Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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21. Kapitel.

Wo Habmichlieb und Enzian blühn

An einem warmen Julinachmittag langte sie auf dem Krummhübler Bahnhof an. Der Zug war vollbesetzt. Es war Ferienzeit. Bärbel mischte sich unter die dem Ausgang zuströmenden Fremden. Keiner kannte die hochgewachsene, blasse Dame. Nicht einmal der alte Gepäckträger, der früher gemeinsam mit dem Vater seinen Hörnerschlitten zu den Bauden hinaufgezogen hatte.

»Hotel Wang, Goldener Frieden, Teichmannsbaude, Preußischer Hof, Rübezahl« – – – alles noch wie früher. Viele Hotels hatte Bärbel auf ihren Reisen an den Bahnhöfen ausrufen hören, immer dieselben gleichgültigen Namen. Aber jetzt stand sie und lauschte dem Durcheinander der Hausdienerstimmen, als wäre es eine Offenbarung. Sie starrte auf den kleinen, bescheidenen Bahnhof – gewaltige moderne Bahnhofshallen hatte sie inzwischen da draußen in der Welt kennengelernt, aber keiner war so lieb und anheimelnd wie der Eingang zur Heimat.

Hausmeister umdrängten die vornehm ausschauende Fremde, ihre Pensionen anpreisend in der Annahme, daß sie Unterkunft suche. Kutscher knallten aufmunternd mit den Peitschen – hier hatte man doch tatsächlich trotz des gelben Postautos noch gemütliche Zweispänner. »Nu wenn's a Wagen brauchen?« riefen die Kutscher von den Böcken herab. Barfüßige Kinder wollten ihr die Reisetasche abnehmen – gerade so hatte sie mit Bruder Karl ihre Schubkarre einst zum Bahnhof gezogen, den Gästen ihr Gepäck zu befördern. Damals war sie noch ein glückliches, frohes Kind gewesen, trotz der Armut. Bärbel verteilte einige Geldstücke unter die wartenden Buben und Mädel, ließ ihr Gepäck am Bahnhof zurück und schlug am Feuerwehrturm vorüber den Weg zu den Wolfshauer Wiesen ein. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Es duftete nach frischgemähtem Heu und Sommerblumen; sanftwürziger Wind wehte vom Gebirge her – Heimatsluft.

Die Schweizer Schneeberge, die eisgepanzerten Gletscher und leuchtenden Firnen hatten in ihrer gewaltigen Majestät bedrückend auf Bärbel gewirkt. Jetzt ließ sie im Vorwärtsschreiten die Blicke über die sanftgeschwungenen Linien ihrer Heimatsberge schweifen. Da grüßte die Koppe sie mit ihren kleinen Häusern, da war das Schlesierhaus, die Heinrichsbaude, alles liebe, vertraute alte Bekannte. Solche duftzarten Farben hatte kein anderes Gebirge, diese durchsichtige Bläue, und Wald, Tannen-, Föhren- und Lärchenwald bis fast zum Kamm hinauf.

»Mein liebes Riesengebirge!« flüsterte Bärbel mit tränenfeuchtem Blick. Hier würde sie seelisch gesunden, wenn irgendwo auf der Welt, nur hier in der Heimat.

Da waren all die kleinen Wolfshauer Häuslein aus ihrer Kinderzeit, wie Spielzeug hingestreut mit den bunten Bauerngärten. Dazwischen manch nettes Landhaus, neu in den letzten Jahren erstanden. Wolfshau war als Sommerfrische mehr und mehr in Aufnahme gekommen. Auf den Wiesen war man bei der Heumahd. Die Männer mähten das Gras, die Frauen wandten es mit dem Rechen. Dengeln der Sensen, Geigen der Heupferdchen am Wiesenrain und darüber in blauer Luft fröhliches Gezwitscher von kreisenden blauen Schwalben: Der erste Heimatsgruß. Möge er Glück bringen!

Vor Schuster Hensels Häuschen blühte die Linde. Süßer Blütenduft mischte sich mit dem Heugeruch.

Ein stattlicher Neubau, gelblich getöntes Hauptgebäude mit zwei Seitenflügeln, schon von weitem das Erholungsheim verratend, wurde auf einer Bergwiese sichtbar. Zu seinen Füßen leuchtete es feuerrot – das Rosenhäusel. Die Rankrosen standen in voller Blütenpracht.

