Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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15. Kapitel.

In steinernen Mauern

Ein heißer Junitag brütete über den Straßen Breslaus. Kein Lüftchen ging. Die Häuser der Altstadt rings um den Ring schienen die Sonnengluten in ihren Mauern aufgespeichert zu haben und sie verstärkt wieder auszustrahlen.

Trotz der frühen Morgenstunde war schon lebhaftes Treiben hier im Herzen der Stadt. Geschäftsleute, Stenotypistinnen und junge Verkäuferinnen eilten an dem schönen Renaissancebau des alten Rathauses vorüber ihren Pflichten nach. Mitten in dem Getriebe fiel ein großes, kräftiges Mädchen mit einer Mappe unter dem Arm auf. Sie trug keinen Hut, keinen Bubikopf, wie die meisten. Glänzendes schwarzes Haar war in schweren Flechten am Nacken aufgesteckt. Fast schien der Kopf zu klein für die Last des Haares. Leuchtendblaue Augen im bräunlichen Gesicht – war es dieser Gegensatz, der die Blicke der Vorübergehenden auf die etwa Siebzehnjährige lenkte? Ihr einfaches, bescheidenes Sommerkleid, dazu Baumwollstrümpfe mit derben schwarzen Lederschuhen, wie man sie auf dem Lande zu tragen pflegt, stach seltsam ab gegen die Seidenfähnchen und seidenbestrumpften Beine der vorübereilenden jungen Damen. Auch die Gangart war anders, gemächlich bald hier, bald dort an einem besonders schönen Schaufenster den Schritt hemmend. Bärbel ging allmorgendlich eine Viertelstunde früher von Hause fort, um die Auslagen der großen Geschäfte am Ring in Gemütsruhe bewundern zu können. Das Dorfkind kam nicht an all diesen Herrlichkeiten vorüber.

Dabei hatte sie schon fleißig daheim geschafft, die Bärbel. Umsonst mochte sie die Unterkunft, die ihr von Studienrats in freundschaftlichster Weise gewährt wurde, nicht in Anspruch nehmen. Sie hatte daher Frau König, die ohne Mädchen nur mit einer Aufwartung ihren Haushalt besorgte, gebeten, die Frau abzuschaffen. Ihr sei körperliche Arbeit Bedürfnis, an Frühaufstehen sei sie gewöhnt, und sie wäre glücklich, die Fürsorge ihrer Wohltäter ein wenig wettmachen zu können. So besorgte Bärbel, bevor sie in die Musikschule ging, den Königschen Haushalt. Wenn die andern um sieben Uhr aufstanden, waren die Stiefel geputzt und das Frühstück bereit, das Eßzimmer und das Arbeitszimmer des Herrn Studienrats schon aufgeräumt. Gerda und Lilli war es zuerst peinlich gewesen, daß Bärbel sie an Fleiß übertraf, aber dann trösteten sie sich damit, daß man es ja auf dem Lande nicht anders gewöhnt sei und daß Stadtmädel zartere Nerven hätten. Sie lebten in bestem Einvernehmen mit der neuen Hausgenossin. Es wäre auch schwer gewesen, mit Bärbel, die überaus verträglich war und dankbar alles tat, was sie ihnen an den Augen absehen konnte, Streit anzufangen.

Freilich im Anfang, als Bärbel im ausgewachsenen schwarzen Kleidchen, den Rucksack auf dem Rücken, ihren Einzug im Königschen Hause hielt, war Gerda, um der Wahrheit die Ehre zu geben, nicht sehr begeistert.

»Menschenskind, du siehst ja geradezu unmöglich aus. So können wir hier in der Stadt nicht mit dir auf die Straße gehen.« Totgeschämt hätte sich Gerda, wenn ihre Freundinnen sie mit der Landpomeranze getroffen hätten. Wie anders hatte Bärbel in ihren Bergen gewirkt. Dort stimmte ihr ländliches Aussehen zu der Umgebung.

Aber es zeigte sich, daß Kleider, die Gerda nicht mehr tragen mochte – Lilli war fast einen Kopf kleiner als sie –, für Bärbel noch ganz allerliebst wirkten. Sie sah in allem viel hübscher aus als die ziemlich farblose Gerda. Auch heute trug Bärbel ein ausrangiertes Kleid von Gerda König. »Wenn ich erst mal viel Geld verdiene, kaufe ich mir auch solch ein schönes Seidenkleid,« dachte Bärbel, trotz der Hitze mitten in der Prallsonne bewundernd das Schaufenster eines Modengeschäftes betrachtend. Da legte sich ihr eine Hand auf die Schulter.

