Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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2. Kapitel.

Im Rosenhäusel

Vater Kleinert umstrickte einen alten, irdenen Topf, der einen Sprung bekommen, mit Drahtgeflecht, um ihn wieder brauchbar zu machen. Er saß in der Küche neben der Strümpfe strickenden Großmutter und der die Wäsche ihres Mannes bügelnden Frau. Karl und Friedel machten am Küchentisch Schularbeiten. Fritzel spielte auf dem Fußboden mit der Katze. Die Küche war der Hauptaufenthalt der Dorfbewohner. Dort war es warm. Die Stube wurde nur ausnahmsweise geheizt. Brennholz war teuer, obgleich der Wald einem beinahe in die Fenster hineinwuchs. Und das Reisig, das die Dorfkinder mit Berechtigungsscheinen auflesen durften, flog zum Schornstein hinaus und gab keine Wärme. Trotzdem man schon den vierten Mai schrieb, war es in dem Gebirgsdorf nach Sonnenuntergang noch empfindlich kalt.

Vater Kleinert pfiff sich eins bei der Arbeit. Das Rotkehlchen im Bauer am Fenster flötete dazu die Begleitung. Flügellahm hatten es die Kinder als junges Vögelchen im Garten gefunden. Es war wohl aus dem Nest gefallen. Nun führte es in dem vom Vater selbst geflochtenen Bauer ein ganz vergnügtes Dasein. Nur mit der grauen Mieze stand es auf Kriegsfuß.

Fritzel jauchzte über die Sprünge der Katze, der Vater pfiff, das Vögelchen flötete – der Lehrer Opitz mußte zweimal an die Küchentür klopfen, ehe man da drin sein Pochen vernahm.

»Ach, der Herr Lährer – ist mir a Ehre, ist mir halt a große Ehre –.« Vater Kleinert erhob sich von seinem Holzschemel.

Frau Kleinert wischte sich ihre Hand, trotzdem sie ganz sauber war, erst an der Blaudruckschürze ab, ehe sie dieselbe dem Eintretenden reichte. Die Großmutter blickte erfreut von ihrem Strickstrumpf auf. Besuch war eine angenehme Abwechslung in der Einförmigkeit der Tage. Karl sah weniger erfreut dem Besuch des Lehrers entgegen. Während die jüngere Friedel verlegen knickste, überflog er sein ganzes Sündenregister. Irgend etwas hatte er immer auf dem Kerbholz, der Karl. Ein reines Gewissen hatte er nie.

Als der Lehrer sich jetzt zum Vater wandte: »Kann ich Sie wohl mal ein paar Minuten allein sprechen, Herr Kleinert?« da war es für den Jungen Gewißheit – sicher die Taubengeschichte. Mit Knallerbsen hatten die Schlingel nach des Lehrers Tauben geschossen. Oder sollte die Karnickeljagd, die sie neulich mit des Nachbars Karnickeln veranstaltet hatten, etwa der Grund zu dem ungewöhnlichen Besuch sein? Es war nicht herausgekommen, daß er es gewesen, der den Karnickelstall geöffnet hatte, aber – für alle Fälle gab Karl doch lieber Fersengeld, während der Herr Lehrer dem Vater in die Stube folgte.

»A bissel kalt ist's schon hier, Herr Lährer«, sagte Vater Kleinert, sich die Hände reibend. »Nu nähmen Se ooch Platz, nu setzen Se sich ooch.« Er bot seinem Gast einen Platz auf dem buntgeblümten Kattunsofa. »Womit kann ich dienen – ist wull halt wieder amal was in Ordnung zu bringen, gelt?«

»Ja, in Ordnung bringen möchte ich ganz gern etwas«, stimmte der Lehrer lächelnd zu, Stock und Hut ablegend. »Aber diesmal handelt es sich nicht um meine Sachen, sondern um etwas, was Ihnen gehört, Herr Kleinert. Ich komme wegen Ihrer Tochter, der Bärbel.«

»Wegen der Bärbel – wegen mein Bärbele?« verwunderte sich Vater Kleinert. »Das Mädel ist gutt, das Mädel ist brav und fleißig – – –«, er schüttelte verständnislos den Kopf. Was konnte der Herr Lehrer nur gegen sein Bärbele vorbringen?

