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11. Kapitel

Von alten Mauern und jungen Menschen

Der Festtrubel war verrauscht. Ruhe wieder in das abseits vom Weltgetriebe gelegene Tauberstädtchen eingekehrt. Die alten, malerischen Trachten waren bis zum nächsten Jahre in die Vergessenheit der eisenbeschlagenen Truhen versenkt, die Träger derselben wieder an ihre alltägliche Pflicht gegangen. Nur die Erinnerung an den Festtag war geblieben und warf ihren Abglanz auf die nüchterne werktägliche Arbeit.

Des Ratstöchterleins Interesse für die schöne Magdalena Hirsching war mit dem Festspiel nicht erloschen. Magdas Eifer und unermüdlichem Fleiße war es gelungen, schon einen ganz beträchtlichen Teil für die Topplersche Familienchronik aus den Tiefen der Rumpelkammer herauszustöbern. Aber gerade von Magdalena Hirsching, welche die Geschichte verherrlichte, schwiegen jene zerrissenen Urkunden und halb vernichteten Aufzeichnungen.

Tante Brigitte hatte zuerst mit mißtrauischen Augen die häufigen Ausflüge in die Rumpelkammern beobachtet. Ihr weiblicher Spürsinn ließ dem alten Tantchen keine Ruhe, ob das Interesse Magdas wirklich nur der glorreichen Vergangenheit der Topplers gelte. Aber seitdem die Nichte sie in ihre Absicht eingeweiht hatte, den Vater zu seinem fünfzigsten Geburtstag mit der Familienchronik zu überraschen, war Tante Brigitte für das Werk gewonnen. Sie selbst berichtete, soviel sie wußte, aus den Annalen der Vorgeschlechter. Nur über ein Kapitel bewahrte sie Schweigen; das war das, welches ihrer jungen Nichte besonders am Herzen lag.

Soviel auch Magda anzapfte, sie bekam nichts weiter aus der Tante heraus, als: »Die Geschichte preist Magdalena Hirsching als Heldin. Wir Topplers haben eigentlich keinen Grund, sie zu feiern – im Gegenteil. Am besten, du sprichst so wenig als möglich in deiner Familienchronik von ihr, Kind.«

Je mehr man ein Geheimnis verschleiert, um so verlockender wird es. Mit der Neugierde einer richtigen Evastochter brannte jetzt das Ratstöchterlein darauf, zu erfahren, wie das Leben der Ahnfrau Magdalena sich in diesen Mauern abgespielt haben mochte.

Bei ihren geschichtlichen Familienforschungen wurde ihr von unerwarteter Seite wertvolle Hilfe. Dr. Lindner begleitete den Bruder jetzt fast regelmäßig bei seinen Sonntagsbesuchen. Der Ratsherr hatte recht gehabt. Rothenburg zeigte sich bei eingehendem Studium als eine wahre Schatzgrube für einen kulturhistorischen Forscher. Die alte befestigte Stadt, wegen ihrer eigenartigen Lage hoch auf dem nach drei Seiten steil abfallenden Berge das »fränkische Jerusalem« genannt, hatte bereits zur Zeit der Hohenstaufen eine wichtige Rolle gespielt und von Barbarossa seine Reichsfreiheit erhalten.

Der Doktor war bald ein guter Freund des Hauses Toppler geworden. Der Ratsherr strahlte, wenn er mit ihm von den Kämpfen, die um die alten Mauern Rothenburgs einst getobt, sprechen konnte. Noch lieber aber sprach er von der Blütezeit seiner Heimat, wie sie Reichtum und Kunst in ihren Mauern aufgehäuft. Und da war es ihm wohl nicht zu verdenken, daß er dann besonders gern bei seinem Vorfahr, dem berühmten Heinz Toppler, verweilte.

»Er war ebenso energisch wie rücksichtslos – unsere Energie führen wir Topplers auf ihn zurück – leider ging er später an seinen ehrgeizigen Plänen zu Grunde. Mit Recht hat Rothenburg ihm ein Denkmal am Burgplatz gesetzt.« Patrizierstolz sprach aus jedem Worte des Ratsherrn.

