Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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20. Kapitel.

Fern im Süden

Unter einer Pergola von blühenden Orangen- und Zitronenbäumen saß eine Dame. Sie schaute still auf den Gardasee hinaus mit Augen, die blauer waren als der tiefblaue See. Aber sie blickten nicht freudig, diese Augen. Irgendein verschleiertes Leid lag darüber.

Fischerboote segelten auf der samtblauen Wasserfläche dahin, Vergnügungsnachen schaukelten dazwischen. Langsam und majestätisch glitt der große Dampfer von Desenzano heran, weißen Wellengischt aufwirbelnd. Jetzt legte er in Gardone an. Der fuhr nordwärts – wer doch mit könnte!

Ein tiefer Seufzer folgte dem vorüberrauschenden Schiff. Nun wurde es bald ein Jahr, daß sie im Süden lebte, herausgerissen aus Kunst und Schaffen. Als Bärbel im April vorigen Jahres nach Meran fuhr, da hatte sie geglaubt, in wenigen Wochen ihre alte Frische und vor allem ihre volle Stimmkraft wieder zurückzuerlangen. Sie hatte sich getäuscht. Von Monat zu Monat hatte man sie vertröstet. Längst hatten die großen Meraner Hotels ihre Jalousien herabgelassen und geschlossen. Nur einige Lungenleidende, die schwarze Klappe wegen Staubgefahr vor dem Munde, waren die Gilftpromenade noch auf und ab gewandert. Hin und wieder Tiroler Sommerfrischler, die aus dem nahen Bozen herübergekommen. Siedehitze kochte im Vinschgau. Bärbel, an die Kühle ihrer Heimatsberge gewöhnt, wurde elender als sie gewesen. Da hatte der Meraner Arzt endlich ihren Bitten nachgegeben und sie ins Salzkammergut zur Kur nach Reichenhall geschickt. Dort war sie den ganzen Sommer geblieben. In den Gradierwerken hatte sie die feuchtsalzige Luft eingeatmet, Brunnen getrunken und inhaliert. Die Heiserkeit ihrer Stimme war besser geworden. Aber wenn sie längere Zeit sprach, ermüdete die Stimme. An Singen war gar nicht zu denken.

Bruder Karl, der recht gut in seinem Fach vorwärtskam, hatte die Schwester auf einer Fußtour durch Tirol besucht. Sie waren zusammen nach dem Königssee und nach Berchtesgaden gefahren. Aber rechte Freudigkeit war trotz der herrlichen Natur nicht in Bärbel aufgekommen. »Die Berge sind so gewaltig und fremd, nicht so lieb und vertraut wie daheim«, hatte sie dem Bruder, der voller Begeisterung die großartige Natur genoß, geklagt.

Zum Herbst hatte sie gehofft, wieder nach Berlin zurückkehren und ihre Tätigkeit im Opernhaus aufs neue aufnehmen zu können. Aber eine vorsichtige Stimmprobe zeigte ihr, daß die Stimme noch nicht wieder trug. Sie klang trotz behutsamster Behandlung dünn und brüchig. Bärbel ward durch diese Erkenntnis ins Innerste getroffen. Aus – alles aus! Zu Ende mit ihrer Künstlerlaufbahn. In tiefster Depression war Bärbel bei der Berliner Staatsoper um Entlassung eingekommen. Sie wurde ihr nicht bewilligt, sondern nur ein mehrmonatiger Urlaub. Sobald die Stimme wieder leistungsfähig war, konnte sie wieder eintreten. Eine erste Kraft, eine Barbara Kleinert, entließ man nicht so schnell.