Bärbel beschleunigte den Schritt. Zum erstenmal seit ihrer Krankheit fühlte sie ihr Herz wieder lebhafter pochen, das Blut in den Adern schneller pulsieren. Wie mochte sie die Mutter antreffen? Sie hatte ihr Kommen nicht gemeldet.

»Erholungsheim Dr. Hermann Opitz« – Sonnenlicht vergoldete die Buchstaben am Eingang. Bärbel hatte beim Lesen das befriedigende Gefühl: Hier hast du auch ein wenig mit aufbauen helfen.

Sie wandte sich dem Rosenhäusel zu. Rosen über Rosen im Garten in allen Farben, von allen Sorten. Tadellos gehaltener Rasen, sauber bekieste Wege. Das Häusel selbst hatte sich durch den ausgebauten Oberstock, durch Balkon und Loggia nach Süden in ein allerliebstes Landhäuschen verwandelt. An allen Fenstern, auf dem Balkon und der Loggia grüne Kästen mit lustigbunten Blumen. Mit liebevoller Hand war alles gepflegt. Die Mutter hatte schon zu schaffen, wenn sie das eigenhändig alles in Ordnung halten wollte. Wo steckte sie nur, die gute Muttel?

Ein goldbrauner Dackel kam Bärbel kläffend entgegen, als sie die Gartentür zu ihrem Besitztum öffnete. Mit feindseligem Bellen umkreiste er sie.

»Aber Putzerle, kennst du mich denn nicht mehr?« Nein, der Dackel kannte sie nicht wieder. Sie war ja immer nur auf kurze Zeit daheim gewesen. Und es ging ins dritte Jahr, daß sie nicht mehr ins Rosenhäusel eingekehrt.

Krummbeinig watschelte der Dackel neben dem Eindringling her, immer noch mißtrauisch bellend. Sie war fremd in der Heimat geworden. Ja, wenn Mohrle noch gelebt hätte!

Hinter dem Hause waren Gemüsebeete angelegt. Beerensträucher und junge Obstbäume waren inzwischen gesetzt worden. Die Erdbeeren schienen gut zu tragen, hatten ja auch die schönste Sonne hier. Im Grasgarten pickten Hühner herum, Ziegen weideten etwas tiefer. Das alles sah Bärbel und sah es doch nicht. Denn ihr Blick hing eigentlich nur an dem in der Sonne stehenden Apfelbaum drunten auf der Wiese. Da saß die Mutter am runden Holztisch, die Schürze voller Bohnen, die sie abfädelte.

Das Gebell des Hundes hatte sie aufmerksam gemacht. Sicher kam ein Fremder. Die Nachmittagssonne blendete, aber – – – die Bohnen flogen plötzlich ins Gras, und die Mutter eilte der Ankommenden, so schnell es bergauf gehen wollte, entgegen.

»Nu Bärbel – nu Mädel, nu kommste ooch mal wieder heime?« Harte Hände strichen liebevoll über Bärbels Wangen. »Nu Mädel, a bissel elend schauste halt immer noch aus. Aber die gutte Luft hier und die fette Ziegenmilch, daheime im Rosenhäusel wirste dich balde erholen. Nu so räde doch auch amal, Bärbele, haste denn halt das Sprechen verlernt da draußen in der Fremde – ja was haste denn, Mädel – nu Bärbele, was tuste denn asu weinen?« Die um einen Kopf kleinere Frau umfing die Tochter in mütterlicher Zärtlichkeit und klopfte ihr beruhigend den Rücken. Der Dackel stand von weitem und schaute, den Kopf schief auf die Seite gelegt, zu den beiden hinüber. Er konnte sich kein rechtes Bild aus der Sache machen.

Bärbel nahm sich zusammen. »Es ist nur – ich bin immer noch etwas angegriffen und nervös von der Krankheit, Muttel, und – von allem andern.« Sie trocknete die Augen. Die Mutter hätte sie wohl kaum verstanden, daß die Ursache zu den Tränen die so lange nicht gehörte Anrede »Mädel« war.