Der Geschichtsforscher unterbrach hin und wieder mit einer kurzen überlegten Frage und machte sich seine Notizen. Und auch das Ratstöchterlein, das mit heißen Wangen lauschte, notierte sich das Gehörte in ihrem hübschen Köpfchen. Das mußte alles in ihre Familienchronik.

Von Dr. Lindner lernte Magda es, die durcheinanderlaufenden Fäden des verworrenen Familienknäuels geduldig zu entwirren. Sie lernte alte Papierfetzen wieder kunstvoll zu ergänzen; er half ihr beim Entziffern unleserlicher Pergamente und zeigte ihr, wie man Ordnung und System in solch eine Chronik bringt. Gemeinschaftlich mit Heinz wurden die Rumpelkammern des alten Patrizierhauses durchstreift. Nicht nur für Magda war die Ausbeute lohnend, sondern auch für das neue Geschichtswerk des Doktors.

Ihren großen Schreibtisch betrachtete er eingehend. »Solch altes Familienmöbel pflegt seine Geheimnisse zu haben,« meinte er sinnend. »Da wird sich vielleicht noch manches Brauchbare finden. Am Ende hat es gar ein Geheimfach.« Magda wußte nicht, ob der Doktor Scherz oder Ernst mache. Jedenfalls aber nahm sie sich vor, mal gelegentlich nach einem Geheimfach zu suchen. Leider aber ohne jeden Erfolg.

Was für herrliche Sommersonntage waren das, wenn Dr. Lindner mit den Topplerschen Kindern die historischen Stätten durchstreifte. Klein-Trautchens Schüchternheit hatte der fremde »Onkel« alsbald mittels einer Tüte Bonbons besiegt. Werner hatte sein Unbehagen dem zukünftigen Lehrer gegenüber vor Dr. Lindners aufmunternder Freundlichkeit gänzlich verloren. Und den beiden Großen, Heinz und Magda, gab er aus dem Reichtum seines Wissens und aus der Tiefe seines Gemütes jedesmal soviel, daß Magda alsbald die Verehrung des Bruders für seinen einstigen Lehrer teilte. Unbewußt zehrte sie die sechs Wochentage von der Rückerinnerung an den verflossenen Sonntag und von der Vorfreude auf den nächsten.

Ohne Herzweh konnte sie jetzt wieder an dem Strafturm, dem nunmehrigen Wandervogelnest, vorübergehen. Ob auch noch so muntere Stimmen aus seinen vergitterten Fenstern zwitscherten, Magda sah die Freundinnen ohne jedes Neidgefühl ins Freie flattern.

Sie selbst hatte ja jetzt viel Schöneres. Sie setzte ihren Ehrgeiz darein, stets etwas Neues aus Rothenburgs altem Erinnerungsschatz herauszufinden, um den Doktor am Sonntag dadurch zu erfreuen. Aber meistens kam es dann so, daß sie nicht die Gebende, sondern die Nehmende war.

»Heinz, heute wollen wir mit Herrn Dr. Lindner zur Jakobskirche,« schlug die Schwester an einem Sonntag vor.

»Ja, Kinder, unsere Kirche müßt ihr dem Herrn Doktor zeigen,« stimmte der Vater bei. »Darauf sind wir Rothenburger mit Recht stolz. Zwei Jahrhunderte haben daran gebaut, aber dafür ist sie auch eines der schönsten gotischen Gotteshäuser ganz Süddeutschlands geworden.«

»Viele, viele Jahre hindurch, so erzählt man, mußten alle Bürger jede Woche einen Heller Baugeld spenden,« berichtete nun auch Tante Brigitte. »Ja, ja, Arbeit im Kleinen kann auch Großes fördern.« Die alte Tante blickte kopfnickend dabei zu der jungen Magda herüber, die sich aus dem kleinen Pflichtenkreis daheim hinaus zu Größerem sehnte.

Magda aber schoß heute den Vogel ab. Die erzählte dem aufhorchenden Gelehrten, während sie die wundervollen schlanken Türme mit ihren zierlich durchbrochenen Lauben bewunderten, von der Sage, welche die beiden Kirchtürme umflatterte. Daß der eine vom Meister, der andere von seinem Polier geschaffen sein sollte, und daß der Meister sich vom Turme herabgestürzt hätte, weil das Werk seines Gesellen schöner geraten sei als sein eigenes.

