ist uns nicht lieber«, erhob Herbert Einspruch. »Zu mir können Sie ruhig weiter ›Sie‹ und ›junger Herr‹ sagen, Minna. Ich bin nämlich älter als die Suse.«

»Ich denke, ihr seid beide Zwillinge«, verwunderte sich Minna.

»Sind wir auch. Aber ich bin zwei Stunden früher geboren. Sie brauchen gar nicht zu lachen, Minna. Das macht sehr viel aus.« Trotzdem Herbert die Minna ausgelacht hatte, wollte er es sich jetzt nicht von ihr gefallen lassen.

Da lachte es aber auch von der Tür her. Mutti stand im Kücheneingang. Sie hatte Herberts Worte gehört.

»Junge, bist du denn ganz und gar nicht gescheit? Willst, daß die Minna ›Sie‹ und ›junger Herr‹ zu dir sagt! Damit kannst du die ruhig noch vier Jahre Zeit lassen. Sei froh, daß du noch ein Kind bist.«

»Na, die Minna hat doch ganz von allein ›Sie‹ gesagt.« Herbert schämte sich jetzt doch ein wenig. Im Grunde seines Herzens aber war er eigentlich ganz froh, daß er noch kein junger Herr war. Da konnte man ruhig mal einen heimlichen Streifzug in die Speisekammer unternehmen. Wenn man dabei erwischt wurde, war es wenigstens nicht so peinlich.

Die neue Minna und Professors Zwillinge waren bald gute Freunde. Das Mädchen war selbst heiter, hatte kleine Geschwister zu Hause und freute sich über die Ausgelassenheit der Kinder. Diese gewöhnten sich an Minnas Sprechweise und zogen sie nicht mehr damit auf.

Die Zwillinge hatten jetzt auch andere Interessen. Die neue Schule, in die sie am nächsten Tage zum ersten Male gehen sollten, stand im Vordergrund.

»Vati, in Berlin gibt's doch auch ein Planetarium, nicht wahr?« erkundigte sich Suse beim Mittagessen.

»Freilich, Kind, es ist noch ziemlich neu.«

»Warum bist du denn da nicht nach Berlin ans Planetarium gekommen?«

»Weil der Vater in Jena ist«, erklärte Herbert, einen Thüringer Riesenkloß, das Spezialgericht der neuen Minna, auf die Gabel spießend.

»Herbert, iß manierlich«, mahnte die Mutter.

»Vatichen, liebes Vatichen, laß dich doch ans Berliner Planetarium versetzen«, bat Suse.

»Ja, Kind, das geht doch nicht so mir nichts, dir nichts. Den Platz, den man einmal eingenommen hat, muß man auch voll und ganz auszufüllen bestrebt sein. Ich kann doch nicht einfach wieder davonlaufen.«

»Aber du kannst dich nach Berlin versetzen lassen«, beharrte Suse.

»Und unser hübsches Sternenhaus, das wir mit soviel Liebe eingerichtet haben? Und dein nettes Zimmer? Das willst du alles im Stich lassen? Ich denke, du bist gern hier in Jena«, verwunderte sich auch die Mutter.

»Berlin ist auch sehr schön. Da hatten wir ja auch eine hübsche Wohnung und – – –«

»Ich weiß, warum die Suse wieder nach Berlin will«, trompetete Herbert dazwischen, nachdem er mit seinem großen Kloß fertig geworden war.

»Ach, das kannst du gar nicht wissen.«

»Weil du Angst vor der neuen Schule hast. Bloß aus Feigheit. Hach – es stimmt – sie wird ganz rot.«

»Gar nicht rot werde ich – kein bißchen rot«, behauptete Suse und sah plötzlich wie ein gekochter Krebs aus. Die Tränen standen ihr bedenklich nahe in den Augen.

»Aber, mein Herzchen, du brauchst doch keine Angst vor der Schule hier zu haben. Lehrer und Schülerinnen werden dir sicher nett entgegenkommen. Es sind viele Professorenkinder dort. Auch unterrichten in Geschichte, in Naturkunde und in deutscher Literatur Dozenten von der Universität, die ich persönlich kenne«, versuchte der Vater ihr Mut zuzusprechen.

»Um so schlimmer!« entfuhr es Suse.

»Suschen, ich verstehe dich nicht.« Die Mutter, die sonst so gut im Herzen ihrer Kinder zu lesen wußte, stand vor einem Rätsel.

