Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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7. Kapitel.

Weihnachten in den Bergen

Vater Kleinerts Hoffnung trog nicht. Eines Morgens kurz vor Weihnachten hatte Rübezahl seinen Bergen, den Wäldern und Tälern die weiße Schneemütze übergestülpt. Weiß, schlohweiß alles, wohin der Blick schweifte. Das Rosenhäusel lag tief vergraben in den weißen Schneebetten. Die hohen Bergtannen standen wie Riesenschneemänner unter gewaltiger Schneelast gebeugt. Und immer noch schneite es, Tag und Nacht, im lustigen Flockenwirbel.

Heißa, lustig ging es jetzt auch in den kleinen Dorfhäusern zu. Da wurden die Schneeschuhe und Rodel vorgeholt. Schon in die Schule ging es auf Schneeschuhen, den Ranzen auf dem Rücken. Selbst Fritzel, das Nestküken aus dem Rosenhäusel, rutschte bereits auf Holzschuhen, die länger waren als der Dreikäsehoch selber, auf der sanft abfallenden Wiese umher. Mohrle war das einzige Schwarze in dem endlosen Weiß. Die Wangen der Dorfkinder glühten jetzt, wenn sie in die Schule kamen, meistens waren schon vorher Schneeballschlachten ausgefochten, der norwegische Skisprung geübt oder gar vom Berghang schnell noch einmal heruntergerodelt worden. Mit klarem Auge, klarem Kopf arbeitete es sich dann nochmal so gut.

Bärbel hätte sich jetzt am liebsten zerteilt. Daheim wurden die Stuben für die Weihnachtsgäste hergerichtet, da mußte sie ganz selbstverständlich mit Hand anlegen. Das ging der Mutter vor allen Schularbeiten. Bärbel aber in ihrer Pflichttreue vermochte nicht unvorbereitet in die Klasse zu gehen. Da saß sie oft, wenn die andern schon schliefen, bei ihren Aufgaben, bis auch ihr die Augen zufielen.

Der Briefträger, der mit seinem Ledersack vom Postamt nach Wolfshau hinabgerodelt kam, brachte einen Brief ins Rosenhäusel – Königs meldeten sich für die Weihnachtsferien an. Wie gut, daß man noch nicht vermietet hatte. Heller Jubel herrschte im Rosenhäusel bei den Kindern über die Anmeldung der Sommerfreunde. Bärbel und Karl brachten auf ihren Schlitten einen ganzen Wald von Tannenzweigen mit heim, die Stuben der lieben Gäste weihnachtlich zu schmücken. Vater Kleinert schlug eine allerliebste Weihnachtstanne, Mutter Kleinert rührte die Christbabe und die Rosinenstollen und stellte die Mohnklöße an. Die Großmuttel aber saß in all der geschäftigen Unruhe mit ihrer Miezel am warmen Herd und ließ die Stricknadeln fleißig klappern. Strümpfe und Schneesocken, dickwollene Fausthandschuhe, Schals und warme Mützen entstanden unter ihren geschulten dürren Fingern. Nicht nur für Kinder und Enkel regte die alte Frau emsig die Hände. Auch die Geschäfte in Krummhübel und Brückenberg nahmen gern die gut gearbeiteten Wollsachen ab. Denn die Fremden kamen oft zum Gotterbarmen leichtsinnig mit dünnen Sachen ins Gebirge. Die ahnten oft nichts von dem Eishauch des Herrn Rübezahl auf seinen Winterbergen.

Am Heiligabend hatte das Schneetreiben ausgetobt. Goldener Sonnenglanz lag auf Bergfirnen und schlohweißen Halden. Tiefblauer Frosthimmel überspannte das festliche Tal. Am Bahnhof Schlitten neben Schlitten; lustig bimmelten die mit Glöckchen behangenen Pferde. Vater Kleinert hielt mit seinem gelben Stuhlschlitten, der vorn hörnerartige Deichseln hatte, bei den übrigen Hörnerschlittlern. Ja, wenn man jetzt ein Pferd zum Vorspannen gehabt hätte!