»Freilich ist sie fleißig, die Bärbel«, bestätigte der Lehrer. »Sie ist meine fleißigste und begabteste Schülerin. Und darum eben will ich mit Ihnen sprechen. Ich möchte der Bärbel eine Freistelle im Töchterlyzeum verschaffen. Es ist schade um ihre gute Veranlagung. Sie kann mehr lernen als unser Volksschulplan umfaßt. Bei ihrer Begabung und ihrem Interesse für die Bücher wird es ihr sicher nicht schwer werden, mal ihr Lehrerinexamen zu machen. Zur Musiklehrerin wäre sie ganz besonders geeignet. Aber das hat ja noch gute Wege. Die Hauptsache, sie lernt erst was Rechtes. Nun, Herr Kleinert, was meinen Sie dazu?«

Vater Kleinert meinte fürs erste gar nichts. Der saß ganz still und paffte dicke Rauchwolken aus seiner Rübezahlpfeife. In Gedanken wiederholte er noch einmal die Worte des Lehrers. Sein Bärbel war brav und fleißig, sie war begabt fürs Lernen – der Herr Lehrer wollte sie in die höhere Schule schicken – was sollte er da anderes tun, als sich darüber freuen?

»Nu jo jo, wenn der Herr Lährer meinen tut und er will's Bärbel was Rechtschaffenes lernen lassen, mir sull's schon rechte sein. Ich bin halt selber immer arg uff jädes Büchel gewäst. Ich tät mich freuen – nu jo jo – wenn und es wird amal was aus dem Mädel. Aber wir wullen die Muttel halt noch befragen, die hat mit Verlaub da ooch noch a Wörtel dazu zu sprechen.« Er öffnete die Stubentür. »Frau!« – rief er hinaus. »Mariele – kumm ooch, der Herr Lährer hat uns halt was zu sagen.«

Frau Kleinert erschien. Ihre ohnedies schon frischen Wangen glühten vom Bügeln und von der Ehre des Besuches.

Der Lehrer wiederholte sein Anliegen. Dann schwieg er, Antwort abwartend. Auch Vater Kleinert paffte stumm. Mutter Kleinert wickelte verlegen die Hände in die Schürze.

»Nu, sieh ooch, Mariele«, begann der Mann, da seine Frau nicht daran dachte, sich zu äußern, »der Herr Lährer tut sprechen, unser Bärbel wär halt seine beste Schülerin. Tät's dich nicht freien, wenn und sie käm' auf die hehere Schule?«

Die Frau schüttelte energisch den blonden Kopf.

»Nu nä – nu nä ooch – wir tun halt scheene danken fier die Ehre, Herr Lährer, aber unser Mädel hat da nischte nich zu suchen uff der hohen Schule. Die Bärbel sitzt mir halt schon viel zu viele ieber die Biecher. Und du, Mann, machst das Mädel vollends dumme mit deinem Zithergespiele. Das taugt nu mal nä fier unsereens. Die Bärbel sull, wenn und sie is ieber's Jahr eingesägnet, in a Dienst wie ihre Mutter. Nach Krummhiebel 'nauf in a großes Logierhaus. Da tut sie was Rechtes lernen.«

Nachdem Frau Kleinert die Verlegenheit erst mal überwunden hatte, sprach sie resolut und bestimmt, wie es ihrer ganzen Erscheinung entsprach.

»Nu nä, Mutterle, nu nä – – –«, ließ sich Vater Kleinert hören. Die Fortsetzung des Satzes ging in Rauchwolken, die er aus der Rübezahlpfeife herausstieß, auf.