»Tag, Bärbel« – das junge Mädchen fuhr herum, das war doch – – – nun freilich war's der Hermann. Nein, die Freude!

»Wie kommst du denn gerade hier daher, Hermännel?« In ihrer freudigen Überraschung gebrauchte Bärbel wieder den Kindernamen des Freundes, der eigentlich ja nicht mehr zu dem Herrn Studenten paßte.

»Dacht' ich's mir doch, daß ich dich mal treffen würde, Bärbel.« Der junge Mediziner blickte nicht weniger erfreut drein. »Seit dem Ersten arbeite ich vormittags hier im Rathause als Schreibmaschinist. Beim Magistrat, das ist wenigstens etwas Sicheres. Die Aushilfsstellen waren ja immer nur vorübergehend.«

»Du studierst zu viel, Hermann, gelt? Du siehst bleich aus. Gar nicht mehr so frisch wie in Krummhübel.« Bärbel betrachtete besorgt das Stubenfarbe zeigende Gesicht des Freundes.

»Nun, Bärbel, du hast hier in Breslau auch nicht mehr dein rosiges Aussehen«, stellte der Freund fest. »Die Stadtluft bekommt dir wohl nicht? Oder bist du allzu angestrengt in der Opernschule?«

»Leicht ist's gerade nicht. Ich habe mir das Singen einfacher vorgestellt. Früher habe ich mein Lied halt hinausgeschmettert wie unser Rotkehlchen. Aber jetzt soll ich auf die Zungenlage achten und daß der Ton aus dem Zwerchfell herausgeholt wird. Da kann ja nichts Gescheites werden. Dabei sagt der Musikdirektor, ich bringe schon alles von Natur mit, was andere erst mühsam erlernen müssen. Er ist mit mir zufrieden.«

»Das ist ja famos, Bärbel. Da wird's rasch vorwärtsgehen.«

»Ja, wenn nur die andern Stunden nicht wären. Besonders Deklamation. Ich kann mir halt nicht meinen schlesischen Gebirgsdialekt ganz abgewöhnen und dann lachen die andern über mich«, klagte Bärbel.

»Du wirst sie mal alle miteinander auslachen, Bärbel, durch deine schöne Stimme. Aller Anfang ist schwer«, tröstete der Freund.

»Manchmal bin ich schon recht verzagt gewesen«, gestand Bärbel. »Aber wenn du an mich glaubst, Hermann, muß ich's halt auch tun. Diese Gluthitze in der Stadt ist wohl schuld daran, daß einem der Verstand eintrocknet. Oft denke ich, ich muß hier in den steinernen Mauern ersticken. Ach, nur einmal wieder den frischen Bergwind droben von der Teichbaude atmen!«

»Daran gewöhnt man sich, Bärbel. Mir ging's zuerst gerade so. Nächsten Sonntag wollen wir hinaus an die Oder. Da ist's kühler. Königs werden gewiß gern mitkommen. Also leb wohl bis zum Sonntag, Bärbel.« Sie reichten sich die Hände und gingen in verschiedenen Richtungen ihrer Arbeit nach.

Bärbel schaute nicht mehr nach den Auslagen der Geschäfte, sondern rechnete: »Heute ist Dienstag, noch eins, zwei, drei, vier, fünf Tage bis Sonntag.« Hermann aber dachte: Die Bärbel ist selbst wie Bergwind. Es ist eine Erfrischung, sie nur zu sehen. Und während er an seiner Maschine saß und die Finger über die klappernden Typen jagten, empfand er trotz der drückenden Zimmerschwüle immer noch die Frische ihres Wesens.

In der Nähe des Stadttheaters befand sich die Opernschule des Musikdirektors Velden. Es waren nur ein paar Schritte von der Schule bis zur Opernbühne – und doch welch langer, mühseliger Weg. Die Schule war gut besucht, junge Mädchen und junge Leute erhielten dort ihre künstlerische Ausbildung. Recht verschieden waren die Schüler, äußerlich und innerlich, aus den verschiedensten Orten und Gesellschaftsklassen. Eins aber hatten sie alle gemeinsam: Jeder hielt sich für das größte Genie, glaubte mal ein ganz besonders leuchtender Stern am Kunsthimmel zu werden.