Wie stolz war sie, als der Doktor ihr für die hübsche Erzählung freudig dankte und sie seinem Notizbuch einverleibte.

Innen in der Kirche aber war es umgekehrt. Da war es der Doktor, der erzählte. Er machte seine jungen Begleiter auf die herrliche Glasmalerei der alten Kirchenfenster mit ihren wunderbar leuchtenden Goldtönen aufmerksam, die sie bisher nie beobachtet. Von den berühmten Altären wußten die Patrizierkinder lediglich, daß der eine von ihrem Vorfahr, dem Bürgermeister Heinz Toppler, gestiftet worden sei. Doktor Lindner aber wußte noch manches andere davon: Daß sie als ein Meisterwerk deutscher Holzschnitzkunst anzusehen seien und worin ihre besondere Schönheit läge. Daß mehrere von Tilman Riemenschneider herrührten, dem bedeutendsten Meister altdeutscher Holzschneidekunst. Und daß sich Werke von dem nicht weniger berühmten Michael Wohlgemuth, dem Lehrer Albrecht Dürers, von Adam Krafft und Martin Schongauer, welche die deutsche Kunstgeschichte mit Verehrung nennt, hier in den Kirchen des alten Rothenburgs befänden.

Eigentlich wußte der Doktor von allem etwas historisch Interessantes. Gingen sie über den Marktplatz und Magda zeigte ihm, wo Freundin Ursel wohnte, so machte er sie dafür auf das »Goldene Lamm« aufmerksam, an dem sie stets achtlos vorübergegangen waren. Wie Florian Geyer einst hier mit seinen Genossen an dem Zechtisch die furchtbaren Plünderungszüge des Bauernkrieges beraten, berichtete er. Wie er von der Empore der Jakobskirche eine zündende Brandrede in die friedlichen Herzen der Rothenburger Bürgerschaft geschleudert. Und von dem Blutgerüst, das man auf dem Marktplatz errichten ließ, auf dem die Hauptanstifter des Bauernkrieges ihr Leben lassen mußten. »Sieht man es der sauberen, so traulich ausschauenden Schmiedegasse wohl an, daß hier das Blut einst im Mittelalter wie ein Bach heruntergeflossen ist?« schloß er.

Mit brennenden Wangen und leuchtenden Augen pflegte das Ratstöchterlein solchen anregenden Berichten zu lauschen. Die Vergangenheit Rothenburgs hatte sie stets gefesselt. In der Schule hatte sie nur trockene Geschichtszahlen zu erfahren bekommen, und daheim hörte sie davon nur soviel, wie die Topplersche Familie mit diesen historischen Vorgängen verknüpft war. Jetzt lernte sie aus unbefangenen Augen sehen. Eine ganz neue Welt tat sich vor Magda auf. Auch die Schönheit ihres Heimatsstädtchens genoß sie doppelt, da der Doktor davon so entzückt war. Sogar die alten, engen Höfe mit ihrem Balkenwerk, auf die das Ratstöchterlein sonst ein wenig naserümpfend herabgesehen, offenbarten ihr jetzt ihre Schönheit. Das bröcklige, verwitterte Mauerwerk, in das allenthalben blühende kleine Gärtchen hineingestreut waren, die bezaubernden Durchblicke aus den hochgelegenen Straßen durch den Ausschnitt der alten Tore in den weiten Talgrund hinein – es war Magda, als ob ihr in diesem Sommer zum erstenmal ganz die Schönheit des alten Städtchens aufgegangen sei. So eng und bedrückend waren ihr die Mauern Rothenburgs doch vor kurzem noch erschienen. Wie hatte sie sich hinaus gesehnt aus der begrenzten Atmosphäre in die große Stadt. Hatte sie denn ihre Wünsche, die beim Vater auf so heftigen Widerstand gestoßen, wirklich ganz aufgegeben?

Nein – nein! Mehr als je dachte Magda daran, wie herrlich es sein müsse, in Würzburg gemeinsam mit dem Bruder studieren zu können, vielleicht gar Vorlesungen an der Universität bei Dr. Lindner zu hören. Ach – das würde sich wohl niemals verwirklichen!

