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6. Kapitel

Vom Frühlingswind

Tante Brigitte hatte recht behalten. Der Frühling kam. Zwar ließ er sich noch ganz hübsch Zeit. Aber die Tante rechnete ja auch nicht mit der jagenden Schnelligkeit unserer heutigen Tage. Die hatte in ihrer Jugend noch die gemütliche alte Postkutsche gekannt, die gemächlich durch Rothenburgs winklige Gassen ratterte! Ja, so kam Tante Brigittes Frühling, langsam und gemütlich.

Für die ungeduldige Jugend säumte er viel zu lange. Aber schließlich erschien doch der Tag, da Trautchen mit ihrer Puppenfamilie wieder ihre Sommerwohnung unter den rundbogigen, efeuumkletterten Galerien im Hofgarten beziehen konnte. Wo Werner glückselig seinen Drachen mit den jagenden Wolken um die Wette weit ins Taubertal hinausziehen ließ. Und Magda mit glänzenden Augen die ersten, süßduftenden Veilchen vom Burgmauerwinkel mit heimbrachte.

Auch Tante Brigitte grüßte den Frühling. Zwar vorläufig noch in Seelenwärmer und Fußsack. Denn Märztage sind tückisch, besonders wenn jeder Witterungswechsel sich in den alten Knochen durch Zwicken und Reißen verkündet. Aber sie hatte doch bereits ihren erhöhten Erkerplatz, der während des Winters wegen der kalten Zugluft verpönt war, mit Strumpfkorb und Ausbesserwäsche wieder bezogen. Es gehörte zu den schönsten Lenzfreuden des Tantchens, hier zu sitzen. Der Platz war nämlich gar nicht so harmlos, wie man auf den ersten Blick glaubte; er beherbergte einen sogenannten »Spion«. Keinen Fensterspiegel, wie ihn die meisten Frauen Rothenburgs besaßen. O nein, heimlich und unsichtbar war der Auslug in die dicke rundbauchige Erkerwand des alten Hauses eingemauert. Tante Brigitte brauchte nur die Augen von der Arbeit zu heben, dann wußte sie ganz genau, was sich alles zwischen dem Marktplatz und dem Burgtor abspielte. Da war es wohl kein Wunder, daß die Frauen des alten Patriziergeschlechts stets ihren Lieblingsplatz hier in dem gefährlichen Renaissance-Erker gehabt. Stolze Ritter, mit blinkendem Harnisch und wehenden Fähnlein, zu Turnieren oder ernstem Faustkampf aus den Toren ziehend, hatte der heimliche Auslug ihnen gezeigt. Reiche Handelsherren, welche mit denen Nürnbergs an Kunstfreudigkeit wetteiferten. Die heftigen Kämpfe zwischen den Patriziern und den Zünften hatten sich darin in späteren Jahrhunderten gespiegelt. Auf Ströme Blutes hatten sanfte Frauenaugen während der verheerenden Bauernkriege geschaut. Bis Tillys eisenklirrende feindliche Scharen dann im dreißigjährigen Kriege das Herz der von ihrem Platze Ausschau haltenden Topplerin erzittern machten. Nein, keiner sah es der kleinen unscheinbaren Maueröffnung an, daß sich die Geschichte vieler Jahrhunderte in ihr widerspiegelte.

Freilich, auch der Ausgangspunkt manchen böszungigen Klatsches war der verräterische Erker durch die Jahrhunderte hindurch gewesen, denn es hatten hier nicht immer Frauen mit so gütigem Herzen gesessen, wie es das Tantchen besaß.

Leider aber fand die Tante nur wenig Zeit jetzt für ihr Lieblingsplätzchen. Denn sie hatte Wichtigeres zu tun. Der dunkle Winter mußte zuvörderst, den Traditionen getreu, aus dem alten geräumigen Haus gekehrt werden. Das große Scheuerfest bei Topplers, das war ein untrüglicherer Frühlingsbote als Schneeglöckchen und Märzveilchen.