Große Aufregung hatte in der Musikschule geherrscht, als es unter den Schülern bekannt wurde, daß der Direktor ein ganz fabelhaftes Talent im Gebirge entdeckt und es zur Ausbildung mit nach Breslau gebracht habe. Sicher eine Kuhmagd. Wie konnte man ihnen nur zumuten, mit solch einem unkultivierten Bauernmöbel dasselbe Institut zu besuchen.

Als dann Bärbel zum ersten Male erschien, jugendschön wie der taufrische Morgen, dabei nett und bescheiden, flogen ihr sofort die Herzen der leicht begeisterten Kunstjünger zu. Die Schülerinnen allerdings blieben ihr weniger freundlich gesinnt. Die machten ihre Glossen über die »roten Pranken der Dorfschönen«, mit denen die Klavier spielen wollte. Die machten sich gegenseitig lachend auf ihre »Apfelkähne« aufmerksam, womit sie Bärbels derbe, neue Schuhe meinten. Und die Strümpfe – nicht mal Waschseide. Ganz gemeine Baumwolle. Einfach unmöglich. Merkwürdig genug, daß die Neue eine gute Schulbildung genossen zu haben schien – wie kam das Dorfmädel ins Lyzeum?

Bärbel machte durchaus kein Hehl daraus, daß sie daheim, weil sie gut gelernt habe, Freischule im Töchterlyzeum bekommen habe. Sie erzählte treuherzig von ihrem lieben Rosenhäusel, von dem Vater, der mit dem Hörnerschlitten verschüttet worden war, von dem schweren Ringen der Mutter ums tägliche Brot. »Aber wie ich dann als Kellnerin in die Teichbaude kam, wurde es besser. Da verdiente ich ganz schönes Geld.«

Die jungen Damen stießen sich heimlich an. Kellnerin war sie auch gewesen – es war wirklich unerhört, daß sie mit der zusammen studieren mußten. Bärbel aber fuhr unbefangen fort: »Auf der Teichbaude, wo ich mal zur Zither sang, hat mich der Herr Musikdirektor gehört und mit nach Breslau genommen. Und nun will ich halt sehr fleißig sein, um ihn nicht zu enttäuschen und eine berühmte Sängerin zu werden.«

»Hahaha –«, da lachten sie los über Bärbels naive Äußerung.

»Hahaha – das ist nicht so einfach, liebes Kind, dazu gehört noch etwas mehr als Fleiß. Vom Kuhstall zur Bühne, das ist schon ein recht großer Sprung. Daß Sie sich nur nicht Ihr Bein dabei verknacksen«, so riefen sie lachend durcheinander. Alle wollten sie berühmt werden, aber sie behielten es für sich.

Nur eine von ihnen, eine sympathisch aussehende Blondine, griff nach Bärbels roter Hand. »Sie haben eine schwere Kindheit gehabt, Kleinert« – die Musikschüler nannten sich alle beim Vatersnamen –, »ich will Ihnen wünschen, daß Sie jetzt dafür entschädigt werden.«

»Schwere Kindheit« – Bärbel schüttelte lebhaft den Kopf. »Eine herrliche Kindheit habe ich gehabt im Rosenhäusel, viel schöner als eure in der Stadt. Aber Sie meinen's gut mit mir, gelt?« Bärbel klammerte sich an die Hand der Mitschülerin. Sie fühlte, daß es hier die einzige war, die ihr wohlwollte. Und im stillen gelobte sie sich: »Ich muß den Sprung machen, ich will's denen schon beweisen, daß ich etwas kann.«

In den gemeinsamen Stunden horchten sie dann wohl auf, wenn Bärbel vorsang. Eine gute Stimme hatte sie, die Dorfschöne. Das mußte ihr der Neid lassen. Und der war eifrig am Werk. Nirgends gibt es mehr Neid und Eifersucht als unter angehenden Bühnenkünstlern. Ihren Spitznamen »die Dorfschöne« hatte Bärbel ein für allemal weg. Sobald die Dorfschöne etwas falsch machte – und das kam im Anfang, trotz der schönen Stimme, recht oft vor – wurde sie unbarmherzig ausgelacht. Gerade weil der Direktor Velden sie zu seiner Lieblingsschülerin erkoren hatte, flickten die andern ihr bei jeder Gelegenheit etwas am Zeuge. Da nützte alle Freundlichkeit Bärbels nichts. Im Gegenteil. Die wurde ihr noch falsch ausgelegt. Wenn sie zusprang, um einer Kameradin beim Sachenablegen behilflich zu sein, hieß es heimlich: »Natürlich, die Kellnerin kann nicht von ihrer Gewohnheit lassen.« Wenn sie jemandem eine Gefälligkeit erwies, wollte sie sich Liebkind machen. Auf jede Weise versuchten die Mitschülerinnen der Dorfschönen das Studium an der Opernschule zu erschweren und ihr den Aufenthalt dort unerfreulich zu machen.