Die Pferdehörnerschlitten wurden von den ankommenden Fremden bevorzugt. Bärbel und Karl waren ebenfalls mit ihren Rodeln zur Stelle. In dem Weihnachtsgewühl am Bahnhof durften sie nicht fehlen. Auch mußten Königs feierlich eingeholt werden. Das gab heute noch ein ärgeres Durcheinander, als das Zügel sich endlich durch den hohen Schnee hinaufgearbeitet hatte, wie im Sommer. Mit den Sportgeräten, welche die meisten Gäste mit sich führten, spießten sie sich bald gegenseitig auf. Wehe dem Armen, der, ohne vorher Logis zu bestellen, seine Schritte hierhergelenkt hatte. Es gab in Brückenberg, Krummhübel und Wolfshau kein unvermietetes Stübchen mehr. In den Hotels und Pensionen waren sogar die Badezimmer von Gästen belegt. Auch die Bauden droben auf dem Kamm waren über und über von Skiläufern besetzt. In langer Reihe fuhren die gelben Hörnerschlitten die bis über die Nase Vermummten hinauf zu den Bauden. Vater Kleinert beförderte mit seinem Hörnerschlitten Gepäck zur Hampelbaude. Es konnte spät werden, bis er heimkehrte.

Das gab ein freudiges Wiedersehen mit Königs. Gerda und Lilli sahen wie Buben in ihren dunkelblauen Trainingsanzügen aus. Dabei konnten sie noch gar nicht Schneeschuh laufen.

Durch den stillen Weihnachtswald klangen melodisch die Schlittenglöckchen, glitten die Rodel mit lautem Ruf: »Achtung!«, zogen die Schneeschuhläufer ihre schmale Spur.

»So schön habe ich mir unser liebes Tal im Winter doch nicht vorgestellt«, sagte Frau König voller Begeisterung, die jetzt in glühroter Abendsonne sich rosenrot färbenden Schneegipfel betrachtend. »Es ist märchenhaft schön.«

»Gelt ja?« fiel Bärbel erfreut ein. »Im Winter ist's halt noch viel schöner bei uns als im Sommer. Wie freue ich mich, daß ihr euer Versprechen wahrgemacht habt und wirklich zu Weihnachten gekommen seid.« Von rechts und links ärmelte sie die Freundinnen unter. Und das war gut. Denn die beiden hatten noch unbenagelte Stiefel und rutschten auf dem glattgefahrenen Abstieg bei jedem Schritt. Karl, der das Gepäck vor sich auf den Rodelschlitten geladen hatte, glitt pfeilgeschwind dahin. Bald war er den Blicken entschwunden.

»Wie sieht denn das Rosenhäusel jetzt im Winter aus?« erkundigte sich der Studienrat. »Ich kann es mir ohne Rosenschmuck kaum vorstellen.«

»Da blühn halt jetzt die weißen Christrosen«, scherzte Bärbel.

»Und wie schaut's sonst im Rosenhäusel aus?« erkundigte sich Frau König.

Ja, die Großmuttel, die hätte es jetzt im Winter arg auf der Brust, und die Muttel, nun, die sei so rührig wie stets. Der Vatel habe das Pferdel noch immer nicht kaufen können, man hoffe halt auf das nächste Jahr. Wo denn Mohrle stecke? Ei, der ginge dem Vater jetzt nicht von der Seite. Zur Hampelbaude sei er mit 'nauf, als ob das gute Viechel wisse, daß das Wintergebirge ernste Gefahren berge. »Mir ist's immer eine Beruhigung, wenn ich das treue Hundel beim Vatel weiß«, schloß Bärbel ihren Bericht.

»Und du selbst, Bärbel? Wie geht es dir im Lyzeum? Kommst du gut mit? Gefällt es dir dort?« erkundigten sich die jungen Mädchen.