Der Hausherr brummte nicht darüber, wie das sonst in solcher ungemütlichen Zeit Vorrecht der Hausväter ist. Bei seinen Ahnen war es schon so gehalten worden – also auch bei ihm. Er ließ das Kratzen und Schrubbern der Scheuerbürsten, den unangenehmen scharfen Geruch nach schwarzer Seife und die durchkälteten, ausgeräumten Zimmer mit bewunderungswürdigem Gleichmut über sich ergehen. Nur wenn man ihm persönlich an den Kragen wollte oder vielmehr seinem riesigen Eichenschreibtisch, stahl sich ein leiser Seufzer aus des Ratsherrn Brust.

Seitdem Magda aus der Schule war, hatte der Vater ihr die Ehrenaufgabe zugewiesen, für die Reinigung seines Heiligtums eigenhändig Sorge zu tragen. Der Ratsherr wußte, auf Magda war Verlaß. Die verwarf kein Blättchen; keine wichtigen Briefe verschwanden bei ihr auf Nimmerwiedersehen, und seine Folianten standen ihrem Inhalte nach wohlgeordnet in Reih' und Glied. Während Barbara dieselben stets zu einem geistigen Ragout durcheinanderzumengseln pflegte, und selbst Tante Brigitte bei all ihrer Ordnungsliebe, oder vielleicht grade durch dieselbe, nicht davon abzubringen war, die Bücher recht schön nach der Größe aufzubauen, unbekümmert um ihren Inhalt.

Magda kam ihrem Amte gern nach. Alte Papiere und Handschriften fanden sich in den Fächern aufgestapelt, denn der Ratsherr Toppler war ein eifriger Sammler, der schon manchen wertvollen Fund dem Stadtmuseum überwiesen. Oft kam es allerdings dabei vor, daß das junge Mädchen, welches diese Vorliebe für alte Urkunden und Pergamente vom Vater geerbt hatte, sich allzusehr in sie vertiefte und den eigentlichen Zweck ihres Stöberns ganz dabei vergaß. Dann schrak sie zusammen, wenn Barbaras gutmütiges Poltern oder Tante Brigittes sanfter Tadel hinter ihr laut wurde.

Ach, vor dem Tantchen hatte Magda jetzt überhaupt nicht mehr Ruhe. In keinem Jahre hatte sie die junge Großnichte so zu allen Arbeiten des von derselben aus ganzer Seele gehaßten Scheuerfestes herangezogen wie diesmal. Magda ahnte, daß ihre so unverhohlen geäußerten Ansichten über moderne Mädchenerziehung, welche das Tantchen aufs tiefste erschreckt, die Ursache dafür waren. Und das kluge junge Fräulein irrte sich nicht. Tante Brigitte war zu dem Entschluß gekommen, mit alttraditioneller weiblicher Frauenbewegung in Haus und Hof, beim Putzen, Seifen und Kochen die bösen Geister der modernen Frauenbewegung, welche zu ihrem Entsetzen von dem Herzen ihrer jungen Großnichte Besitz ergriffen, auszutreiben.

Keinen ruhigen Augenblick hatte Magda mehr für ihre geliebten Bücher. Kaum hatte sie sich in irgendwelche mathematischen Ixe vertieft, so erklang sicher von unten herauf Tantes bittende Stimme: »Magdachen – ach, auf einen Augenblick, Kind.«

Aus dem einen Augenblick pflegten aber fast immer Stunden zu werden. Bald sollte Magda beim Polieren der Bilder, bald beim Waschen des antiken wundervollen Familienservices und Kristalls zur Hand gehen.

»Da laß ich die Barbara nicht gern heran, Kind; ihre Hände sind zu grobknochig für diese zierliche kostbare Arbeit.«

Meist aber mußte Magda den Küchenjungen spielen. Tante Brigitte pflegte während der Scheuerwoche selbst den Kochlöffel an dem großen, frei in der Mitte stehenden Herd drunten im Souterrain zu schwingen.

»Aber die alten Glieder wollen nicht mehr so recht, Magdachen. Die Last ist zu schwer, es wird Zeit, daß ich sie auf junge Schultern lade,« klagte das Tantchen.