»Nu jo jo, ihr vornähmen Leite, ihr mißt ja alle nervees sein. Frieher haste keene Nerven nä gekannt, Mädel. Nu, unser Herr Doktor, der Opitz-Hermännel, der wird sie dir schon kurieren. Der is dir ooch gar zu tichtig. Der hat dir zu tun, daß er ooch gar keenen balde mehr uffnähmen kann. Was wird er ooch sagen, unser Herr Doktor, daß und du bist nu endlich heimegemacht, Mädel! Alleweil tut er sprechen: Wenn und de Bärbel mecht nur erscht amal heimekommen, wir zwee, Muttel Kleinert, wir wollen se halt schon wieder auskurieren, das Mädel, gelt ja? Nu setz dich ooch, Bärbele, nä uff die harte Holzbank, hier im Korbstuhl da tuste halt weicher sitzen. Ich mach dir nur ganz schnelle a bissel Kaffee, a gutten Bohnenkaffee, oder mechste ooch lieber Milch, Bärbele?«

»Ja, Ziegenmilch, Muttel. Ziegenmilch wie früher.« Geschäftig eilte Mutter Kleinert davon.

Still, ganz still saß Bärbel unter dem von Sonnenstrahlen durchzitterten Apfelbaum. Putzerle hatte sich zu ihren Füßen ins Gras gestreckt. Damit erkannte er ihre Familienzugehörigkeit an. Ach, hier war's gut sein – dieser Heimatfrieden, der sie umfing . . . das sich Umsorgtfühlen von der Mutter, die früher nie Zeit für mütterliche Zärtlichkeiten gehabt. Das konnte sie in der schönsten Gegend der Schweiz, in keinem der eleganten Hotels haben.

Bald stand ein Becher Ziegenmilch, ein paar Schnitten derbes Landbrot mit frischer Butter auf dem Tisch unter dem Apfelbaum. Die Mutter und Putzerle schauten andächtig zu, ob es Bärbel auch mundete.

»Iß ooch, Mädel, tu ooch essen, das is dir halt das beste fier de Nerven.«

»So gut ist das Brot nirgends in der Welt als bei uns daheim, Muttel.«

»Du ißt halt wie a kleenes Kindel, nä wie a ausgewachsener Mensch. Bist wohl rechtschaffen miede von der langen Reise?«

»Es geht«, meinte Bärbel. »Von Zürich nach Berlin bin ich geflogen.«

»Was biste? Nu Mädel, das heißt halt Gott versuchen. Wenn und der liebe Herrgott hätt' gewullt, daß die Menschen fliegen, da hätt' er ihna halt Fliegel gegäben wie a Veegeln. Nu Bärbele, ich bin nur froh, daß de und de tust hier heil und gesund bei mir sitzen.« Mutter Kleinert betrachtete die Tochter, als sei sie einer großen Gefahr entronnen.

»Wo ist denn Fritzel?« erkundigte sich Bärbel.

»Er hat halt Geigenstunde heite. Da bleibt er ieber Tisch in Hirschberg drunten. Der Junge is dir ja ganz wild nach Musike, halt beinahe so arg wie eier Vatel und wie du.«

»Mit meiner Musik ist's zu Ende, Muttel.«

Mutter Kleinert war den Musikstudien der Tochter nie recht hold gewesen. Erst als Bärbel das Rosenhäusel dadurch erworben hatte, fühlte sie sich damit ausgesöhnt. Aber es klang solch ein weher Ton durch die Worte, daß die Mutter unwillkürlich nach Bärbels Hand griff. »Nu Bärbel, die Hauptsache is doch halt, daß und de bist wieder gesund. Und wenn de ooch deine Stellung in Berlin verlieren tust, mer haben doch jetze genug zu läben. Da brauchste dir halt keene Sorgen nä mähr zu machen. A paar Stuben kennen mer ooch noch vermieten. Der Herr Doktor tut ja jetze im neien Hause drieben wohnen. Und Arbeet findste daheeme ooch. Mießig zu gähen brauchste nä, Bärbel. Ich kann su nä mähr rechte fort.«