Der sie in Reichenhall behandelnde Arzt hatte zu einem Winteraufenthalt in Gardone geraten. Nun weilte sie schon im fünften Monat auf diesem paradiesisch schönen Fleckchen Erde und – fühlte sich so unglücklich wie nie in ihrem Leben. Es wollte nicht vorwärtsgehen mit ihrer Gesundheit. Die weiche, warme Luft machte sie unfrisch. Die Heiserkeit war fast geschwunden. Doch sobald sie versuchte, irgendeine Arie auch nur mit halber Stimme zu singen, klang es matt. Und was das Schlimmste war, es strengte sie an. Das drückte sie seelisch so nieder, daß sie sich auch körperlich nicht erholte.

Die Menschen im Hotel kamen und gingen. Man sprach ein paar höfliche Worte miteinander und trennte sich wieder. Manche kannten die berühmte Sängerin aus ihrer Glanzzeit. Das war noch schlimmer. Die belästigten sie mit ihrer Neugier und ihren Aufmerksamkeiten. Da hatte sie nicht mal die Stille und Einsamkeit für sich.

Zu Weihnachten hatte sie sich Friedel kommen lassen. Die Schwester war mit ihren Studien fertig und hatte vorläufig Vertretungen als Gewerbeschullehrerin übernommen. Friedel war ein munteres, lebensfreudiges junges Ding, das gern scherzte, lachte und tanzte, aber auch seine Pflicht dabei tat. Nach vier Wochen hatte Bärbel sie wieder nach Breslau zurückgeschickt. Die unbekümmerte Heiterkeit der Schwester konnte sie jetzt nicht vertragen. Friedel war wie der ewig blaue Himmel hier – ach, einmal wieder sich von Wind und Sturm der Heimatsberge durchwehen lassen.

Bärbel blickte um sich. Da gab's Zitronen- und Apfelsinenbäume in berauschendem Blütenduft. Aber so zart und schön wie ihr Apfelbaum daheim im Rosenhäusel waren sie doch nicht. Kein deutscher Wald, keine Bergföhren rauschten – nur Weingärten, Palmen, Mandel- und Granatblüten ringsum. Die Berge, die den blauen See einrahmten, standen starr und fremd. Eine unsagbare Sehnsucht nach der nordischen Heimat erfaßte Bärbel inmitten der südländischen Schönheit. Leise klang es von ihren Lippen:

»Wo der Koppe Zinnen ragen
In die Lüfte stolz und kühn,
Wo sich flücht'ge Wolken jagen
Eilend an den Felsen hin,
Wo Habmichlieb und Enzian blühn,
Dahin, dahin möcht' ich ziehn.«

Sie griff in die Tasche und zog einen Heimatsbrief heraus. Er trug kein neues Datum. Der Brief schien oft gelesen zu sein. Von Hermann Opitz war er. Der Freund sprach ihr Mut zu. Solche Halsleiden seien oft hartnäckig. Sie müßten mit Geduld auskuriert werden. Bald würde sie wieder ihre Kunst ausüben können. Ob sie nicht zum Sommer heimkommen möchte ins Rosenhäusel. Vielleicht würde ihr die Wolfshauer Sonne gut tun. Liegekur und Diathermie könnte sie auch bei ihm haben. Mit der Frische des Körpers würde auch die Stimme wieder erstarken. Die Muttel und die Koppe ließen grüßen.

»Ja, ich will heim«, sagte Bärbel, den Brief zusammenfaltend, zu sich selbst. Aber jetzt war es noch zu früh. Im Riesengebirge lief man wohl noch Schneeschuh, während der Frühling hier längst schon aus allen Büschen lugte.

Einen Versuch mußte sie vorher noch machen. Den letzten. Sie wollte noch nach Basel zu Professor Röhl, einem weltberühmten Halsarzt, fahren. Von dessen Ausspruch sollte ihr Wohl und Wehe abhängen – ob sie ferner ihrer Kunst gehören durfte oder nicht.

Sie packte ihre Koffer und fuhr über die italienischen Seen durch den Gotthardtunnel in die Schweiz. Herzklopfend saß sie eines Tages im Wartezimmer des Baseler Professors. Wie würde sein Urteil ausfallen?