Dann mußte des Ratstöchterleins rebellischer Sinn, der sich eben noch gegen Kartoffelsuppe und Kohlpudding auflehnen wollte, wohl oder übel schweigen. Denn es hatte das alte Tantchen lieb und sah ein, daß sich dasselbe zuviel aufbürdete und entlastet werden mußte. Und mit dieser Einsicht kam auch merkwürdigerweise die Freude an der neuen Beschäftigung. Magda war ja durchaus kein Blaustrumpf. Bald machte es ihr Spaß, ein Gericht selbständig bereitet zu haben. Und wenn der Vater dann gar die Speisen als besonders schmackhaft rühmte und seiner Tochter anerkennend über das goldene Gelock fuhr, dann war Magda so stolz wie nur je, wenn sie eine fehlerlose lateinische Arbeit verfertigt.

Tante Brigitte aber strahlte. Die war noch tausendmal stolzer als Magda. Nicht etwa über ihre erfolgreichen Lehrkünste, sondern über den Erfolg ihrer Künste als Intrigantin, zu denen das Tantchen zum erstenmal in ihrem siebzigjährigen Leben seine Zuflucht genommen. Tante Brigitte frohlockte. Beim Kochen wurden nicht nur die Hände, sondern auch gleichzeitig der Geist beschäftigt. Das war das beste Gegenmittel gegen alle törichten, in dieses Haus nicht hineingehörenden Gedanken.

Hätte sie freilich gesehen, wie Magda kurz darauf droben im Eckstübchen mutlos den goldschimmernden Kopf auf das dicke lateinische Lexikon sinken ließ und sich vor ihren Büchern schämte, daß sie ihnen so ungetreu wurde, daß sie Küchenmagddienste verrichtete und sogar noch Interesse dafür bekam, dann wäre Tante Brigittes stolze Genugtuung wohl geschmälert worden. Aber die Tante erfuhr zum Glück nichts davon. Nur der blinzelnde, geschnitzte Löwenkopf droben an dem wuchtigen Sekretär sah es, und der blinzelte noch erstaunter als sonst auf die junge Tochter des alten Patrizierhauses herab.

Hatte sich nicht schon mal ein goldhaariges junges Weib unter seinen Augen innerlich so gequält, um ihre Persönlichkeit in diesen Mauern der Überlieferung durchzusetzen? – –

Von Welschland her kam der Frühlingswind über die blauenden Waldberge ins liebliche Taubertal gestürmt. Er brachte frischen Erdgeruch mit, rüttelte die Singvögel hier und dort aus ihrem Winterschweigen auf, daß sie ganz leise wieder ihre Stimme zu üben begannen, ob sie es auch nicht inzwischen verlernt hätten. Den Weiden, die sich in der durch das Wiesengelände sich schlängelnden Tauber spiegelten, strich er über ihr tief gesenktes Antlitz. Da steckten sie sich eitel weichflaumige Kätzchen an ihr Frühlingskleid. Die kleinen Silberwellen des Flusses jagte er übermütig, der lose Geselle, bis sie ihren bedächtigen Lauf aufgaben und zu springen begannen, wie er selbst. Die Rebranken, die rings das alte Rothenburg umkränzten, zauste er tüchtig an den wehenden Zweighaaren, daß sie's auch wußten: Heisa – der Frühling ist da, jetzt geht's an neues Werden und Treiben. Dann aber stürmte er gegen das mauergepanzerte Städtchen hoch oben auf dem Berge selbst an, der schlimme Wicht. Einlaß begehrend pochte er an die vielen Tore und fuhr in die krausen Gassen hinein. Die morschen Giebel machte er erzittern, das alte Balkenwerk in den engen Höfen ächzen, die verstummten Brünnlein sämtlich wieder rieseln. Seinen schönsten Spaß aber hatte der ausgelassene Lenzbote mit all den mittelalterlichen Wirtshausschildern, die da an kunstvoll geschmiedeten Eisen in der Gasse zu Häupten des Vorübergehenden baumelten. Das goldene Lamm ließ er hüpfen, den Löwen die erhobene Klaue noch wilder emporschlagen. Das Pferd schien einladend zu wiehern, und all die Zeichen ehrsamen Handwerks: Der blanke Stiefel, der silberne Schlüssel und die verlockende Brezel, sie schaukelten und tanzten nach der Musik ihrer im Frühlingswind quietschenden Stange. Mit den jungen Bürgerstöchtern aber hielt er's ganz besonders, der Lose. Denen küßte er die weichen Wangen rosenrot. Und kam gar das Ratstöchterlein die Herrengasse entlangspaziert, dann fuhr er ihr mit beiden Händen in das Goldhaar, riß und zerrte mit kecker Hand an ihren Röckchen, riß und zerrte an allen ernsten Gedanken, die für solch junges Ding doch wahrlich an solchem sonnigen Märztage nicht paßten. Und er machte seine Sache so gut, daß die schwarzen Augen aufstrahlten und die leichtgeöffneten Lippen durstig das verheißungsvolle Wehen des nahenden Lenzes tranken.

