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18. Kapitel

Von einem, der nicht wiederkam

Weihnachtlich duftete es in dem alten Rothenburger Patrizierhause. Von früh an standen Tante Brigitte und Barbara am Backofen. Da wurden unzählige Stollen gebacken, kleine und große. Köstliches Marzipan ward im Ofen gebräunt, Honigkuchen eigenhändig bereitet, denn die alljährliche große Pfefferkuchensendung von der berühmten Firma Häberlein zu Nürnberg blieb diesmal wegen Mehl- und Zuckerknappheit aus. Hier im Topplerhause aber merkte man den Krieg weiß Gott nicht. Hätten die Engländer dort hineinschauen können, so wären sie wohl an ihrer Aushungerungspolitik zweifelhaft geworden.

Mehr als je ward dieses Jahr in den schwarzen Schlund des riesigen altmodischen Backofens geschoben. Es galt ja alle Bekannten, die im Felde weilten, alle Verwundeten Magdas und manche notleidende Kriegerfamilie mit Weihnachtsgebäck zu versorgen.

Aber auch für sich selbst sparte das Patrizierhaus nicht mit Festkuchen. Wurde doch der älteste Sohn des Hauses für die Feiertage erwartet. Zum erstenmal bekam Heinz Toppler Urlaub, sollte er sich den Seinigen als junger Flieger-Leutnant vorstellen.

Tagelang vorher durchwehte die Vorfreude schon die alten gemütlichen Räume. Jedes Gesicht ward von dieser Freude durchleuchtet. Saß der Ratsherr bei seinen Schreibereien, so schmunzelte er plötzlich ganz grundlos. Das Tantchen lief wie eine Siebzehnjährige, um natürlich wieder viel zu früh mit allem fertig zu werden. Magda empfand die Enttäuschung, daß Dr. Lindner keinen Urlaub erhielt, kaum noch. So sehr freute sie sich auf ihren guten Kameraden, den Heinz. Trautchen stichelte im Schweiße ihres Angesichts an einer Schnurrbartbinde für den Bruder. Die geschäftige Barbara meinte bei jedem Kuchen, der besonders gut geraten: »Der bleibt aber für unsern jungen Herrn Leutnant!« Und all die Geister des Mittelalters, welche in den Nischen und Winkeln des alten Patrizierhauses ihr Wesen trieben, empfanden diese Vorfreude mit. Da knackte es lustig in den wuchtigen Schränken, da prasselte es übermütig im Kaminfeuer. Die Türen quietschten so fidel, und jedes der alten Möbel und Geräte blitzte und blinkte zum Empfang des jungen Kriegers.

Wenige Tage vor Weihnachten war es. Magda stand, bevor sie ins Lazarett ging, wieder auf ihrem Erkerposten, um die Briefschaften in Empfang zu nehmen. Vielleicht konnte Heinz heute schon die genaue Zeit seines Eintreffens angeben. Ach, wie sie sich auf den Jungen freute!

Da kam der greise Briefträger bereits quer über den Damm durch den Schnee gestampft.

»Grüß Gott, gnädiges Fräulein, ein ganzer Stoß Briefe, das lohnt heute!« Er händigte ihr die Post ein.

Das junge Mädchen überflog sie rasch. Ein Brief an sie von Dr. Lindner – wie die dunklen Augen plötzlich strahlten. Aber nirgends die Handschrift des Bruders. Ob er sie am Ende überraschen wollte?

Nanu – was war denn das? Da zwischen den Zeitungen lag noch ein Brief. Der trug ja ihre eigenen Schriftzüge. Die Feldadresse des Bruders stand darauf – das war ja ihr letztes Schreiben, das sie an Heinz gerichtet. Nichts weiter als das Wort »zurück« war darauf vermerkt. Was sollte denn das bloß bedeuten?

Für eine Sekunde setzte der Herzschlag des jungen Mädchens aus. Nur für eine kurze Sekunde. Dann schüttelte Magda mit Gewalt den Druck, der sich ihr plötzlich beklemmend aufs Herz gelegt, ab.