Eines Sonntags war Heinz nicht mit nach Rothenburg gekommen. Er machte mit Kommilitonen einen Ausflug. Auch Werner war mit seiner Schule unterwegs. Klein-Trautchen, dem die historischen Abhandlungen der großen Schwester und des neuen Onkels schon längst langweilig geworden waren, fand es tausendmal lustiger, mit Tante Brigittes schwarzem Pudel die steilen Weinberge hinabzusausen.

Das Tantchen befand sich heute in einem argen Zwiespalt. Sie saß mit ihrer Frivolitätenarbeit in gemächlicher Sonntagsruhe auf dem Bänklein unter der schattigen Reblaube. Der Ratsherr in Hemdsärmeln bastelte an seinen Weinstöcken herum. Droben an dem niedrigen eisernen Pförtlein, das aus dem Hofgarten in die Stadtmauer eingelassen war und durch welches man gleich in die Weingärten gelangte, stand Magda und besprach mit dem Sonntagsgast, daß sie heute das Rathaus besichtigen wollten.

Tante Brigitte schüttelte ihren Kopf.

»Heinrich, es geht doch nicht an, daß wir das Magdachen allein mit dem Doktor in der Stadt herumlaufen lassen,« begann sie flüsternd. »Er ist ja ein ernster, gelehrter Mann, der nur an sein Geschichtswerk denkt, aber du kennst doch die bösen Zungen hier in unserer guten Stadt Rothenburg.«

»Ach was,« der Ratsherr runzelte die Stirn. »Ich bin froh, daß das Kind durch den Herrn Doktor die ruhmreiche Vergangenheit Rothenburgs so gründlich kennen lernt. Da gibt's doch wirklich nichts zu schwatzen.«

»Gewiß nicht – gewiß nicht,« beeilte sich das Tantchen zuzugeben. »Aber was haben die Rothenburger am Sonntag anderes zu tun, als aus den Fenstern zu liegen und die Vorübergehenden durchzuhecheln. Da ist im Umsehen der Klatsch bei der Hand – – –«

»Nun, so begleite sie als dame d'honneur, Tante Brigitte, ich kann von meinen Weinstöcken nicht fort.«

Die alte Tante seufzte unhörbar.

Die ganze Woche war sie für das Haus ihres Neffen tätig – und sie tat es ja gern – aber ihr Sonntagsstündchen, das opferte sie nur schweren Herzens. Das historische und das architektonische Interesse der alten Dame war auch nicht gerade groß. Herrgott, sie hatte doch alles ihr Leben lang hier in Rothenburg gesehen, warum sollte sie darüber plötzlich in Begeisterung geraten.

Da kam es im Eilschritt den schmalen Rebgang herab. Langsamer folgte der Doktor.

»Vater, Tantchen, wir wollen auf den Rathausturm steigen, man soll eine herrliche Aussicht von dort oben haben,« rief Magda schon von weitem.

»Wa – as – auf den Rathausturm?« Die Absicht erschien der alten Tante so ungeheuerlich, als ob sich ihre junge Großnichte erkühnen wollte, auf den Mond zu klettern. Über siebzig Jahre lebte sie nun schon hier in Rothenburg, aber war es ihr wohl jemals eingefallen, auf den Rathausturm zu steigen? Es wurde ihr schon schwindlig, wenn sie nur von unten zu der kolossalen Höhe emporblickte.

»Ei – ei, Herr Doktor, eine regelrechte Hochtour wollen Sie wagen? Freilich, lohnen soll es sich, besonders bei der klaren Beleuchtung heute. Na, Tantchen, wie ist es, willst du mit auf den Rathausturm?« neckte der Ratsherr.

»Barmherziger!« Tante Brigitte hielt sich auf ihrem Laubenbänkchen schon jetzt beide Augen zu. »Es ist ein tollkühnes Unternehmen, Herr Doktor. Man soll den Himmel nicht versuchen. Sie sind ja ein zuverlässiger, bedachter Herr. Aber Magdachen ist ein unvernünftiger Sausewind – keine ruhige Minute habe ich, wenn ich das Kind in solcher Gefahr weiß.«

»Es ist wirklich keine Gefahr dabei, gnädige Frau,« beeilte sich der Doktor lächelnd zu versichern. »Sonst würde doch der Besuch des Turmes kaum gestattet sein.«

»Na, zu deiner Beruhigung, Tantchen, werde ich die Herrschaften begleiten.« Der Ratsherr Toppler griff nach seinem Rock. Eigentlich tat er es mehr zur Beruhigung der Rothenburger Zungen. Tante Brigittes Hinweis auf den Stadtklatsch war doch nicht so ganz spurlos an ihm vorübergegangen. Das Topplerhaus, das allen im Städtchen voranstand, mußte auch den Schein vermeiden.