Mit lachendem Munde öffnete Magda die schiefe Tür droben über der wackeligen Stiege bei ihrer Freundin Änne, daß die glaubte, der Frühling stände leibhaftig vor ihr.

»Grüß dich Gott, Magda – ei, du schaust ja aus, als sei dir etwas ganz besonders Gutes heute begegnet.«

»Ist mir auch – der Frühling – der Frühling kommt – juchhu –!« und das Ratstöchterlein warf sein Pelzmützchen, das es dem Frühling zum Trotze noch trug, jauchzend an die niedrige Zimmerdecke.

»Da, Änne – aus unserm Hofgärtchen die ersten Schneeglöckchen, du mußt doch auch wissen, daß es Frühling wird.«

»Wie lieb von dir – ja, freilich, sonst weiß ich es auch kaum. Draußen zu malen ist's noch zu kalt, und hier in die enge dunkle Gasse zu meinem griesgrämigen Onkel verirrt sich der Lenz nicht. Verzeih, Magda, wenn ich meine Arbeit nicht unterbreche, aber das muß heut abend noch fertig werden.«

»Ja, Änne, was hast denn du dir jetzt für einen merkwürdigen Vorwurf für deine Bilder genommen? Machst du Skizzen von Schlangen und Gewürm oder sollen das gar Palmen werden?« Zweifelnd blickte die Freundin auf das Kunstwerk.

»Nix von beiden. Schau, Magda, Tapetenentwürfe sind's, die gehen nach Würzburg in eine große Fabrik und werden dort ganz gut bezahlt. Dem einen ist sie die hehre, die göttliche Kunst, dem andern die milchende Kuh, die ihn mit Butter versorgt.« Änne Griebel hatte das frische Gesicht bereits wieder über die Zeichnung gebeugt und strichelte emsig darauf los.

Das Ratstöchterlein machte ein bestürztes Gesicht.

»Aber nein, Änne, das ist nicht recht von dir, daß du deine schöne Kunst derartig zum Handwerk herabdrückst. Die Maler, die jeden Sommer hier in Rothenburg Motive sammeln, haben dir doch oft genug gesagt, wenn du in vernünftige Hände kämest, könnte was Besonderes aus dir werden. Hast du denn gar keinen Ehrgeiz? Komm mit hinaus vor die Stadt, schau dir den Frühling an – den male, Änne! Aber nicht dieses stumpfsinnige Fabrikzeug hier!«

Die junge Malerin ließ einen Augenblick die fleißigen Hände feiern.

»Ei – ei – hochedles Patrizierfräulein, was weißt denn du davon, wie Hunger schmeckt! Dir ist der Tisch noch allemal reichlich gedeckt gewesen. Mit meiner sogenannten »Kunst« verdiene ich nichts, die kostet vorläufig nur Geld. Und der Onkel Berthold gibt es mir täglich zu verstehen, wie überlästig ich ihm bin. Daß er von seinem kleinen Beamtengehalt ganz anders leben könnte, wenn er mich nicht noch mit durchzufüttern hätte.« Leise und klaglos kamen die Worte von Ännes Lippen wie etwas Selbstverständliches.

In den dunklen Augen der Freundin aber blitzte es ungehalten auf. »Was – so lieblos ist dein Onkel, daß er dir das bißchen, was du von ihm erhältst, noch vorwirft! Pfui – – –!« Magda konnte nicht weiter ihren empörten Gefühlen Ausdruck geben. Denn Änne hatte ihr beschwörend die Hand auf den vorschnellen Mund gelegt.

»Pst – nicht doch so laut! Das hört ja der Onkel nebenan,« bat sie flüsternd.

.