»Aber ich verstehe sie«, kam Herberts Trompetenstimme wieder dazwischen. »Die Suse hat Angst, sich vor den Professorenkindern und vor den Lehrern von der Universität zu blamieren, wenn sie nichts kann. Ich muß es doch wissen, weil ich ihr Zwilling bin.«

Wirklich, er schien ins Schwarze getroffen zu haben. Als Zeichen dafür begannen Suses krampfhaft zurückgehaltene Tränen jetzt zu fließen.

»Hach – es regnet schon wieder. Wenn du immer gleich losheulst, werden sie dich alle in der neuen Schule auslachen«, prophezeite Herbert.

»Keiner wird dich auslachen, mein Mädel. Iß mal ruhig weiter«, redete die Mutter ihr gütlich zu. »Herbert, sei jetzt still und ärgere Suschen nicht. Du gehst doch in die Schule, um zu lernen, Kind. Dann brauchtest du die Schule ja gar nicht mehr zu besuchen, wenn du schon alles wüßtest. Ja, wenn es vorher noch eine Prüfung zu bestehen gäbe, wie in Italien, vor der du dich ängstigst. Aber der Direktor nimmt dich in die vierte Klasse auf. Im Englischen mußt du Privatunterricht bekommen, um das Sommerhalbjahr, das du versäumt hast, nachzuholen. Und dann werden wir ja bis Ostern sehen, ob du's schaffst oder noch mal die Klasse durchmachen mußt.«

Suse, die sich noch eben unter Muttis liebevollen Worten wieder mit dem Kloß auf ihrem Teller zu beschäftigen begann, legte entsetzt die Gabel hin.

»Sitzenbleiben soll ich zu Ostern – das ist ja eine furchtbare Schande!« Der Kloß wurde mit Tränen benetzt.

»Du sollst ja gar nicht sitzenbleiben. Aber wenn du noch nicht die Reife für die dritte Klasse zu Ostern hast, bleibst du in der vierten Klasse, damit du mitkommst. Das ist absolut keine Schande, wenn du in Italien einen andern Lehrplan gehabt hast und ein Halbjahr Englisch nachholen mußt. Nur wenn man aus Faulheit sitzenbleibt, das ist eine Schande«, erklärte ihr der Vater.

»Wenn du nach Berlin versetzt würdest, Vati, könnten wir wieder in unsere liebe Waldschule gehen. Da kenne ich alle Lehrer und alle Kinder, und dort bin ich mit Herbert zusammen in einer Klasse. Ach – wie würde sich Paulchen freuen.« Das war ihr kleiner Waldschulfreund.

»Also darum willst du wieder nach Berlin«, lachte die Mutti. »Paß mal auf, Suschen, es wird dir hier in Jena im Lyzeum noch viel besser gefallen als in der Waldschule. Du wirst gar nicht wieder fort wollen.«

»Glaube ich nicht«, meinte Suse voll trüber Ahnungen.

»Ich auch nicht«, pflichtete ihr Herbert als getreuer Zwilling bei. »Du bist viel zu schüchtern, Suse, da wird man leicht für doof gehalten.«

»Und wenn man immer mit dem Mund vorweg ist, dann gilt man als naseweis, mein Sohn. Merke dir das. Da ist mir Schüchternheit, die stets mit Bescheidenheit gepaart ist, doch noch lieber«, sagte der Vater, ernsthaft mit dem Finger drohend.

Diesmal war die Reihe an Herbert, rot zu werden.

Am Nachmittag, nachdem Suse ihre Mappe gepackt hatte, sie wußte eigentlich nicht recht, was für Bücher und Hefte sie mitnehmen sollte, da sie den Stundenplan noch nicht kannte, saß sie in traulicher Gemeinschaft mit Piccola auf dem kleinen Rosensofa.

»Du hast's gut, Piccola«, sagte sie mit einem schweren Seufzer und hielt inne, das weiße Fell des Kätzchens zu krauen. Die Mies richtete ihre grasgrünen Augen fragend auf ihre junge Herrin.

»Na ja«, fuhr Suse fort, »du brauchst morgen nicht in die olle Schule zu gehen. Wenn dich auch Bubi mal zaust, das ist noch lange nicht das Schlimmste.«

»Miau«, sagte das Kätzchen. Das konnte sowohl Zustimmung als Widerspruch bedeuten.