»Jeder Stand und jeder Beruf ist gut, wenn man seine Pflicht darin tut«, nahm der Lehrer wieder das Wort. »Aber ich meine, Frau Kleinert, Eltern haben die Pflicht, ihre Kinder auf den rechten Platz fürs Leben zu stellen. Wenn die Bärbel nun mal besonders fürs Lernen ist, da soll man die guten Gaben, die sie von der Natur mitbekommen hat, nicht brach liegen lassen. Auf ein jedes Feld soll man das säen, wozu der Boden sich eignet.«

»Aus Gerschte wird nu amal im Läben keen Weizen nä«, gab die Frau halsstarr zur Antwort. »Mein Mädel braucht halt ooch nischte Besseres zu werden als ihre Mutter. Die Bärbel sull sich amal ihrer Eltern nä schämen.«

»Das tut sie ganz gewiß nä, unser Bärbele, dafür kenn' ich mein Mädel zu gutt«, stieß der Vater zwischen Tabakswolken hervor. Ihm war's nicht recht, daß seine Frau dem Herrn Lehrer entgegen war.

»Sehen Sie, Frau Kleinert«, versuchte es der Lehrer noch einmal, »heute kommt es nicht mehr darauf an, wer man ist, sondern was man leistet. Auch unsern Volksschülern soll die Möglichkeit geboten werden, ihrer Begabung entsprechend etwas im Leben zu erreichen. Freie Bahn dem Tüchtigen! Sie haben nicht das Recht, liebe Frau Kleinert, meine ich, Ihrem Kinde ein Hindernis in den Weg zu legen.« So sprach der Lehrer ernst und eindringlich.

»Nu, wir werden es halt ieberlägen, Herr Lährer, wir werden's mitanander ieberlägen, gelt ja, Mariele?« vermittelte Vater Kleinert. »Heite und morgen braucht ja's Bärbel noch nä uff die hohe Schule.«

»Ich hätte bald eine Eingabe bei der Provinzial-Schulbehörde gemacht, daß man die Bärbel von Pfingsten an in die dritte Lyzeumsklasse überweist. Sie hat die Reife dafür. In Französisch würde ich ihr gern während des Sommers Privatstunden geben, daß sie mitkommt. Aber dann muß es eben bis auf den Herbst bleiben.«

»Franzesisch – unser Bärbel Franzesisch?« Frau Kleinert konnte sich nicht so rasch von diesem Schreck erholen. Der Mund blieb ihr beinahe offen. »Sie meenen's gutt, Sie meenen's sicher gutt, Herr Lährer. Aber was fier een Kind das Rechte ist, das weeß nu amal die Mutter halt doch immer am besten.«

»Auf einen Hieb fällt kein Baum«, meinte der Lehrer lächelnd. »Also überlegen Sie sich's in Ruhe. Die Bärbel braucht ja vorderhand noch nichts von unsern Plänen zu erfahren.« Damit griff Herr Opitz wieder nach Hut und Stock.

Als er die Tür öffnete, gab es einen Krach. Etwas flog mit einem unterdrückten Schmerzenslaut in die dunkle Ecke hinter den großen Schrank, der im Flur stand.

»Ei – ei – der Horcher an der Wand!« sagte der Lehrer tadelnd, war aber nett genug, der Ursache nicht weiter auf den Grund zu gehen. Vater Kleinert gab ihm das Geleit bis zur Gartentür.

»Ein schöner Tag, ein prächtiger Frühlingstag heute nach dem langen Winter«, sagte der Lehrer abschiednehmend.

»Von Wolfshau aus hat man doch den scheensten Blick uffs Gebirge«, stimmte Vater Kleinert zu. »Man mechte sprechen, zum Greifen nahe sind halt heite die Koppenhäusel und's Schläsierhaus.«

Während Karl, der »Horcher an der Wand«, seine schmerzende Stirnbeule rieb, schritt der Lehrer Opitz, in Gedanken versunken, durch den Abendfrieden des Gebirgstals. Letztes Sonnengold lag noch auf den winzig kleinen Forstbauden droben am Schmiedeberger Kamm, während die Häuser von Wolfshau und Krummhübel schon in blaugraue Dämmerung gehüllt waren. Im Hirschberger Tal drunten, das sich weit gegen die Ebene öffnete, entzündeten sich schon hier und da die ersten Lichtchen.