»Gewiß, Muttel, ich helfe dir wieder.« Trotzdem die Mutter in ihrer einfachen Art der Tochter Leid nicht begriff, empfand Bärbel den mütterlichen Zuspruch wohltuend. »Ich möchte wohl mal hinübergehen ins Erholungsheim und mich beim Hermann Opitz melden. Bin ja noch halbe Patientin.«

»Nu, so gäh ooch, Mädel, nu, was wird der sich ooch freien, daß de wieder daheime bist. Ich richt' dir halt derweile deine Stuben.« –

Hermann Opitz hatte die dem Rosenhäusel benachbarte große Berghalde als Terrain für sein Erholungsheim erworben. Sie stieg bis zum Walde hinauf und mündete unten in das Birkenwäldchen am Bach. Nach Süden mit dem Blick auf das Gebirge waren offene Liegehallen gebaut. Geschmackvolle gärtnerische Anlagen zogen sich von der Straße bis zum Hause hinauf.

Bärbel stieg die Stufen zum Hauptgebäude empor und klopfte an die Tür des Anmeldezimmers. Eine Schwester öffnete.

»Ist Herr Doktor Opitz zu sprechen?«

»Ich werde gleich mal nachschauen. Wen darf ich melden?«

»Eine Jugendbekannte.«

Nach kurzer Zeit kehrte die Schwester zurück. Herr Doktor ließe bitten. Sie öffnete eine Tür im Parterregeschoß. »Wartezimmer«, stand daran. Bärbel sah sich in dem hellen, mit Korbmöbeln und Blattpflanzen eingerichteten Zimmer um. Sie hatte in letzter Zeit in so manchem ärztlichen Wartezimmer sitzen müssen. Was wollte bloß das dumme Herzklopfen? Sie hatte ja in Basel schon von dem Professor ihr Urteil vernommen.

Die Tür zum Ordinationszimmer öffnete sich. Im weißen Kittel trat der Doktor an die Schwelle. »Darf ich bi– – Bärbel, du? Du läßt dich so feierlich bei mir anmelden? Willkommen, von Herzen willkommen in der Heimat!« Beide Hände Bärbels ergriff Hermann voller Freude.

»Ich komme als Patientin zu dir, Hermann.«

»Sprechstunde ist später. Erst muß ich Wiedersehen mit der Jugendfreundin feiern. Wie schön, Bärbel, daß du endlich mal wieder heimkommst.«

»Flügellahm kehre ich ins Nest zurück«, meinte Bärbel leise.

»Daheim wird alles wieder gut, Bärbel.« Ein prüfender Blick des Arztes überflog das bleiche Gesicht, die matten Augen der Vorihmstehenden – das war nicht mehr die strahlende Bärbel von früher. Da galt es seelisches Leid zu heilen.

»Gut – es kann nicht wieder gut werden, Hermann. Ich war bei Professor Röhl in Basel. Er hat mir das Todesurteil gesprochen.«

»Was hat er – – –?« fragte Hermann erschreckt.

»Meiner Kunst vielmehr – es ist aus damit. Die Stimme wird niemals wieder ihre frühere Kraft und Tragweite zurückerlangen.« Sie sprach ganz ruhig. Aber Hermann hörte die tiefe Erregung aus den Worten.

»Bärbel, wenn du körperlich und seelisch frischer bist, erstarkt auch deine Stimme wieder. Du mußt Vertrauen haben, vor allem zu dir selbst – – –.«

»Das habe ich verloren. Was nütze ich noch in der Welt?«

»Es gibt doch noch andere Wirkungskreise als die Bühne. Du bist jung und tatkräftig. Du mußt wieder arbeitsfreudig werden.«

»Ich will es versuchen, aber es ist schwer, sehr schwer für mich.«

»Ich helfe dir, Bärbel, dann wird dir's schon leichter werden. Komm, jetzt zeige ich dir unser Heim, du hast es damals nur im Rohbau gesehen.«

»Und die ärztliche Untersuchung?«

»Hat Zeit bis morgen. Erst sollst du mal nach der Reise eine Nacht im Rosenhäusel schlafen. Sollst sehen, Bärbel, eine gute Nachtruhe daheim, die tut Wunder.« Es ging etwas ungemein Beruhigendes und gleichzeitig Erfrischendes von dem Freunde aus. Bärbel hatte das Gefühl: Hier bist du in guter Hut.