»Heinrich, du bist doch selbst nicht schwindelfrei – wenn auch du dich noch an dem wagehalsigen Unternehmen beteiligst, muß ich doppelt zittern,« jammerte das ängstliche Tantchen.

»Dreifach hoffentlich, gnädige Frau, ein wenig bitte ich mir auch von Ihrer Sorge aus,« scherzte Dr. Lindner. Sie waren gut Freund geworden, die alte Dame und der junge Gelehrte. Nachdem Tante Brigitte zuerst gefunden, daß der Doktor reichlich oft kam, und nachdem sie sich genügend mit der Frage auseinandergesetzt, ob wohl im Städtchen darüber geredet würde, hatte die prächtige, wertvolle Art des jungen Historikers, sein bescheidenes, freundliches Wesen die Tante gewonnen. Sie rechnete jetzt mit regelmäßiger Bestimmtheit auf den Sonntagsgast und war ärgerlich, wenn er mal ausblieb.

»Sorge dich nicht, Tantchen, ich besteige den Turm nicht mit, ich warte unten,« beruhigte der Ratsherr die alte Dame beim Abschied.

»Ja, Vater fängt uns auf, wenn wir herunterfallen sollten,« lachte die lose Magda.

»Man darf den Teufel nicht an die Wand malen, Kind,« mahnte Tante Brigitte mit erhobenem Zeigefinger.

Auch der Vater drohte lächelnd der Übermütigen. Der Doktor aber stimmte mit gutem, warmem Lachen in das helle des Ratstöchterleins ein. Wie es von tausend kleinen Schalkteufelchen in den großen schwarzen Mädchenaugen aufblitzen konnte – ja, solch ein gelehrter Herr machte allenthalben seine Studien.

Aber als die beiden dann hoch oben auf dem Turme, hoch über all dem Kleinen und Alltäglichen standen und andächtig über den zackigen Mauernkranz hinweg in das weite, weite Land mit seinen Tälern und Höhen hinausblickten, waren die samtdunklen Augen wieder ernst geworden. Da sprach Magda zum ersten Male dem Freunde von ihren Wünschen und ihrem Sollen. Daß sie nach dem Willen des Vaters dazu gezwungen sei, in der Enge der Heimatsgassen und des Hauses ihre Befriedigung zu finden, während es sie doch hinauftreibe zu der Höhe geistigen Schaffens, hinaus ins Freie.

»Und nun habe ich den unfruchtbaren Kampf doch aufgegeben, Herr Doktor. Ich mag den Vater nicht immer wieder aufs neue erzürnen. In unseren Mauern steht die Geschichte still, der Fortschritt bleibt draußen. Man stößt sich bloß das Herz wund, wenn man dagegen anläuft. Es ist wohl das richtigste, ich füge mich, wenn's mir auch schwer wird,« schloß sie erregt, und es klang durchaus nicht fügsam.

Die ernsten grauen Augen des Doktors waren teilnehmend dem lebhaften Mienenspiel des zarten Gesichts gefolgt.

»In einem Tage ist Rom nicht erbaut worden, Fräulein Magda. Sie können von einem in sich gefestigten, ja ziemlich starren Charakter, wie es der Ihres Herrn Vaters ist, nicht verlangen, daß er von heute zu morgen seine Ansichten, die sich auf Überlieferungen stützen, umwirft. Wiederum, wenn er sieht, daß es Ihnen Ernst ist mit Ihrem geistigen Streben, wird er sich allmählich in den ihn fremd anmutenden Gedanken hineinfinden. Steter Tropfen höhlt den Stein – man muß nicht gleich die Flinte ins Korn werfen.«