»Unsinn!« sagte sie laut zu sich selbst. Der Bruder war sicher schon unterwegs zur Heimat, darum hatte ihn der Brief nicht mehr erreicht. Natürlich, so war's!

Aber obwohl sie sich das immer wieder vorbetete, konnte Magda ein gewisses Beklemmungsgefühl den ganzen Tag über nicht los werden. Nicht einmal der Brief Erwin Lindners, der die vierte Isonzoschlacht mitgemacht hatte und die großen Ereignisse draußen so packend schilderte, vermochte sie heute zu fesseln. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken: »Es wird doch mit dem Heinz nichts auf sich haben?« Um sich dann selbst energisch auszuschelten: »Wie kann man sich bloß ganz grundlos Sorge machen! Wenn ich heute abend heimkomme, ist der Junge vielleicht schon da!«

Aber so schnell Magda auch die Schneehänge zur hochgelegenen Stadt nach Feierabend hinaufhastete, der Bruder war noch nicht gekommen. Nur Trautchen tanzte mit ihrem großen Bären im Zimmer herum und sang dabei: »Morgen kommt der Bruder Heinz,« statt »morgen kommt der Weihnachtsmann.« Da wurde auch das Herz der großen Schwester wieder leichter.

Trotzdem sah Magda am nächsten Morgen in fliegender Ungeduld bereits eine halbe Stunde zu früh dem Briefträger entgegen. Niemals hatte er solange gesäumt. Es waren nur wenige Postsachen, die seine welke Hand ihr hineinreichte. Hastig überflog Magda sie, ob eine Nachricht des Bruders darunter sei, da – sank sie wie von einer Axt getroffen lautlos zu Boden.

Die alte Barbara, welche das Frühstück hereintrug, fand ihr junges Fräulein bewußtlos an der Dielentreppe hingestreckt.

»Joseph – Maria!« – – – bei einem Haar wäre das Kaffeeservice den zitternden Händen der treuen Alten entglitten. »Unser Magdachen ist ohnmächtig –«

Aus dem Zimmer kam das Tantchen händeringend gestürzt, während der Vater seine Tochter schon in den Armen hielt. Trautchen weinte laut. Da schlug Magda wieder die Augen auf. Aber schaudernd, wie vor einem entsetzlichen Bild, schloß sie dieselben sofort aufs neue.

»Kind – Kind – was ist denn bloß geschehen?« forschte der Vater erschreckt.

»Er – ist – – – gefallen!« Die Sinne wollten dem totenblassen Mädchen schon wieder schwinden.

»Um Gottes willen, wer denn, Magdachen – der Dr. Lindner?« Die alten Augen voll Tränen, rieb Tante Brigitte mit zitternden Händen Magdas Schläfen mit Kölnischem Wasser.

»Unser – – – Heinz!« Tonlos rang es sich von den blutleeren Lippen Magdas.

Der Vater mußte sich am Treppenpfosten anklammern. Der starke Mann taumelte. Kaum vermochte er das Schreiben, das Magdas kalte Finger umklammert hielten, zu fassen.

Es war seine eigene, vor etwa acht Tagen an den Sohn gerichtete Karte. Sie trug den Vermerk »Gefallen«.

»Ich hab's geahnt – ich hab's gewußt – die ganze Nacht hat der Hund des Nachbars geheult und mein Peter war nicht zu beruhigen. Das hatte was zu bedeuten!« So jammerte das Tantchen. »Und solch schöner, lieber Junge war unser Heinz, keinem Menschen hat er je was zu Leide getan – und so gefreut haben wir uns auf ihn!« Die Stimme brach der alten Dame.

»Sowas braucht gar nicht allemal wahr zu sein,« ließ sich nun auch Barbara schluchzend vernehmen. »Beim Kupferschmied in der Rödergasse haben sie den Sohn auch totgesagt. Sogar den Beutel mit allen Habseligkeiten bekamen die Eltern zurück. Und dann hat er doch noch gelebt, und es war der Beutel von einem ganz anderen.« Dabei wischte sich die treue Seele mit der weißen Schürze, die sonst kein Knitterchen haben durfte, die unaufhaltsam über das verschrumpelte Gesicht rollenden Tränen.