»Dies hier ist das Ordinationszimmer, wo ich meine Sprechstunden abhalte. Die Fenster gehen nach dem Rosenhäusel hinaus. Wie malerisch es in seinem feuerroten Rosenschmuck da unten liegt. Bärbel, es muß doch ein beglückendes Gefühl für dich sein, wenn du auf deinen Besitz hinabschaust und dir sagst: Das habe ich mir durch eigene Kraft geschaffen. Und mein Lebenswerk hast du auch mit aufbauen helfen – – –.«

»Ach, Hermann, rede doch nicht davon. Das ist alles mal gewesen – jetzt kann ich mir selber nicht mehr helfen.«

»Wie gefällt dir die Einrichtung hier, Bärbel?« lenkte Doktor Opitz zu einem andern Gesprächsthema über. »In den Lederklubmöbeln sitzt es sich bequem. Die Bibliothek umfaßt nur medizinische Bücher. Im Gesellschaftszimmer steht die eigentliche Literatur, falls du dir wie früher wieder Bücher von mir leihen willst. Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit bis zur Abendvisite. Die gehört dir. Komm weiter ins Untersuchungszimmer. Daran schließt sich das Röntgenlaboratorium.« Von Raum zu Raum führte Hermann die Freundin. Mit stolzer Befriedigung zeigte er ihr das ganze Heim mit seinen praktischen und geschmackvollen Einrichtungen. So neu, so sauber und so anheimelnd alles. Mit fast jungenhafter Freude machte Hermann Bärbel auf besonders zweckentsprechende Dinge aufmerksam. Die Zimmer waren alle besetzt. Sogar einen Assistenten brauchte er schon.

Nette, freundliche Schwestern gingen vorüber. In den Liegehallen und draußen im Garten überall Patienten, die den beliebten Arzt freudig begrüßten.

»Dieser Seitenflügel ist für unbemittelte Patienten vorgesehen. Ich will einem jeden, ob reich, ob arm, beistehen.«

»Ich habe mir den Betrieb nicht so groß vorgestellt. Eine Musterwirtschaft scheint es zu sein, alles aufs beste geordnet«, äußerte sich Bärbel anerkennend. »Du mußt eine tüchtige Wirtin haben.«

»Ja, Frau Schäfer hat sich gut eingearbeitet. Aber sie ist nur Wirtin. Zum Herbst muß ich mich nach einer Gesellschaftsdame umsehen, welche in netter Weise sich der Patienten annimmt, an die sie sich mit allem, was sie auf dem Herzen haben, wenden können. Die für gute Laune bei den Mahlzeiten sorgt, die Unterhaltung leitet, musiziert und auch mal ein Spiel oder einen Ausflug vorschlägt. Kurz, welche die Seele des Ganzen ist. Ich habe bisher noch nicht das Richtige finden können. Sympathisch soll sie sein, gesellschaftliche Talente haben und möglichst auch noch die Bücher führen.«

»Ein bißchen viel verlangt«, meinte Bärbel lächelnd.

Hermann sah sie von der Seite an. So, mit dem wenn auch etwas müden Lächeln, das war doch wenigstens schon wieder ein Anflug von der früheren Bärbel.

Sie wanderten miteinander durch den Garten. Allenthalben lauschige Ruheplätzchen, Aussichtsbänke, bequeme Liegestühle. Drunten beim Birkenwäldchen führte ein Holzbrücklein über den Bach. Dort stieß Hermanns Besitztum an den zum Rosenhäusel gehörigen Grund und Boden.

»Also auf gute Nachbarschaft, Bärbel, wie früher!« sagte Hermann, am rauschenden Bach sich verabschiedend.

»Wie früher«, wiederholte Bärbel, und es war ihr eine Sekunde lang, als wäre sie noch das junge, muntere Ding und Hermann der Gymnasiast mit der bunten Mütze.

Fritzel kam der Schwester freudig aufgeregt entgegen. Er war tüchtig in die Höhe geschossen, ein netter, frischer Junge mit offenen Zügen.