Wohl erkundigte sich Herr Musikdirektor Velden, in dessem Hause sie viermal in der Woche Mittagstisch hatte, ab und zu, ob Bärbel sich gut eingelebt hätte und ob die Mitschüler auch nett zu ihr wären. Sie bejahte die Frage stets. Es widerstrebte ihr, den Angeber zu spielen.

Nur eine, jene Blondine, die gleich zuerst sich ihrer angenommen hatte, hielt auch weiter zu Bärbel. Sie war ebenfalls vom Lande, eine Gutsbesitzertochter, die durchaus auf Wunsch der Frau Mama in Breslau Musik studieren sollte, da sie ein ganz nettes Stimmchen hatte. Dabei war das junge Mädchen viel lieber auf den Feldern, im Obst- und Gemüsegarten und in den Pferdeställen des väterlichen Gutes als in der Stadt. Diese Liebe und Sehnsucht zur Heimatsscholle verband die beiden trotz des Unterschiedes ihrer Herkunft. Sie freundeten sich miteinander an. Mieke von Lucken ergriff stets Bärbels Partei und bewunderte neidlos ihre schöne Stimme und die Fortschritte, die sie machte. Ihr lag ja gar nichts daran, eine Künstlerin zu werden. Sie wollte so bald als möglich wieder heim aufs Gut.

Stickig heiß war es heute selbst in dem großen Raum der Musikschule, in dem die Ensemblestunde stattfand. Die Lehrerin, eine ehemalige Bühnensängerin, nahm den »Freischütz« mit der Opernklasse durch. Zum Schluß der Stunde pflegte meistens der Direktor zu erscheinen, um sich von den Fortschritten zu überzeugen.

Die Sopranistinnen, die Mezzosoprane und die Altistinnen saßen auf der einen Seite; auf der andern die Tenöre, die Baritons und Bässe. Vorläufig wurde nur mit Klavierbegleitung ohne Orchester gesungen. Bärbel war bisher nur als Zuhörerin zu den Ensemblestunden zugelassen. Sie hatte in der Einzelgesangstunde, die Herr Velden ihr in höchsteigener Person erteilte, noch so viel zu lernen und zu arbeiten, daß sie für Operngesang noch gar nicht in Frage kam. Über die Tonleiter und einige Tonübungen war sie noch nicht herausgekommen. Ihr Ton »saß« noch nicht richtig, wie der Direktor sich ausdrückte. Die Flankenatmung machte dem Naturkinde, das sein Lebtag nicht darauf geachtet hatte, mit welchen Organen es atmete, noch viel Schwierigkeit.

Mit herzklopfendem Interesse verfolgte Bärbel jedesmal aufs neue den Gang der Opernhandlung. Sie achtete nicht auf das, worauf sie achtgeben sollte; ob die Sängerinnen zur Zeit einsetzten, ob sie richtig atmeten, ob kein Ton unrein klang, ob sie nicht tremolierten oder gar mit der Stimme umkippten. Bärbel lebte ganz und gar die Freischütz-Oper mit. Sie zitterte für den braven Jägerburschen Max, den der Teufel umgarnen wollte; sie haßte den bösen Kaspar aus vollem Herzen, lachte mit dem munteren Ännchen und betete mit Agathe für den Liebsten. Sie empfand nicht mehr die drückende Junischwüle. Musik und Gesang nahmen sie ganz und gar gefangen.

»Kommt ein schlanker Bursch gegangen,
Blond von Locken oder braun,
Hell von Aug' und rot von Wangen,
Ei, nach dem kann man wohl schaun«,

sang Ännchen oder vielmehr eine der Schülerinnen. Unwillkürlich summte Bärbel die Melodie mit.

»Nun, was war daran auszusetzen?« wandte sich die Lehrerin, nachdem die Arie beendet war, an die Zuhörer.

»Ein Achteltakt zu spät eingesetzt«, kritisierte ein Jüngling. »Undeutliche Aussprache«, fuhr eine der Damen fort.

Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Fräulein Kleinert, können Sie es uns sagen?«

Bärbel kam aus einer andern Welt. Sie war doch eben noch im Forsthause mitten im Walde gewesen, und jetzt saß sie zwischen vier getünchten Wänden und sah, wie sich die übrigen Musikschüler mit dem Taschentuch Luft zufächelten oder sich den Schweiß von der Stirn tupften. »Na, Fräulein Kleinert?«

»Es war halt schön«, meinte Bärbel begeistert, während die Sängerin geschmeichelt lächelte.