Still genießend, wanderte der Lehrer durch das entschlummernde Gebirgsdorf am schäumenden Bache entlang. Er war aus der Ebene gebürtig. Da empfand er immer wieder aufs neue die Schönheit seiner jetzigen Heimat. Beinahe wäre der andächtig Versunkene gegen einen ihm auf schmalem Pfade Entgegenkommenden angerannt; denn auch der Gegenwanderer hatte nicht acht. Er fuhr erst aus dem Buche, in dem er beim Gehen las, hoch, als der Lehrer mit erschrecktem »Verzeihung!« seinen Hut zog. Und dann lachten sie alle beide. Helles Mädchenlachen mischte sich in das des Mannes – der Herr Lehrer und Bärbel hatten sich erkannt.

»Bärbel – was treibst du denn da? Unterwegs beim Gehen lesen und noch dazu in der Dämmerung, das ist nicht gut für die Augen. Und wie leicht kannst du, wenn du nicht aufmerksam bist, einen schlechten Tritt machen und liegst in der Lomnitz, Kind.«

»Da trockne ich halt auch wieder«, lachte Bärbel unbekümmert. »Das Buch, das mir der Hermännel geborgt hat, ist halt zu schön; ich konnt's nicht erwarten, a bissel drinne zu lesen. Zu Hause gibt's anderes zu schaffen. Die Muttel sieht's nicht gerne, wenn ich lesen tu.«

Der Lehrer nahm ihr das Buch aus der Hand. »Des Sängers Fluch«, entzifferte er in dem verschwimmenden Dämmerlicht. Das kleine Dorfmädel las so eifrig Uhland. Er reichte ihr den Gedichtband zurück.

»Wenn du deine Pflicht daheim getan hast, Bärbel, wird die Mutter sicher nichts dagegen haben, wenn du ein Buch vornimmst«, meinte er. »So, Kind, nun lauf – und achte auf den Weg.«

Mit hellem »Guten Abend auch, Herr Lährer« sprang Bärbel davon, während die Gedanken des in entgegengesetzter Richtung Wandernden ihr folgten.

Ein Mädchen, das auf dem Wege Uhlandsche Gedichte las, das hatte Bildungstrieb, das mußte andere Ziele haben im Leben, als Stubenmädel zu werden. Aber er kannte die schlesische Gebirgsbevölkerung hier – sie war gutmütig und freundlich, aber zäh und hartnäckig. Es würde nicht so leicht sein, für Bärbel den Lyzeumsbesuch zu erwirken.

Aus dem Rosenhäusel zitterte schon Lichtschein, als Bärbel heimkam. Die unverhangenen Fenster der Parterrestube leuchteten ihr anheimelnd entgegen. Zitherklänge empfingen sie – aha, der Vatel! Er und seine Zither waren unzertrennlich.

Kaum nahm sich Bärbel Zeit, ihren Speck in der Küche abzugeben und Hermännels Buch droben in ihrem Mansardenstübchen in Sicherheit zu bringen. 's war nicht gerade nötig, daß die Mutter das Gedichtbuch gleich entdeckte. Sie war allem Gedruckten nun mal nicht hold.

Dann schlüpfte Bärbel in die Stube zum Vater. Die ganze Woche über blieb er fort droben in den Bergen. Heute mußten sie noch einmal miteinander singen. Des Vaters Augen leuchteten auf, als Bärbels helle Stimme in den Refrain seines Lieblingsliedes einstimmte:

»O mein liebes Riesengebirge,
Wo die Elbe so heimlich rinnt,
Wo der Rübezahl mit seinen Zwergen
Heut' noch Sagen und Märchen spinnt.«

Die dunkle Männerstimme klang gut zu der glockenreinen Kinderstimme. Mohrle lag als Publikum auf dem Kanapee und hörte verständnisvoll zu. Weit hinaus zog der Sang in das stille Bergtal. Manch einer, der gerade auf dem Heimweg begriffen war, blieb stehen und lauschte. Ja, die Kleinert-Leute, die verstanden's.