»Jetzt bleibste für immer im Rosenhäusel, gelt? Da kannste mich zur Geige begleiten. Mein Hirschberger Musiklehrer ist sehr zufrieden mit mir.«

»Und im Gymnasium, wie schaut's da aus, Fritzel?«

»'s geht halt auch. Seit Ostern bin ich in der Sekunda. Ich will halt Doktor werden wie der Hermann Opitz. Gelt, ich darf, Bärbel? Der Hermann hat mir schon versprochen, daß er mich mal zu seinem Assistenten macht.«

Bärbel lachte. Wirklich und wahrhaftig sie lachte und hatte doch seit der Krankheit kaum noch gelächelt. »Erst das Abiturium, Fritzel, dann sprechen wir weiter.«

Unter dem Apfelbaum hatte die Mutter das Abendessen gerichtet. Wieviel besser mundeten Bärbel die frischen Eier und die Erdbeermilch mit den kernigen Schwarzbrotschnitten als die vielen Gänge in den Schweizer Hotels. Heu und Rosen dufteten betäubend. Vögel flatterten zum Nest. Grillen zirpten leise im Gras.

»Hier ist Gottesfrieden«, sagte Bärbel mit tiefem Atemzuge. Dann stand sie noch lange auf dem Balkon ihres Mansardenstübchens, blickte zu den erleuchteten Koppenhäusern hinauf, zu dem mit Milliarden Sternen funkelnden samtblauen Nachthimmel. Im Birkenwäldchen schlug eine Nachtigall. Fest und traumlos schlief Bärbel die erste Nacht daheim.

Am andern Tage fand die ärztliche Untersuchung im Erholungsheim statt.

»Dir fehlt nichts mehr«, stellte der Doktor sachlich fest. »Du siehst heute viel frischer aus als gestern.«

»Aber meine Schlappheit und die Unlust und die so schnelle Ermüdung der Stimme«, wandte Bärbel ein.

»Alles Folgen der nicht mit Energie bekämpften Nerven. Gehe viel spazieren, trinke frische Milch und arbeite.«

»Arbeiten?« Bärbel lächelte. Aber es war kein frohes Lächeln. »Soll ich den Kühen hier Gesangstunde geben? Die paar Handreichungen, die ich der Mutter abnehme, das ist keine Arbeit. Und zum Ziegenmelken und Rübenhacken bin ich nicht mehr recht geeignet.«

»Wär' vielleicht noch gar nicht so schlecht für dich, Bärbel. Aber ich will solche anstrengende Kur nicht mit dir machen. Arbeit hätte ich hier im Sanatorium schon für dich. Kannst dich jeden Tag nach deiner Morgenpromenade bei mir einfinden. Ich brauche einen intelligenten Menschen, der die Krankenberichte schreibt und meine Patientenkartothek führt. Du würdest mir halt einen Gefallen tun, wenn du das übernehmen möchtest.«

»Gern, falls ich nicht zu dumm dazu bin. Aber wann soll ich Liegekur machen und Diathermie des Kehlkopfes?«

»Gar nicht, dir fehlt nichts mehr. Du bist gesund. Es hilft nichts, Bärbel, du mußt dich an den Gedanken gewöhnen«, setzte der Arzt lachend hinzu. »Und nun wollen wir gleich mit der Arbeit beginnen. Ich weihe dich in die Mysterien meiner Praxis ein.«

Er wies ihr die Bücher, in denen er seine Einzeichnungen machte, die vielen Karten der Kartothek, in der eine jede eine Patientenmerktafel bedeutete. Nach kurzer Zeit hatte Bärbel begriffen, worauf es ankam.

Sie saß am weitgeöffneten Fenster bei ihrer Arbeit, ließ manchmal das Auge hinausschweifen zum dunstblauen Schmiedeberger Kamm. Auch zum Rosenhäusel irrte der Blick wohl mal ab. Dann lächelte Bärbel vor sich hin. Draußen in den Hallen, im Garten und Wäldchen machten die Patienten Liegekur. Sie war gesund, sie konnte arbeiten. Bärbel wußte nicht, wo die Zeit geblieben, als das Gong zur Mittagsmahlzeit durch das Sanatorium dröhnte. Sonst wollten doch die Tage überhaupt nicht vergehen.