Magda senkte den Kopf mit den schweren Goldzöpfen. »Ich habe mich freilich gleich entmutigen lassen,« gab sie ehrlich zu. »Auch die Lust zum Lernen und die Freude an den Büchern habe ich alsbald verloren. Die Arbeit an der Familienchronik sollte mir Ersatz bieten.«

»Das wird sie niemals, Fräulein Magda. Im Augenblick vielleicht, aber später werden Sie die innere Leere doppelt empfinden. Wenn man die Forschung vergangener Zeiten nicht beruflich betreibt, wird es immer nur Feiertagsarbeit bedeuten. Sie dürfen über dem Alten nicht die Anforderung der neuen Zeit außer acht lassen. Wer rastet – rostet. Jeder Stillstand bringt ein Zurück, bedeutet Zeitvergeudung.« Niemals hatte jemand Magda so ernst genommen, nie hatte sie sich so verstanden gefühlt wie hier hoch oben zwischen Himmel und Erde.

»Ist unfruchtbare Arbeit nicht auch Zeitvergeudung, Herr Doktor? Wenn man von vornherein weiß, du erreichst doch nichts damit, höchstens – ein unerquickliches Aneinandergeraten mit dem Vater, den man erfreuen möchte?«

»Ich bin gewiß der Letzte, Fräulein Magda, der ein Kind gegen den Willen des Vaters zu etwas anspornt. Aber ich stehe auf modernem Standpunkt und bin der Ansicht, ungehemmte freie Entwickelung ist ein Recht der Jugend. Geisteskräfte darf man nicht brach liegen lassen, das hieße sein Pfund vergraben. Ich habe Sie in diesen Wochen als ein strebsames, befähigtes Menschenkind kennen gelernt. Ich halte es für meine Pflicht, Sie anzuregen, nicht auf halbem Wege entmutigt umzukehren.«

»Sie haben ja recht, tausendmal recht haben Sie, Herr Doktor. Was Sie mir sagen, habe ich in letzter Zeit oft genug selbst empfunden. Ich will mein Pfund nicht vergraben, ich will wieder zu arbeiten beginnen. Wenn ich nur nicht aufs neue kleinmütig werde,« rief Magda lebhaft.

»Dafür lassen Sie Ihren Bruder Heinz und mich nur sorgen. Übrigens ich habe mal einen gekannt, dem ging es ähnlich wie Ihnen, wenn auch aus andern Gründen. Der sollte auch seinen geliebten Büchern Lebewohl sagen und nach dem Willen seines praktischen Vormundes in den engen Mauern eines Kontors seine Pflicht tun. Da sagte der Betreffende – es war ein guter Bekannter von mir – ›ich will – ich muß es durchsetzen, zu studieren!‹ Leicht ist es ihm wohl nicht immer geworden. Der mittellose, nur aufs Stundengeben angewiesene Musensohn weiß nicht viel vom fröhlichen Studentenleben. Aber die Befriedigung, sein Ziel erreicht zu haben, vergoldet in der Erinnerung alle Schwierigkeiten, jede Mühsal.« Die klaren, grauen Augen des Gelehrten blickten hell ins Land hinaus.

»Sie waren selbst jener Student, Herr Doktor?« Teilnahme und Bewunderung strahlten Magdas schwarze Sterne.

»So ist es, Fräulein Magda. Arbeit, die nicht säuert, süßt auch nicht. Und nun wollen wir aus unserer Höhe wieder zu den alltäglichen Gefilden der Menschen herabsteigen. Sonst denkt Tante Brigitte im Ernst noch, es ist Ihnen ein Unglück zugestoßen.«

»Für die Begriffe des Tantchens ist es das wirklich, wenn ich den mit altmodischen Blumen umsäumten Pfad des braven Haustöchterchens wieder verlasse,« meinte Magda schelmisch.

»Das sollen Sie gar nicht, Fräulein Magda. Unsere Mädchen und Frauen von heute haben es bereits bewiesen, daß sie Beruf und Häuslichkeit sehr wohl zu vereinigen wissen. Intelligenz kommt jeder Hausfrau zugute. Und die geistig ebenbürtige Gattin vermag dem Manne entschieden eine wertvollere Kameradin, ihren Kindern die einsichtsvollere Erzieherin zu werden.«

Die schmale, kühn gewundene Wendeltreppe ging es wieder hinab. Im großen Sitzungssaale erwartete der Ratsherr die beiden. Die Zeit war ihm nicht lang geworden. Er hatte die aus dem »Meistertrunk« entnommenen Wandgemälde studiert und dem Kastellan einen Vortrag über die glorreiche Vergangenheit der Toppler gehalten.