»Darüber kann man verschiedener Auffassung sein. Die Arie klang weder rein, noch war sie munter und neckisch genug, wie es die Ännchen-Rolle verlangt, vorgetragen. Haben Sie das nicht auch empfunden?«

»Freilich, ich hätte das Lied halt lustiger gesungen; aber die Melodie war trotzdem schön«, bestätigte Bärbel.

»Dann können ja Sie die Arie mal singen, Kleinert, wenn Sie hier solchen großen Mund haben«, rief die Sängerin empört. »Versteht noch nichts und will hier an andern Leuten, die schon jahrelang Opern studieren, Kritik üben.«

»Ich bin doch halt gefragt worden«, entschuldigte sich Bärbel. Und dann zur Lehrerin gewandt: »Gelt, ich darf das Lied mal singen?«

»Meinetwegen«, meinte diese lächelnd, »aber viel wird dabei nicht herauskommen. Haben Sie die Arie denn überhaupt schon studiert, Fräulein Kleinert?«

»Ich hab's doch schon oft gehört.« Und da begann die Bärbel auch schon frisch von der Leber weg die Ännchen-Arie. Sie dachte nicht mehr daran, daß der Ton aus dem Zwerchfell herausgeholt werden mußte, daß die Zunge die richtige Lage hatte. Frisch und munter, als wäre sie wieder auf der Krummhübler Freilichtbühne, schmetterte sie das Lied hinaus; keck und übermütig klang es. Ja sogar Bewegungen machte Bärbel unwillkürlich dabei. Sie war ja so glücklich, mal wieder etwas Richtiges singen zu können, nicht nur die langweiligen Töne.

Als sie geendet hatte, hörte man ein spöttisches Lachen. Es kam von der vorher Kritisierenden. Aber sie blieb allein damit. Einer von den Jünglingen begann Beifall zu klatschen. Seine Kollegen fielen begeistert ein, während die weiblichen Schüler sich zurückhielten und sich nicht einmal heimlich zugestanden, daß Bärbel mehr konnte als sie.

»Donnerwetter, hat die Kleinert eine Stimme!« Das war die erste Kritik, die von einem der Kollegen fiel.

Die Lehrerin wandte sich zur Klasse: »Wie war die Atmung?«

»Falsch.«

»Wie war der Rhythmus?«

»Nicht ganz taktgemäß.«

»Was können Sie über die Aussprache sagen?«

»Bauerndialekt!« rief die vorhin Gekränkte, um Bärbel auch eins auszuwischen.

»Sagen wir: nicht dialektfrei«, begütigte die Lehrerin, während der armen Bärbel Röte peinlichster Verlegenheit bis zum dunkeln Haaransatz emporstieg.

»Es stimmt alles, meine Damen und Herren, was Sie getadelt haben; und dennoch, es war – wundervoll. Einfach wundervoll! Fräulein Kleinert, Sie sind das geborene Ännchen.«

»Ganz meine Meinung«, klang es da von der Tür her. Der Musikdirektor, der wegen seiner strengen Kritik Gefürchtete, hatte die ganze Arie über schon hinter der Tür gestanden. »Ihre Stimme ist in den wenigen Monaten noch bedeutend größer geworden, Fräulein Kleinert. Nur fleißig arbeiten; es ist noch Naturgesang, kein Kunstgesang. Sie verstehen noch nicht mit Ihrem Atem hauszuhalten, Sie verstehen überhaupt noch gar nichts von künstlerischem Gesang – und doch, ich wünschte, alle meine Schüler sängen so. Von heute an nehmen Sie an der Ensembleskunde nicht nur als Zuhörerin teil. Wir werden die Rolle zusammen studieren.«

Oh, wie glücklich wäre Bärbel gewesen, wenn sie nicht die neidischen Blicke der andern gefühlt hätte. Nur Mieke von Lucken drückte ihr voller Mitfreude die Hand.