Magda und Änne im Gespräch

»Laß es ihn doch hören, dann weiß er wenigstens, wie man seine Handlungsweise verurteilt,« knurrte das Ratstöchterlein zwar etwas gedämpfter, aber immer noch aufgebracht.

»Nein, Magda, es könnte ihm weh tun, und das wäre doch ein schlechter Dank für alles, was er an mir getan hat,« meinte Änne ernst.

»Male dir einen Heiligenschein für deinen braunen Scheitel, Änne. Denn menschliche Wesen sind einer solchen Sanftmut und Fügsamkeit nicht fähig,« lachte Magda.

Die Freundin stimmte in das helle Lachen mit ein.

Und plötzlich sah das düstere Hinterstübchen ganz verändert aus. Lange nicht mehr so dürftig und unfreundlich wie bisher. War das junge, frische Mädchenlachen, das noch durch den Raum zitterte, daran schuld? Es schien den Frühling selbst in diesen verbauten Winkel zu tragen.

Aus dem Nebenzimmer aber klang eine heisere, hüstelnde Stimme: »Anna, wer ist denn da? Nicht mal sein Nachmittagsschläfchen kann man in Ruhe machen. Und für dich wäre es wohl auch richtiger, du beschäftigst dich mit deiner Tapetenlieferung, als mit Allotria.« Hüsteln unterbrach die Fortsetzung der Vorwürfe.

Änne öffnete die kleine Tür. »Magda Toppler ist bei mir, Onkel Berthold. Es tut mir leid, daß du gestört worden bist.«

»Ach was – nichts als Undank hat man!« Diese mürrischen Worte vernahm Magda noch, ehe Änne die Tür schnell wieder zuzog.

»Mache doch nicht solch mitleidiges Gesicht, Magdachen. Der Onkel meint es nur halb so schlimm. Ist halt ein kränklicher, verknöcherter alter Herr. Ich kann's ja verstehen, daß es ihn ein großes Opfer kostete, mich als halbwüchsige Waise in sein stilles Junggesellenheim zu nehmen,« begütigte Änne.

»Er ist doch der Bruder deiner verstorbenen Mutter, Änne, und dein einziger Anverwandter. Ich finde es nur selbstverständlich, daß er für dich gesorgt hat. Wenn ich noch heute auf alle meine längst dahingegangenen Vorfahren Rücksicht nehmen und in ihrem Sinne weiter leben muß, so ist es doch wohl das mindeste, daß die lebenden Familienmitglieder für einander eintreten,« rief Magda lebhaft.

Wieder mußte Ännes fleißige Hand aussetzen, um die stürmischen Worte der Freundin zu beschwichtigen.

»Du sprichst, wie du's verstehst, mein Herz. Du hast es in deinem Leben immer gut gehabt. Wenn man selbst im Überflusse lebt, kann man's nicht ermessen, was das heißt, sein bißchen Armut noch teilen zu müssen.«

Die Worte der Freundin hallten dem Ratstöchterlein noch im Ohre nach, als es längst die ausgetretene Stiege herab war und das »Plönlein«, an dem das Häuschen, in dem Änne wohnte, lag, durchquerte. Den malerischsten Punkt von ganz Rothenburg bildete dieser Winkel, das sogenannte Plönlein. Die schief und krumm stehenden Giebelhäuschen, das alte Gebälk und jahrhundertalte Fachwerk begeisterte sowohl die Maler wie die unzähligen Fremden, die zur Reisezeit das kleine weltabgeschiedene Rothenburg überschwemmten. Die ahnten alle nicht, daß das Hausen in solchen malerisch alten Bauten weniger angenehm und bequem war als das Anschauen derselben.

Selten nachdenklich wanderte Magda Toppler die Schmiedegasse hinauf. Ihre frohe Frühlingsstimmung war verflogen. Ännes armselig freudloses Leben neben dem brummigen Onkel griff ihr ans Herz. Und wie oft hatte sie dabei die Freundin beneidet, daß sie ihren Wünschen folgen und ihre Kunst ausüben durfte. Heute war es ihr zum Bewußtsein gekommen, wie wenig beneidenswert Änne doch eigentlich war. Grade so wie die Häuschen am Plönlein – von innen sah das ganz anders aus als von außen. »Du hast es immer gut gehabt« – so neidlos hatte die Änne es gesagt. War sie nicht wirklich undankbar und verschloß ihre Augen vor all dem Guten, das ihr tagtäglich wurde, das sie ihr Leben lang als etwas Selbstverständliches hingenommen?