Draußen in der Küche rührte Frau Kleinert ärgerlich die Abendsuppe. »Nischte nä als Flausen setzt der Karle dem Mädel in a Kupp. Anstatt die Ziege zu melken und den Fritzel ins Bette zu bringen, tut sie schon wieder singen.«

»Nu laß ooch, Mariele, nu laß ooch. Sie tun ja nischte Unrechtes«, begütigte die Großmuttel. Sie erhob sich mit ihren gichtsteifen Beinen schwerfällig, um den jüngsten Enkel selbst zu Bette zu bringen.

»Nee, Großmuttel, alles, was rechte is. Und da tut der Herr Lährer noch sprechen, wir sollen das Mädel uff die hohe Schule tun. Mecht' halt amal sähen, was denn aus ihr werden tut – denn ist sie halt gor nä mähr zu gebrauchen zur Arbeet.«

»Der Herr Lährer is halt a kluger Mann, man mecht' sprechen, der Herr Lährer is ooch a gutter Mann. Der weeß, wenn und er ratet dazu. Der Herr Riebezahl hat am Ende unser Bärbele zu was ganz Besonderem ausgewählt.« Das alte, runzlige Frauengesicht sah verschmitzt aus dem schwarzen Kopftüchel heraus.

»Na, nu heer aber uff, Großmuttel. Gor noch zu was Besonderem – ich bin halt schon zufrieden, wenn das Mädel und sie macht ihre Arbeet hier im Hause.« Mit energischem Ruck rückte Frau Kleinert die Suppe vom Feuer, dann riß sie die Stubentür auf.

»Dieses schöne Land ist mein Heimatland,
Ist mein liebes deutsches Vaterland«,

klang es ihr zweistimmig entgegen.

»Nu macht aber Schluß, ihr beeden. Bärbel, die Ziege is halt noch zu melken. Reene an nischte denkst du, wenn du Musike heerst, Mädel. Mann, Karle, heer uff. Kummt ooch suppen. Und's Körbel aus'm Kretscham is halt ooch noch zu flechten. Wenn ihr zwee beeden beisammen seid, denn tut ihr halt alle beede nischte.« Trotz des Scheltens klang ein liebevoller Ton mit. Mutter Kleinert meinte es nur halb so schlimm, als wie sie sich den Anschein gab.

Während der Vater den Schlußakkord griff, lief Bärbel eiligst mit der Laterne in den Ziegenstall. Die Ziege meckerte ihr schon ungehalten entgegen. Sie schien auch nicht einverstanden mit Bärbels Musizieren, über das man sie vergessen hatte.

Geschickt strichen die roten Kinderhände die vollen Euter. Strip – strip – strip – rann die Milch in den Blecheimer.

»Du – pst – Bärbel – was tuste mir ooch schenken, wenn und ich sage dir was«, flüsterte eine Jungenstimme möglichst gedämpft in das eintönige Melkgeräusch. Ein heller Flachskopf tauchte in dem zittrigen Lichtschein der Stallaterne auf.

»Wird auch was Rechtes sein, Karle«, meinte die größere Schwester gleichmütig. Bärbel ließ sich beim Melken nicht stören.

»Nu freilich. Ich hab' halt gehört, was der Herr Lehrer heute beim Vatel gesprochen hat – um dich ging's.« Der Junge machte ein geheimnisvolles Gesicht.

Bärbels Neugier war geweckt.

»So sag auch – nu, so mach auch«, drängte sie.

Die Ziege, welche merkte, daß die Aufmerksamkeit des Mädchens geteilt war, stand nicht mehr still. Das weiße Naß ging daneben.