Eine bange Stunde verging. Der Professor spiegelte den Hals, machte Stimmversuche mit ihr.

»Der Befund ist günstig«, ließ er sich dann vernehmen. »Die leichte Heiserkeit, die noch vorhanden ist, wird allmählich schwinden. Natürlich weiter Schonung der Stimme.«

»Werde ich wieder öffentlich auftreten können, Herr Professor?«

»In absehbarer Zeit nicht. Die Stimme wird sich stärken, aber kaum wieder volle Klangfülle erlangen. Der Ruhm einer Barbara Kleinert sollte nicht durch unvollkommene Leistungen eingeschränkt werden.«

Das war ein ehrliches Urteil, wenn es auch für ihre Kunst das Todesurteil bedeutete. Zum zweitenmal kam Bärbel um ihre Entlassung von der Berliner Oper ein. Diesmal wurde sie ihr bewilligt.

Den Mai und Juni verbrachte sie am Vierwaldstätter See; aber weder in Brunnen noch in Bürgenstock fand sie ihr seelisches Gleichgewicht wieder. Freudlos und niedergedrückt blieb sie selbst in der heiteren Landschaft der Schweiz. All die Leute da in den Hotels und auf den Dampfern hatten ihre Arbeit, ihren Wirkungskreis. Nur sie war ausgestoßen, lag hier im Liegestuhl faul auf der sonnigen Seeterrasse, um ihre Gesundheit wiederzuerlangen, die ja doch nicht wiederkehrte. Sie brauchte nicht mehr zu arbeiten. Die Zinsen des Vermögens, das sie sich ersungen hatte – zum größten Teil steckte es in dem Wolfshauer Erholungsheim –, würden bei bescheidenen Ansprüchen für sie ausreichen. Vielleicht konnte sie später durch Gesangunterricht noch etwas dazuverdienen. Aber vorläufig mochte sie noch nichts von Musik hören. Wenn in der Hotelpension, in der sie Wohnung genommen hatte, musiziert wurde, zog sie sich auf ihr Zimmer zurück. Der Rundfunk brachte eines Abends eine Oper aus Berlin. Aida war's, ihre Glanzrolle. Da hatte sie plötzlich einen Weinkrampf bekommen wie ein hysterisches Frauenzimmer, sie, die Bärbel aus dem Riesengebirge, die niemals Nerven gekannt hatte. Wie oft hatte sie selbst durch das Mikrophon in alle Länder hinausgesungen, hatte durch Radio und Grammophon Tausenden Freude und Erhebung gebracht. Aus – vorbei!

Der flaschengrüne Vierwaldstätter See schaukelte leis gegen den Seesteg. Wie in einer Wiege lag man hier. Der Rigi und der Pilatus hatten noch eine Schneehaube getragen, als sie angekommen war. Mit welcher Begeisterung hatte sie als zwölf‑dreizehnjähriges Mädel den Wilhelm Tell, den Hermännel ihr geliehen, gelesen. Wie durch einen Zaubermantel fühlte sie sich damals an den Vierwaldstätter See getragen, mitten unter die getreuen Eidgenossen. Und saß doch dabei im dämmerigen Ziegenstall mit glühenden Wangen, daß die Mutter sie nur nicht bei der Zeitvergeudung ertappe. Jetzt weilte sie schon zwei Monate hier in der schönen Umgebung und wurde dessen nicht froh. Sie wollte heim.

In Zürich bestieg Bärbel ein Flugzeug nach Berlin. Sie war als Künstlerin oft von einer Stadt in die andere geflogen, wenn es galt, irgendwo am Abend zu singen. Von Berlin, wo sie in einem Hotel übernachtete – ihre Wohnung hatte sie vermietet –, gleich weiter am nächsten Morgen. Der Boden brannte ihr unter den Füßen. Heim – nur heim!



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