Seit diesem Tage wurde Bärbel durch keine Schwierigkeit mehr verzagt. Ob sie sich in der Deklamationsstunde auch noch so quälen mußte, ihren harten Gebirgsdialekt rein zu gestalten, ob sie noch sooft sich als Zielscheibe der Spottsucht fühlte. Selbst die langweilige Tonleiter Do – re – mi – fa – sol – la – si – do nahm sie mit in den Kauf, wußte sie doch, daß sie nur die Grundlage für die Opernstudien bildete. Ihr Eifer erlahmte nicht. Des Mittags im Veldenschen Familienkreise, wo sie Freitisch erhielt, drehte sich das Gespräch meist um musikalische Dinge. Der Sohn war Cellist, die Tochter Musiklehrerin an einem Lyzeum. Da spitzte das Dorfkind die Ohren, um die Unterhaltung allmählich verstehen zu lernen. Fast jeden Tag erfuhr sie Neues aus der Musikwelt. Veldens waren nett und freundlich zu dem Schützling des Vaters, aber Bärbel blieb immer etwas fremd in ihrem Kreise. Wohler fühlte sie sich, mehr daheim war sie im Königschen Hause. Die Erinnerung an das Rosenhäusel, in dem sie miteinander gewohnt, an Vater Kleinert, den Königs geschätzt hatten, verband sie. Gerda studierte neue Sprachen, Lilli besuchte die Kunstgewerbeschule. Fleißiges Streben herrschte im Königschen Hause. Nur in der Wirtschaft halfen die Töchter nicht gern. Da war es Bärbel, die ihnen ihre häuslichen Pflichten abnahm. Wenn sie des Abends nach angestrengtem Musikstudium Frau König beim Bereiten des Abendessens zur Hand gegangen war, da die Töchter meistens keine Zeit dazu fanden, dann folgte erst noch der Unterricht beim Studienrat. Der ließ es sich angelegen sein, Bärbels unterbrochene Schulbildung zu vervollkommnen. Er gab ihr Unterricht in den Sprachen und in Literatur. Ach, wenn die Bärbel nur nicht immer abends so arg müde gewesen wäre. Die heiße Stadt mit ihrem Getriebe, die ungewohnte geistige Anspannung in der Opernschule machten Bärbel spät am Abend nicht mehr aufnahmefähig. Sie gähnte, während der Studienrat mit ihr den französischen Konjunktiv wiederholte. Ja es war sogar vorgekommen, daß sie bei einer englischen Übersetzung, die sie schriftlich machen sollte, fest eingeschlafen war. Zum Glück hatte der Studienrat Verständnis dafür, daß das Landkind den geistigen Anforderungen und der heißen Stadt nicht sobald gewachsen sein konnte. Bärbels Entschuldigung: »Die ganze Teichbaude am Feiertag allein zu bedienen, ist halt nicht so anstrengend wie so ein Tag in Breslau«, ließ er voll gelten. Er hieß sie die Bücher zusammenpacken und ging mit Bärbel und seiner Familie in den nahe seiner Wohnung gelegenen Scheitnigpark. Dort wehte frischere Luft, dort schwand der Reif, der Bärbel den Kopf hier in der Stadt fast immer zusammenpreßte. Am schönsten waren die Sommerabende, an denen sich auch Hermann Opitz im Schweizerhäuschen im Scheitnigpark einfand. Aber sie waren leider nur selten; denn Hermann studierte bis tief in die Nacht. Der schlief bei seinen Büchern nicht ein.

Gut, daß es in jeder Woche einen Sonntag gab, an dem Königs meistens ins Freie wanderten. Da schöpfte Bärbel neue Kraft für die Arbeit der Woche. Wenn es auch nicht ihre würzige Riesengebirgsluft war, es duftete doch außerhalb der steinernen Mauern nach Wiesen und Feldern. Es gab Butterblumen, Löwenzahn und blaue Glockenblumen da draußen. Und vom Zobten, dem beliebtesten Ausflugsort der Breslauer, sah man sogar am Horizont in der Ferne mattblaue Höhenzüge.

»Das sind die Sudeten«, erklärte der Studienrat. »Das Allvatergebirge, der Hochwald, der Sattelwald, die Hohe Eule, die Heuscheuer, das Glatzer Gebirge und ganz hinten das Riesengebirge mit der Schneekoppe.«

»Wo – wo?« Bärbel packte aufgeregt ohne jede Ehrerbietung den Arm des Studienrats. »Die kleine Anhöhe dort, das soll halt meine liebe Schneekoppe sein?« Sicher irrte sich Herr König. Aber als Hermann, der an dem Ausflug teilnahm, ihr bestätigte, daß die mit dem Himmel verschwimmende Bergkette wirklich das Riesengebirge wäre, da stand die Bärbel und starrte in die blaue Sommerluft zu ihren Heimatsbergen hinüber, bis die Augen tränten.



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