»Schenkste mir a Finfer zu a Sirupstange?« fragte der Junge und leckte sich bereits im voraus die Lippen.

»Wir müssen doch sparen, Karle, damit der Vatel das Pferdel kaufen kann. Wir dürfen unser Geld nicht vernaschen«, meinte die Große verständig.

»Nu, so spar doch von morgen an«, riet der Kleinere.

Die Neugier war stärker bei Bärbel als die Sparsamkeit. »Nu meinetwegen«, räumte sie ein.

»Auf die Töchterschule sollste, hat der Herr Lährer gesprochen. Und Lährerin sollste mal studieren, Musiklährerin oder halt so was Ähnliches.«

»Ist's wahr? Ist's wirklich und wahrhaftig wahr?« Bärbel riß in ihrer Erregung so stark an dem Euter der Ziege, daß diese empört einen Satz machte. Mit dem Hinterbein war sie in den Melkeimer gesprungen – plumps – da ergoß sich die schöne Milch über die Streu.

Bärbel weinte fast vor Schreck und vor Ärger. »Was wird auch die Muttel sagen! Wozu erzählste mir das auch hier im Stall!«

»Nu freilich, ich bin schuld, wenn die Ziege die Milch umkippen tut«, brummte der Junge. »Wer weiß, ob's nicht am Ende gar der Herr Riebezahl gewäsen ist.« Ängstlich spähten die blauen Kinderaugen in die dunklen Stallecken.

»Red auch keinen Unsinn«, sagte Bärbel möglichst tapfer, trotzdem auch ihr etwas unheimlich zumute war. Beide Kinder waren froh, als sie aus dem dunklen Stall wieder heraus waren.

»Halb voll ist der Eimer nur«, klagte Bärbel betrübt.

»Du, Bärbel, wenn und du gibst mir halt a Zähner statt a Finfer, dann sag ich dir, wie die Muttel nischte nich merken tut.« Karl stieß die Schwester aufmunternd mit dem Ellenbogen an. Als keine Antwort erfolgte, nahm er's für Zustimmung. »Da – da drüben am Brunnen hat's noch genug«, lachte er pfiffig.

»Ja, Wasser, aber keine Milch.«

»Merkt doch keine Menschenseele, wenn und wir pumpen a bissel Wasser 'nein.«

Während Bärbel noch zu den erleuchteten Koppenhäusern emporblickte und überlegte, hatte der Junge bereits den Eimer ergriffen. »So – der Schaden wär' halt kuriert.« Lachend stellte er den gefüllten Eimer vor die Schwester hin. »Nu meinen Zähner!«

»Wenn die Muttel aber was merken tut – – –.«

Nein, die Mutter merkte nichts. Die hatte heute nicht recht acht auf den Melkeimer. Der tatkräftigen Frau gingen, als sie sich nach der Abendsuppe mit dem Flickkorb zum Feierabend setzte, die Worte des Lehrers nach. Wozu kam er auch und störte das Gleichmaß ihres bescheidenen, friedlichen Daseins! Sie wollten nicht höher hinaus. Recht und schlecht wollten sie ihr Leben fristen; als höchstes Ziel mal ihr Rosenhäusel zu eigen besitzen.

Bärbel hatte bisher vergeblich gewartet, daß die Eltern bei der Abendsuppe irgend etwas von dem Besuch des Lehrers und dem Zweck desselben verlauten lassen würden. Sie hatte gar keine Aufmerksamkeit für den »Riesengebirgsboten«, in dem sie las. Es ließ ihr nicht länger Ruhe.

»Was hat denn der Herr Lehrer bei euch gewollt? Ich habe ihn halt unterwegs getroffen«, fragte sie geradeheraus.

Die Mutter sah verwirrt von der Jungenhose, in die sie eine neue Sitzgelegenheit einsetzte, auf. Konnte das Mädel Gedanken lesen?