Vom Kapellenplatz her kam der Frühlingswind um die Ecke gejagt und pustete das Ratstöchterlein schlingelhaft an. Aber die schwarzen Augen lachten nicht zu seinem losen Treiben wie zuvor. Nachdenklich und versonnen blickten sie. Potztausend, solch schönes Kind an einem Frühlingsabend so ernst? Das wäre ja noch schöner. Kurz entschlossen wehte der Frühlingswind das goldlockige junge Ding in die weitgeöffnete Marienapotheke. Denn er wußte wohl, daß hier alle unfrohen Gedanken im Umsehen das Weite suchten.

Und wirklich – Ursels Jubellaut beim Anblick der Freundin, die stürmische Begrüßung ihrer Geschwister, der vierzehnjährigen Zwillinge, Hänsel und Gretel, Herrn Apothekers scherzhafte Begrüßung und Frau Mergentheimers warmer Gruß stimmten Magda sofort wieder froh. In der großen holzgetäfelten Parterrestube, dem Inbegriff aller Gemütlichkeit, wurde es einem jeden, der die Apotheke besuchte, wohl ums Herz.

»Weißt du schon, Magda – – –«

»Ursel will – – –«

»Nein, laßt mich – ich will es ihr selber erzählen.« Aufgeregt riefen es die Zwillinge und die große Schwester durcheinander.

»Kinder – einer nach dem andern – so verstehe ich ja kein Sterbenswörtchen.« Magda hielt sich lachend die Ohren zu.

Die Zwillinge gaben Ruhe.

»Also, ich beabsichtige einen Wandervogelverein jetzt im Frühling zu gründen,« begann Ursel lebhaft ihre Neuigkeit auseinanderzusetzen. »In andern Städten gibt's schon längst sowas – ein Bund von jungen Mädchen, die zusammen Wanderungen in die Umgegend unternehmen. Unser liebes Rothenburg kommt ja in allem hinterher gehinkt.«

»Und mit dem Rucksack und der Gitarre ziehen wir los – – –«

»Und im Freien wird das Essen abgekocht und im Heu beim Bauern übernachtet – hurra!« Die Zwillinge waren ganz aus dem Häuschen.

»Herrlich!« Magdas Augen leuchteten ebenfalls. »Wie oft habe ich es mir schon gewünscht, unser schönes Frankenland mal so richtig kreuz und quer durchstreifen zu können. Vater ist im Sommer am liebsten in seinen Weinbergen, Tante Brigitte schlecht zu Fuß. Und wenn der Heinz von Würzburg nur über den Sonntag nach Haus kommt, mag er auch nicht den ganzen Tag unterwegs sein. Wer ist noch alles dabei?«

»Doktors Vier, Bürgermeisters Trudchen, die Amtsrichter Mädel, Änne, du und wir drei sind sicher. Wir bilden das eigentliche Wandervogelnest. Aber es ist lustiger, wenn sich recht viele beteiligen. Wir wollen eine Liste in den bekannten Familien herumgehen lassen.«

»Famos – aber ob Änne wird dabei sein können?« Magdas frohes Gesicht wurde plötzlich wieder ernst. »Das arme Ding muß sich arg plagen, malt auf Mord Tapetenmuster. Wer weiß, ob sie sich frei machen kann.«

»Ach was, Sonnabendnachmittag und Sonntag kann jeder mal feiern. In der Woche habe ich doch selbst keine Zeit,« meinte Ursel leichthin.

»Grade, wenn die Änne jetzt so angestrengt ist, wird dem fleißigen Mädel ein Herauskommen doppelt gut tun,« pflichtete auch die Mutter ihrer Ältesten bei.

»Und Anregung und neue Eindrücke nimmt sie überdies von solcher Wanderung für ihre Kunst mit heim.« Feuer und Flamme war Magda für den Plan. Ehe sie ging, prangte ihr Name bereits unter der noch schnell von den Freundinnen gemeinsam entworfenen Werbungsliste für den neuen Wandervogelverein.