»Nu, es hapert noch a bissel«, meinte Bärbel ehrlich. »Französisch ist halt gar zu schwer. Und – und – manche von den Mädeln sehen mich halt über die Achsel an.«

»Die sind wohl nicht recht bei Troste«, ereiferte sich Gerda.

»Wir üben jetzt in den Ferien mit dir Französisch, Bärbel, dann werden sie schon Respekt vor dir bekommen«, versprach Lilli gutmütig.

»Das sagt der Opitz Hermännel auch immer«, bestätigte Bärbel.

»Wie geht's im Lehrerhaus, Kind?« wollte der Studienrat wissen.

»Man sieht sich jetzt im Winter halt selten nur. Der Hermännel hat arg viel zu arbeiten. Aber am Sonnabend darf ich doch immer zu ihm zur Klavierstunde kommen.«

»Ja, er ist ein recht begabter Junge«, meinte Herr König.

»Er ist auch der beste Schneeschuhläufer. Sicher gewinnt er beim Jugendwettspringen wieder einen Preis«, fiel Bärbel, stolz auf den Freund, ein.

»Jugendwettspringen – wann ist das? Sind wir dann noch hier? Am 4. Januar beginnt die Schule wieder«, riefen die Schwestern interessiert.

»Ich denke schon, daß sie's zu Neujahr machen werden, weil der Schnee gerade gut ist«, überlegte Bärbel.

Frau König sprach wenig. Die kam sich wie verzaubert in diesem stillen Winterreich vor. Die gewaltigen Bergföhren in ihren Schneepelzen, die weißen Häuslein, die in die weiten Schneehalden verstreut waren, aus denen schon ab und zu ein Licht aufblitzte, und dazu die Feiertagsstimmung des sich leise herabsenkenden Heiligabend – so andächtig hatte sie noch nie das Nahen des Weihnachtsabends empfunden.

»Unser Herrgott hat seine Festtafel bereits gedeckt«, meinte sie schließlich, sinnend auf das festliche Weiß ringsum schauend.

»Bekommt ihr heute abend auch beschert?« fragte Lilli. »Wir kriegen diesmal nichts. Die Reise und unsere Sportanzüge – weiter haben wir uns nichts gewünscht«, erzählte Gerda.

»Das ist auch allermeist genug für den Geldbeutel eines Lehrers«, lachte der Studienrat.

»Wir gehen heute abend zur Kirche in die Christnacht. Ich sing halt wieder. Bescherung gibt's dieses Jahr nicht. Wir wollen froh sein, wenn wir so durch den Winter kommen«, meinte Bärbel, über ihre Jahre verständig.

Das Rosenhäusel blinzelte mit traulichem Lichtschein durch die Ritzen der grünen Fensterladen in den Schnee hinaus.

»Wie das Zuckerhäusel aus ›Hänsel und Gretel‹ schaut es aus«, stellte Lilli fest.

»Da ist unser lieber Apfelbaum auf der Wiese, in dessen Schatten wir immer gefrühstückt haben. Jetzt muß der arme Kerl frieren.« Frau König hielt in stiller Wiedersehensfreude Umschau.

Die Kinder waren bereits ins Haus gestürmt. Es roch weihnachtlich nach Tannen und frischgebackenem Kuchen.

»Bitte den Schnee abtreten«, erinnerte Bärbel fürsorglich. »Flur und Stuben sind zum Fest frisch gescheuert.«

Da hatte auch die Lilli schon die mauzende Miezel auf dem Arm und die Gerda den strampelnden Fritzel. Indessen begrüßten Herr und Frau König die Großmuttel und Frau Kleinert freudig. Das Rotkehlchen schmetterte seinen Willkomm dazwischen, als ob es Frühling wäre.

Königs fühlten sich wieder ganz zu Hause in den niedrigen Stübchen mit den weißgescheuerten Holzdielen und dem großen braunen Kachelofen, der im Sommer immer im Wege gewesen war, jetzt aber den Ehrenplatz einnahm. Lustig knackte das Fichtenholz im Ofen; urgemütlich war's.