»Nu, was wird er ooch gewollt haben«, gab sie ausweichend zur Antwort.

Bärbels klare blaue Augen suchten die dunklen des Vaters. Sie wußte, die wichen ihr nicht aus. Die standen ihr Rede.

Und wirklich, der Vater unterbrach seine Korbflechterei und kratzte sich nachdenklich den Kopf. »Nu, Muttel, was meenste? Was brauchen wir ooch a Geheimnis draus zu machen, gelt? Unser Bärbele is ja selbst a verninftiges Mädel – nu, so sag's ihr ooch.«

»Is ja lachhaft, Mädel.« Die Mutter schlug einen möglichst leichten Ton an. »Uff die hohe Schule wollt' er dich halt schicken, der Herr Lährer. Was du ooch da sollst! Als ob du dich da wohlfielen tätest! Mer sein einfache, bescheidene Leite; mer wollen nischte, was uns nä zukummen tut. Gelt ja, Bärbel?«

»Ich würde halt sehr gerne in die Töchterschule gehen und recht viel lernen«, sagte da die Bärbel zu der Mutter Verwunderung. Ihre Backen glühten, ihre Augen strahlten.

»Daß du halt gor nä mähr von den Biechern fortkummen tust; daß du zu keener verninftigen Arbeet mehr nutze bist. Nee, Mädel, daraus wird nischte. Eher kummen die Berge zu uns 'nunter, als daß ich dazu ja und amen sagen tu'.«

»Verschwör dich nä, Mutterle«, mahnte der Mann.

»Der Herr Riebezahl kann Wunder tun«, kopfnickte die alte Großmutter. »Dem is's halt a leichtes, aus a Dorfmädel eene vornähme Dame zu machen.« Aufmunternd blinzelte die Alte der Enkelin zu.

»Nu, Großmuttel, setz du ihr ooch mit deinen Riebezahlmärchen noch mehr Raupen in a Kupp.« Die Mutter stichelte aufgebracht auf Karls Hose herum.

»Mach ooch nä so a Unglicksgesichtel, Bärbele«, begann der Vater wieder, dem es unbehaglich war, sein fröhliches Kind so niedergedrückt zu sehen. »Es braucht ja noch nä gleich das letzte Wörtel gesprochen zu werden.« Des Vaters Zuspruch entzündete wieder den erlöschenden Hoffnungsfunken in Bärbels Herzen. Sie legte ihre Zeitung zusammen und wünschte gute Nacht. Es verstand sie doch keiner so gut wie ihr Vatel.

Karl hatte sich schon in seine Kammer zurückgezogen, aus Angst, den Zehner wieder herausgeben zu müssen.

Friedel, die jüngere Schwester, schlief bereits mit roten Schlafbacken, als Bärbel die gemeinsame Mansardenstube betrat.

Bald lag das Rosenhäusel im Dunkeln.

Aber seine Bewohner fanden nicht so bald den Schlummer wie sonst nach dem rührigen Schaffen des Tages. Vergeblich versuchte die Mutter irgend etwas Unbehagliches, Lästiges, was von außen her den Frieden ihres Innern störte, zur Seite zu schieben. Auch ihr Mann lag schlaflos, trotzdem er doch schon in aller Herrgottsfrühe wieder heraus mußte. Er überlegte, ob er nicht die Pflicht hätte, den Lebensweg seines Kindes so günstig wie möglich zu gestalten; ob er die Hand, die sich dazu bot, zurückweisen durfte.

Bärbel aber sah einen neuen Weg vor sich. Noch etwas unklar, noch nicht auf ein bestimmtes Ziel lossteuernd. Er führte vom Rosenhäusel fort, der Weg, das erkannte sie. Aber Bücher, Musik winkten auf ihm, die Erfüllung all ihrer kaum ihr selbst bewußten Wünsche.

»Der Herr Riebezahl kann Wunder tun«, flüsterte sie schon im Halbschlaf. Und dann atmete auch sie ruhig und gleichmäßig.



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