Beinahe wäre sie darüber zu spät zum Abendessen gekommen. Aber zum Glück trieb der Frühlingswind, der seiner jungen Freundin väterliche Schelte ersparen wollte, sie so stürmisch die Herrengasse hinunter, daß sie grade noch mit der das Essen auftragenden Barbara zugleich das Speisezimmer erreichte.

Die Haare verweht, die Wangen erhitzt, glückstrahlend die Augen und so hell und froh ihr Gruß – jedem der Anwesenden wurde es beim Anblick des jungen, frischen Blutes warm ums Herz.

Klein-Trautchen gab als erste dieser Empfindung Ausdruck.

»Freust du dich so, weil es heute abend Schinken-Omelette gibt, Magda?« erkundigte sie sich, ihren Magen klopfend.

»Nein, Liebling – aber über etwas anderes freue ich mich. Wir haben etwas Feines vor, die Ursel und ich – wir gründen einen Wandervogelverein.«

»Was?« wie aus einem Munde fragten es die um den großen, runden Tisch Sitzenden.

»Einen Wandervogelverein haben die Ursel Mergentheimer und ich eben gegründet,« lachte Magda über die erstaunten Gesichter. »Ja, freilich, ich glaub's ja, daß ihr noch nichts davon gehört habt. Wir leben ja hier in Rothenburg noch im tiefsten Mittelalter. Eine ganze Schar junger Mädchen schließt sich zusammen und macht über den Sonntag Wanderungen in die Berge und ins Land hinein. Das Essen wird im Rucksack mitgenommen und im Freien abgekocht. Manchmal übernachten wir auch in einer Bauernscheune. Ach, wird das schön werden!« Die schwarzen Augen blitzten.

»Dürfen wir auch mal dabei sein – ja, Magdachen, liebstes, bestes, einziges Magdachen, nimmst du mich auch mit?« Werner sowohl als Trautchen waren von der Begeisterung der großen Schwester bereits angesteckt. Das Kleinchen ließ sogar sein beliebtes Omelett im Stich und kletterte auf Magdas Schoß, um seiner Bitte durch Streicheln und Liebkosungen mehr Unterstützung zu geben.

»Aber Seelchen, steht man denn bei Tische auf?« mahnte Tante Brigitte leise.

»Setze dich sofort auf deinen Platz, Trautchen,« erklang da bereits die strenge Stimme des Vaters.

Klein-Trautchen kehrte beschämt zu ihrem Teller zurück. Tante Brigittes Augen hingen ängstlich an dem Hausherrn. Wie würde er sich zu der Absicht seiner Tochter – sicher doch wieder ein Erzeugnis der verpönten modernen Frauenbestrebungen – nur stellen?

Magda versicherte inzwischen im Überschwang ihres Herzens den beiden jüngeren Geschwistern, daß sie bestimmt mal mitkommen dürften auf einer Wandervogelfahrt.

»Ja, meinst du denn tatsächlich, Magda, daß du von mir die Erlaubnis zu einem solchen abenteuerlichen Plan erhalten wirst?« klang da in all die Vorfreude hinein des Vaters Wort.

Ganz bestürzt blickte Magda auf. Die lustigen, rosenroten Freudenwölkchen an ihrem Himmel waren im Nu von dräuendem Gewölk verdrängt. Konnte der Vater im Ernst seine Einwilligung versagen?

»Sie dürfen doch alle, Vater. Die Ursel, Doktors Vier, Amtsrichters und sämtliche anderen Mädels von den Honoratioren. Selbst Änne wird teilnehmen. Warum soll ich denn da als einzige zurückbleiben?« Mühsam niedergehaltene Empörung sprach aus Magdas Worten mit.

»Weil ich nicht wünsche, daß eine Tochter des Hauses Toppler wie eine Landstreicherin in der Welt herumvagabundiert.« Für den Ratsherrn galt die Angelegenheit als erledigt.

Magda legte die Gabel beiseite. Grenzenlose Enttäuschung würgte sie im Halse. Wurde ihr nicht jede Freude durch eingefleischte Vorurteile vergällt? Stieß sie sich nicht die Stirn wund an den alten Mauern des Hauses, die den Gesichtskreis einengten? Alle die Ahnenbilder da drüben an der Wand, so streng blickten sie, so unerbittlich wie der Vater selbst. Und da meinte Änne Griebel noch, sie habe es immer gut. Es war zum Lachen, wenn man nicht darüber weinen wollte.