Die beiden, die am allermeisten empfanden, die es am tiefsten getroffen, sprachen keinen Ton, vergossen keine Träne. Noch war ihr Weh zu starr. Und doch klammerten sie sich alle beide, der Vater sowohl wie Magda, an das winzige Hoffnungsflämmchen, das die alte Barbara entzündet. Auch der kleinste Funken leuchtet ja in schwarzer Finsternis. Wenn es möglich wäre – wenn eine Verwechselung vorläge – noch fehlte ja die Bestätigung vom Regiment.

So vergingen ein, zwei Tage zwischen namenlosem Schmerz und sich kaum hervorwagendem Hoffen. Dann war es auch damit zu Ende – das letzte Fünkchen Hoffnung verglommen.

Am Heiligabend kam ein Feldpostschreiben. Es war von dem Hauptmann der Fliegerabteilung und lautete:

 

»Sehr geehrter Herr! Zu meinem größten Leidwesen liegt mir die traurige Pflicht ob, Ihnen die Mitteilung zu machen, daß Ihr Sohn, der Fliegerleutnant Heinrich Toppler am 16. Dezember den Heldentod fürs Vaterland gestorben ist. Von einem Erkundigungsflug tief in Feindesland, der ganz besondere Anforderungen an Mut und Geistesgegenwart stellte, und zu dem er sich freiwillig meldete, ist er nicht wiedergekehrt. Das Flugzeug wurde abgeschossen, die Besatzung ist tot. Mit Ihnen beklagt das Regiment das Hinscheiden des liebenswürdigen, tapferen Kameraden, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Möge Gott Ihnen Trost verleihen!

Mit größter Hochachtung
v. Scherenberg,
Hauptmann.«

 

Der Ratsherr war vollständig gebrochen. Der sonst so willensstarke Mann vermochte seinen Schmerz nicht zu meistern. Stumm starrte er stundenlang vor sich hin. Sein Ältester – sein Stolz – der den berühmten Namen Heinrich Toppler weiterführen sollte!

Magdas Trauer war leidenschaftlich wie ihr Charakter. Auflehnen wollte sich alles in ihrer jungen Brust gegen das Fürchterliche, Unfaßbare, daß sie den geliebten Bruder nicht wiedersehen sollte. Wild und ungezügelt bäumte sich ihr Schmerz empor, bis endlich die erlösenden Tränen kamen. Da wurde ihre Trauer ruhiger, würdiger. Sie dachte daran, wie sie bei Ausbruch des Krieges so brennend gewünscht hatte, zu beweisen, daß sie bereit sei, das größte Opfer für das teure Vaterland zu bringen. Und nun, da dieses Opfer von ihr gefordert wurde, zeigte sie sich klein.

Das gute Tantchen mit seinem unerschütterlichen Gottvertrauen war es, das allmählich besänftigende Ruhe in das schmerzdurchwühlte Herz der jungen Magda goß. Daß sie nicht mehr fragte: Warum? Sondern wie die vielen, vielen deutschen Frauen demütig ihr Haupt neigen lernte: Was Gott tut, das ist wohlgetan.

Auf Werner, den Unband, machte der Heimgang des Bruders tiefen Eindruck. Als der Vater ihn mit schmerzvollen Augen anblickte: »Jetzt habe ich nur noch Dich, mein Junge –,« da gelobte sich Werner fest, dem Vater von nun an als einziger Sohn stets Freude zu machen – und er hat es gehalten.

Das wurde ein trauriger Heiligabend.

Wäre die alte Barbara nicht gewesen, es hätte wohl keiner im Topplerhause daran gedacht, dem Nesthäkchen die Weihnachtslichter zu entzünden. Da prasselte kein Kaminfeuer mehr lustig, kein alter Schrank knackte übermütig. Das kleine Gesindel, das in den Nischen und Winkeln hauste, hatte sich scheu vor dem Schmerz der Menschen verkrochen. Denn solange das alte Patrizierhaus stand, in all den Jahrhunderten hatte sich der Weihnachtsglanz der hohen Edeltanne wohl niemals in trüberen Augen gespiegelt als in diesem Jahre.


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