Die Mutter mit ihren kleinen häuslichen Freuden und Sorgen, Fritzel mit seinen Schulerlebnissen würzten ihr das einfache Mittagsmahl. Dann schlief sie unten auf der Wiese im Heu. Am Nachmittag folgte ein tüchtiger Marsch ins Gebirge mit Fritzel und Putzerle.

Die Riesengebirgsluft mußte wirklich Wunder tun. Nach vier Wochen war Bärbel nicht mehr zum Wiedererkennen. Die blassen Wangen hatten sich gerötet, die matten Augen strahlten wieder auf. Vormittags arbeitete sie regelmäßig im Erholungsheim. Aber auch abends war sie meistens drüben und an Regentagen. Sie sah, wie jeder dort irgendein Leiden hatte und trotzdem fröhlich und guter Dinge war. Sie nahm teil an der Unterhaltung, an den gemeinsamen Ausflügen, an den Gesellschaftsspielen des Abends – und merkte es gar nicht, daß sie allmählich der Mittelpunkt des Kreises wurde. Es kam ihr kaum zum Bewußtsein, daß sie lachte und scherzte wie früher. Aber der Doktor beobachtete unauffällig, wie seine Kur anschlug, und er war sehr glücklich über den Erfolg.

Wohl hatte Bärbel es ihm zur Pflicht gemacht, daß keiner erfuhr, daß sie die einstige Sängerin von der Berliner Oper sei. Aber der ganze Ort war stolz auf das Wolfshauer Kind, das so berühmt geworden da draußen in der Welt. Kam einer zum Schuster Hensel, seine Stiefel benageln zu lassen, so wurde ihm unweigerlich die Geschichte des Rosenhäusels mit aufgetischt. Die Barbiere in Krummhübel – denn Wolfshau hatte es noch immer nicht so weit gebracht – bestritten damit ihre Gespräche, wenn das Wetter nicht mehr genug Stoff hergab. »Unsere Sängerin«, tuschelte es hinter Bärbel her, wenn sie freundlich grüßend an den Dorfhäusern vorüberschritt. »Für die Heimat hat sie halt ihre Stimme geopfert, um den armen Überschwemmten zu helfen.«

Da war es kein Wunder, daß man auch im Sanatorium Bescheid wußte. Besonders, da dieser oder jener der Patienten Bärbel von der Bühne her kannte.

An einem Abend saß man bei Pfänderspielen nach dem Abendessen im Gesellschaftszimmer des Erholungsheims beisammen. Es ging angeregt und lustig zu. Bärbel hielt die auszulösenden Pfänder in der Hand. Da griff sie nach einem Täschchen, das ihr selbst gehörte. »Was soll der tun, dessen Pfand ich habe in meiner Hand?«

»Ein Lied singen«, verlangte einer.

Bärbel erschrak. »Nein, das ist unmöglich. Ich kann nicht singen. Bitte um eine andere Buße.«

Aber die ausgelassene Gesellschaft umringte sie: »Sie müssen singen, Fräulein Kleinert. Jeder muß sich dem Urteil fügen.«

»Sperr' dich nicht, Bärbel«, meinte auch Hermann Opitz. »Es wird schon gehen.« Und da saß er bereits am Klavier und stimmte das Schubertsche Lied »Am Brunnen vor dem Tore« an.

Etwas zaghaft klangen die ersten Töne, wie ein Vogel, der seine Schwingen erst prüft, dann aber sich aufschwingt zu den Höhen. Ja, war denn das noch eine leidende Stimme? Vielleicht nicht ganz so umfangreich, nicht so gewaltig im Klang wie früher, aber edel und glockenklar ertönte die schlichte Weise. Atemlos lauschten die Zuhörer. Keiner dachte daran zu klatschen, als Bärbel geendet hatte. Schweigend ließ ein jeder das Lied in sich verklingen.

Hermann reichte der Freundin bewegt die Hand: »So schön hast du noch nie gesungen, Bärbel.« Nicht der lauteste Begeisterungsbeifall der Menge hatte Bärbel je so froh gemacht wie die Worte des Freundes.

Von diesem Tage an sang sie wieder öfters. Auf den Spaziergängen, bei der Gartenarbeit, aber auch des Abends zu Hermanns Begleitung, wenn er sie darum bat. Mit der wiederkehrenden körperlichen Frische hatte sich auch die Stimme wieder erholt.