Gegen Abend zogen sie alle zur Christnacht in die Krummhübler Kirche.

»Vom Himmel hoch da komm ich her« – Bärbels Stimme schwang sich jauchzend aus dem Kinderchor heraus.

»Als ob die Engel im Himmel jubilieren«, sagte Frau König zu ihrem Manne.

Festesandacht im Herzen, machte man sich auf den Heimweg durch feierlich schweigenden Winterwald. Droben am samtdunkeln Firmament hatten die Englein bereits den himmlischen Weihnachtsbaum entzündet. Mit Tausenden von Sternlichtern blitzte und funkelte er über dem weißen Bergtal.

Das Rosenhäusel empfing die Heimkehrenden warm und wohlig. Auch dort brannte die kleine Weihnachtstanne. Der Vater, der inzwischen aus den Bergen zurück war, hatte sie mit Wachskerzen besteckt. In seiner anspruchslosen Schlichtheit war das Bäumchen der Abglanz der bescheidenen Familie. Dann gab es doch noch eine Bescherung. Königs bauten für ihre lieben Wirtsleute auf dem weißgescheuerten Tisch ihre Gaben auf. Da strich die Großmuttel mit scheuen Fingern über die schwarzseidene Sonntagsschürze, Vater Kleinert probierte schmunzelnd die warme Pelzmütze auf. Oh, die würde gut tun bei dem eisigen Sturm, wenn er seinen Hörnerschlitten in sausender Fahrt zu Tale steuerte. Mutter Kleinert bewunderte die hübsche Kaffeedecke, Karl probierte seinen Tuschkasten sogleich an Miezels Fell. Friedel sang ihr Püppchen in den Schlaf, und Fritzel trompetete, daß er Tote hätte erwecken können. Selbst Mohrle wurde nicht vergessen. Er beschnupperte sachverständig seine Weihnachtswurst, ehe er sie mit plötzlichem Entschluß in den Magen spazieren ließ.

Ganz still saß Bärbel. Sie vergaß sogar zu danken. In wortloser Seligkeit blickte sie auf die Bücher vor sich: Schillers Gedichte und Dramen, vier stattliche Bände. Aber das war noch nicht alles. Ein Liederbuch, eine Ausgabe von Volksliedern, war auch noch dabei.

»Damit du uns recht oft durch deinen Gesang erfreuen kannst, Bärbel«, meinte Frau König, das stumme Glück des Mädchens lächelnd beobachtend.

»Noten sind auch dazu, Bärbel, da kannst du dich auf dem Opitzschen Klavier selbst begleiten«, erklärte Gerda.

War das eine Freude im Rosenhäusel. Auch Kleinerts bescherten ihren Gästen; denn die braven Menschen mochten nicht annehmen, ohne zu geben. Vater Kleinert holte für die beiden jungen Fräulein selbstgeschnitzte Skier herbei. Nur die Bindungen mußten sie sich beim Sattler dazu beschaffen. Er versprach den Lehrmeister zu machen in der Kunst des Schneeschuhsports. Mutter Kleinert brachte einen selbstfabrizierten Koppenkäse auf schlesischem Bauernteller für ihre Gäste. Die Ziege hatte die Milch dazu geliefert. Auch die Großmuttel bedachte die Königschen Töchter mit warmen Schals, die sie gestrickt hatte. Bärbel war traurig, daß sie gar nichts zu geben hatte für die Breslauer Freunde.

»Du schenkst uns das Allerbeste, Kind«, tröstete Frau König, »du singst uns nachher ein schönes Weihnachtslied.«

Als die Mohnklöße verzehrt waren, stimmte Vater Kleinert seine Zither. Bald zogen aus dem verschneiten Rosenhäusel fromme Weisen hinaus in die frostklare Weihnachtsnacht.



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