Tante Brigitte mit ihrem feinfühligen Frauenherzen sah wohl, wie schwer dem jungen heißblütigen Nichtchen das Sichfügen heute wieder mal wurde. Wenn sie auch die Ansicht des Ratsherrn durchaus teilte, daß ein junges Mädchen aus guter Familie nicht wie ein Handwerksbursch auf der Landstraße einherzuwandern hatte. Das junge Ding tat ihr leid.

»In meiner Jugend, Magdachen, kamen wir Freundinnen zu sogenannten Stricknachmittagen zusammen. Da wurde auch gescherzt und dem Jugendfrohsinn Rechnung getragen und dabei doch etwas Nützliches gefördert. Vielleicht ließe sich euer Verein nach solchem altbewährten Rezept gestalten.« schlug sie freundlich vor.

»Aber Tante – unser Wandervogelverein und deine Stricknachmittage stehen sich doch ganz entgegengesetzt gegenüber. Stricknachmittage – die Mädel würden mich schön auslachen, wenn ich ihnen mit einer solch vorsintflutlichen Idee käme. Heute strickt man nicht mehr – – –«

»Leider nicht! Mit dem Strickzeug haben die Frauen auch die Weiblichkeit abgelegt. Die da oben« – der Ratsherr wandte das Gesicht den hochgetürmten Frauenköpfen an der Wand zu – »die sind mit ihren Spinnrädern zum »Lichten« zusammengekommen. Damals gab's noch Zucht und Sitte. Aber in meinem Hause wenigstens halte ich sie auch heute noch aufrecht.«

»Vater, das verstößt doch in keiner Weise gegen gute Zucht und Sitte, wenn junge Mädchen in frohem Beieinander sich Gottes schöner Natur erfreuen. Im Gegenteil, das ist gesund für Körper und Geist und macht frisch für die Arbeit des Werkeltages.« Noch einmal versuchte Magda ihr Heil.

Ach, sie wußte es ja eigentlich vorher, daß von der eckigen Stirn ihres Vaters jeder Einwand abprallte.

»Wenn du frische Luft genießen willst, magst du dich in unsern Weinbergen ergehen. ›Es ist gesund‹, das ist jetzt stets das Schlagwort, das grade das Krankhafte unserer heutigen Zeit bemäntelt. Früher waren die Leute gesünder als heute – und nun möchte ich von der Angelegenheit nichts mehr hören.«

Klein-Trautchen mußte sich heute sehr wundern. Das leckere Schinken-Omelett auf Magdas Teller blieb fast unberührt liegen. Und als die große Schwester sie wie allabendlich zur Ruhe brachte, fand sie weder Scherzwort noch Liebkosungen für die Kleine wie sonst. Still und einsilbig ging Ausziehen und Waschen heute vor sich.

Und noch einer wunderte sich sehr über seine junge Freundin: der Frühlingswind. Der pfiff, sang und geigte um das alte Patrizierhaus, so schön er es nur konnte, aber das Ratstöchterlein hatte dessen nicht acht. Mit geballten Händen und tränenbrennenden Augen schritt es in dem kleinen Eckstübchen hin und her – hin – her. Magda vermochte ihre sich auflehnenden Gedanken heute nicht zur Fügsamkeit zu zwingen. Auch in den feinen Linnenkissen mit den breiten handgeklöppelten Spitzeneinsätzen warf sich der goldlockige Mädchenkopf noch rebellisch hin und her.

Da schwang sich der Frühlingswind hinauf auf den winzigen Balkon des Mädchenstübchens. Und wie dereinst die Minnesänger es hier in Rothenburg getan, so brachte er dem schönen jungen Fräulein beim Mondenschein sein Ständchen. Zart und hold, bis sich Ruhe in das erregte Gemüt des Ratstöchterleins ergoß und die goldenen Wimpern sich senkten.

Der Frühlingswind aber jagte in wildem Ritt um die Stadtmauern, daß morsches Steinwerk zu bröckeln begann. Er rüttelte an den schweren Eisenketten der gewaltigen Torbrücken und jagte die Käuzlein und Uhue aus ihren Turmschlupfwinkeln auf.


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