»Du hast halt eine Wunderkur an mir gemacht, Hermann«, sagte Bärbel eines Nachmittags dankbar bei einem Spaziergange in den Eulengrund.

»Das Wunder hab' nicht ich vollbracht, sondern die Heimat, Bärbel«, lehnte Hermann ab. »Du bist hier bodenständig, fest im Riesengebirge verwurzelt. Aus dem Heimatboden hast du neue Kräfte gezogen.«

»Unsere Großmuttel hätte gesagt: Der Herr Rübezahl kann doch noch Wunder tun«, meinte Bärbel lächelnd.

Riesenblätter von Huflattich füllten die schmale Schlucht. Dazwischen blinzelte mit tiefblauen Augen der erste Enzian.

»Es wird schon Herbst.« Bärbel wies auf die blauen Herbstboten.

»Die Septembertage sind halt die schönsten hier im Gebirge, Bärbel.«

»Hermann!« Bärbel nahm einen Anlauf zu dieser Unterredung, die ihr schon längere Zeit am Herzen lag. »Glaubst du, daß ich es wagen kann, als Konzertsängerin und Gesanglehrerin nach Berlin zurückzukehren?«

Sichtlich betroffen blieb Hermann Opitz stehen. Also war sie doch noch nicht mit der Heimat verwachsen. Gehörte ihr Leben immer noch der Kunst?

»Bei vorsichtiger Behandlung spricht nichts dagegen. Als Konzertsängerin brauchst du ja nicht jeden Abend aufzutreten.« Dann verstummte er.

Auch Bärbel schwieg. Ihre Augen von der Farbe des Enzians verschleierten sich. So leicht ließ er sie wieder davonziehen?

»Einen Wirkungskreis muß ich haben«, begann Bärbel nach einem Weilchen stummen Beieinanders. »Ich habe hier erst erkannt, welch ein Segen die Arbeit bedeutet.«

»Und bei uns kannst du den Wirkungskreis nicht finden? Es lockt dich wieder hinaus zu Kerzenglanz und dem Beifall der Menge? Ist dir halt doch wohl zu eng die Heimat?« Er stieß die Eisenspitze seines Stockes klirrend gegen einen Felsstein.

»Nein, Hermann, das ist es nicht. Aber du hast davon gesprochen, daß du zum Herbst eine Gesellschaftsdame für das Erholungsheim engagieren willst.«

»Hatte auch bereits eine in Aussicht, die alle meine Wünsche erfüllen würde. Aber sie scheint ja nicht zu wollen – –.« Verstand Bärbel ihn denn nicht?

»Dann werde ich bei deinen Büchern überflüssig.« Traurig klang's.

»Aber nicht für mich«, wollte Hermann rufen. Doch er zwang es nieder, was sich ihm vom Herzen auf die Lippen drängte. Er war seiner Sache noch nicht sicher. Würde ihr der enge Kreis auf die Dauer genügen? –

Rübezahl, der Geist des Gebirges, der so manchen genarrt, aber auch viele glücklich gemacht hat, nahm sich der beiden Riesengebirgskinder an. Mitten in den blauen Enzian streute er es feuerrot und – – – »Habmichlieb, Bärbel!« rief Hermann. Zu gleicher Zeit bückten sie sich, ihre Hände fanden sich über den brennend roten Blütenherzen. Und was sich beim Habmichliebpflücken findet, das kann nimmermehr voneinander lassen. – – – – – – – –


Von weit und breit kehren die Patienten in das Opitzsche Erholungsheim ein. Es ist nicht nur die Kunst des Arztes und die schöne Gebirgslage, was sie dorthin zieht. Frau Bärbel versteht es vor allem, es den Gästen, ob reich, ob arm, dort heimisch zu machen. Sie ist die Seele des Hauses.

Unter dem Apfelbaum des Rosenhäusels liegt im Sonnenschein ein strampelndes Etwas mit enzianblauen Augen. Der glückliche Vater findet, daß sein Töchterchen eine noch bessere Stimme habe als seine Frau.

Was die Heimat Bärbel einst genommen, hat sie ihr reichlich zurückgegeben.

 


 


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