»Na, war die Aussicht lohnend?« empfing er die Zwei.

Die bejahten eifrig, hatten aber alle beide das Gefühl, als ob die Einsicht dort oben noch lohnender gewesen sei.

Von der Höhe ging es in die Tiefe. Unbedingt mußte der Ratsherr dem Doktor noch die Folterkammer zeigen, in der einst sein berühmter Ahnherr Heinz Toppler auf Befehl Ruprechts von der Pfalz sein Leben in furchtbaren Qualen lassen mußte.

Der Doktor betrachtete mit dem eingehenden Interesse des Forschers die grausamen Marterwerkzeuge. Seiner jungen Begleiterin aber ward es ganz beklommen da unten. Sie atmete auf, als sie aus der Finsternis des Mittelalters wieder emporstiegen zum Sonnenlicht des goldenen Junitages.

Auch auf dem Heimweg war Magda nicht so lebhaft wie sonst. Ging ihr das Gespräch vom Turm her noch nach? Nein, das war es nicht allein. Als der Ratsherr einen Augenblick mit einem Bekannten stehen blieb, meinte sie bedrückt zu dem Doktor: »Ich habe ein arg schlechtes Gewissen gegen den Vater. Ich kann ihn nicht ehrlich anschaun; als ob ich auf Verrat sinne, so ist es mir.«

»Oh, das darf nicht sein, liebes Fräulein Magda,« ganz bekümmert blickte der Doktor drein. »Wenn Sie es wünschen, will ich Ihrem Herrn Vater sagen, daß ich Ihnen den Rat gegeben habe, Ihre Studien fortzusetzen.«

»Um Himmelswillen nicht – dann haben Sie für immer bei ihm verspielt, Herr Doktor. Dann erlaubt er bestimmt nicht mehr, daß ich an Ihren Forschungen hier in Rothenburg weiter teilnehme – bloß das nicht! Lieber gebe ich mein eigenes Studium preis!« Leidenschaftlich rief es das Ratstöchterlein.

Man brauchte gar kein Forscher zu sein, um aus diesen impulsiven Worten herauszuhören, wieviel dem jungen Mädchen an den gemeinsamen Bestrebungen lag. Warm flutete es dem Gelehrten ans Herz, und vor ihm öffnete sich ein Ausblick in die Zukunft, so hell und golden, wie in das sonnenbeschienene Tal mit seinen goldenen Feldern drunten. Aber die Saat reifte der Ernte erst entgegen – noch hieß es in Geduld warten.

»Sehen Sie den wilden Rosenbusch dort an der verwitterten Stadtmauer, Fräulein Magda? Altem, morschem Gestein entsprießt er, sucht sich trotz des Eingeengtseins seinen Weg zu Licht und Sonne und blüht in herrlicher Üppigkeit um seiner selbst willen. Er weiß es nicht, daß wir hier vorübergehen und uns an seinem Anblick freuen. So müssen auch Sie Ihre Arbeit auffassen – als Selbstzweck. Zu Ihrer inneren Befriedigung und Bereicherung lediglich. Ob Ihr Streben später einmal zum Studium führen wird, soll Sie vorläufig noch in keiner Weise beschweren. Ich glaube, daß selbst Ihr Herr Vater, wenn Sie Ihre häuslichen Pflichten darüber nicht vernachlässigen, gegen eine derartige geistige Arbeit nichts einzuwenden hat.«

»Wenigstens nicht soviel. Sie haben mir das Herz wieder leicht gemacht, Herr Doktor. Sie verstehen es stets, mir das rechte Wort zu sagen.«

Dankbar strahlten ihn die sprechenden dunklen Augen an.

Da hatte der Ratsherr seine Unterhaltung abgebrochen und die langsam Vorhergehenden eingeholt.

An dem niedrigen Pförtlein in der alten Stadtmauer aber stand das alte Tantchen und schaute mit angstheißem Gesicht den tollkühnen Hochtouristen entgegen.


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