Im Nebenzimmer pfiff Herbert kunstgerecht. Das war auch wieder etwas, was er vor Suse voraus hatte. Trotzdem sie Zwillinge waren, und trotzdem Suse die musikalischere von beiden war, vermochte sie es nicht, eine Melodie zu pfeifen.

»Du, Herbert, weißt du, was ich wünschte?« fragte Suse über den gemeinsamen Balkon hinweg.

»Nee«, kam es nach einer Weile von nebenan. »Daß du so schön pfeifen kannst wie ich?«

»Daß morgen die Schule geschlossen wäre, wenn ich hinkomme.«

»Dann mußt du eine Stunde früher hingehen«, riet Herbert.

»Ach, ich meine doch überhaupt geschlossen – gleich für ein paar Wochen oder lieber noch Monate. Es könnte ja vielleicht Scharlach ausgebrochen sein. Wäre das fein!«

»Aber Suse, ist das wirklich dein Ernst, was du da eben gesagt hast?« Das war Vaters Stimme. Aber wo kam sie nur her? Ach, vom Balkon auf der andern Seite. Vater holte sein Fernrohr herein. Der Wind war umgesprungen und kündete Regen an. »Denke nur mal nach, was du eben Unüberlegtes geäußert hast, Kind. Sollen wirklich viele Kinder krank sein und Schmerzen erdulden, viele Eltern in Sorge um ihre Kinder, nur damit du nicht in die Schule zu gehen brauchst? Das hast du dir nicht recht überlegt. Da kenne ich mein Suschen besser.«

»Es brauchen ja auch bloß Masern zu sein«, gestand Suse beschämt zu. »Die sind nicht so doll.«

»Oder aber die Schule müßte abbrennen – es muß ja nicht gerade jemand drin sein – mit sämtlichen Extemporalheften!« Herbert brachte nun erst den Frieden.

»Ihr seid dumme Kinder«, sagte der Vater, »und wißt gar nicht, was ihr da so leichtfertig hersagt.«

Am Abend, als Minna die Betten zurechtmachte, fragte Suse: »Minna, möchten Sie morgen in die Schule gehen?«

»Nu freilich. Ich dät mich freuen, wenn ich noch mal Schulgind sein gönnte«, antwortete Minna zu Suses größtem Erstaunen. »Ich habe gern gelernt. Aber als ich vierzähn Jahr war, hieß es: Raus aus der Glasse und rein in die Gardoffeln. Da hab' ich beim Bauern auf dem Welde arbeiten müssen. Du hast's gut, Suse, daß deine Eltern dich soviel lernen lassen.«

Was, gut hat sie's noch obendrein, wenn sie morgen in die fremde Schule zu all den unbekannten Kindern mußte? Wie gern hätte sie mit der Minna getauscht!

Am andern Morgen zogen die Zwillinge bei grauem Regengeriesel zum erstenmal aus dem Sternenhaus in die Schule. Über Nacht war es Herbst geworden. Kalter Wind jagte die bunten Blätter vor den beiden her. Suse fröstelte vor Aufregung und Kälte. Sie war an den ewigen Sommer Süditaliens gewöhnt. Bubi und Piccola gaben ihnen einträchtig bis auf die Straße das Geleit. Aber als die beiden aus Sehweite waren, begann Bubi zu knurren und Piccola einen Buckel zu machen. Das war die Einleitung zu kriegerischen Feindseligkeiten.

Die Schule war nicht abgebrannt. Es schien auch keine Krankheit ausgebrochen zu sein. Denn die Schülerinnen, große und kleine, gingen alle vergnüglich schwatzend in das große Tor hinein.

Herbert, der die ängstliche Suse, trotzdem sein Weg schon früher abbog, netterweise bis ans Lyzeum begleitet hatte, gab ihr noch einen aufmunternden kleinen Rippenstoß: »Denk' ans elfte Gebot, Suse.«

»Es gibt doch nur zehn«, wandte Suse ein.

»I wo, das elfte Gebot heißt: ›Laß dich nicht verblüffen!‹«, und fort war ihr Zwilling. Denn nun war's auch für ihn höchste Zeit.

Allein, ganz allein und haltlos trieb Suse wie ein kleiner Nachen in dem großen Strom der zur Schulpforte hineinflutenden Schülerinnen einher. Da hatte das große Tor auch sie verschluckt.


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