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14. Kapitel

Aus vergilbten Blättern

Am nächsten Morgen stand die moderne, aufgeklärte Magda noch immer unter dem Eindruck ihres Traumes. Sie mußte davon zu einer Menschenseele sprechen. So erzählte sie Tante Brigitte ihren Traum.

»Du hast zuviel Leberspätzli gestern abend gegessen, Kind, davon hast du Alpdrücken bekommen.« So deutete ihn das Tantchen prosaisch.

Die ab- und zugehende Barbara aber schüttelte energisch ihre schöngefaltete Sonntagshaube.

»I bewahre, Magdachen, von meinen Leberspätzli hat noch kein Mensch Geister zu sehen gekriegt. Aber das weiß doch jeder: Was so ein echtes rechtes Patrizierhaus ist, da spukt es. Und je älter und vornehmer solch ein Haus ist, um so mehr Geister gehen darin um.« Ihre laute Stimme, wie sie Schwerhörigen eigen ist, dämpfte sich zum Flüsterton herab.

Magda lachte hell heraus.

Tante Brigitte aber sagte verweisend: »Schämen Sie sich, Barbara, so unchristlich zu sprechen, und noch dazu am heiligen Sonntag.« Dabei war sie selbst durchaus nicht immer ganz frei von Aberglauben.

An Magdas Schulter verbarg sich ein kleiner Blondkopf.

»Ich fürchte mich, Magda, ach, ich fürchte mich so sehr! Noch viel mehr als vor den Russen. Und in die dunkle Diele gehe ich bestimmt nicht mehr allein am Abend, und du oder Tante Brigitte, ihr müßt bei mir schlafen. Allein schlafe ich nicht, wenn es spukt,« bitterlich weinte das Angsthäschen.

Die große Schwester machte sich insgeheim Vorwürfe, nicht auf Trautchens Anwesenheit Rücksicht genommen zu haben. Laut aber tröstete sie und redete der Kleinen die Furcht aus.

»Sieh doch, Trautchen, wie ruhig und gemütlich die alten Herrschaften da alle über dem grünen Ripssofa hängen. Denen fällt es ja gar nicht ein, von ihrer Wand zu steigen, sind auch schon viel zu steifbeinig dazu,« so scherzte die große Schwester.

»Ja, am Tage – aber es spukt doch bloß bei Nacht. Und Bärbchen muß das besser wissen als du, denn die ist doch viel älter!« Dabei blieb das Kind.

Grade als Magda in ihr Stübchen entwischen wollte, um den heutigen freien Sonntag endlich wieder zur Arbeit an der Familienchronik zu benutzen, bat Tante Brigitte: »Magdachen, ach, hast du wohl ein Stündchen Zeit für mich, Kind? Ich bin vom Flüchtlingsverein um warme Sachen für die heimatlosen Ostpreußen angegangen worden. Einen Teil habe ich schon zusammengepackt. Aber da ist doch noch die alte Truhe, die drunten im Keller steht. Dabei hätte ich gern deine Hilfe. Es ist zwar keine Sonntagsarbeit, aber unser Herrgott wird es uns um des guten Zweckes willen wohl nicht allzu schlimm anrechnen. Und wochentags kann man ja auch deiner jetzt nicht mehr habhaft werden, Kind.«

Magda unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Kam sie wohl jemals dazu, an sich selbst zu denken?

»In dieser großen Zeit hat keiner Anspruch auf Eigenarbeit. Die Kräfte eines jeden gehören der Gesamtheit, dem Vaterlande.« Wie deutlich sie plötzlich Dr. Lindners Worte im Ohre wiederklingen hörte. Und hatte das alte Tantchen, das sich die ganze Woche allein plagen mußte, nicht auch ein Recht auf sie? Mit freundlichem Gesicht vermochte Magda jetzt die kunstvolle alte Eisenlaterne, welche in der Diele hing, zu entzünden. Dann schritt sie wie ein Glühwürmchen leuchtend der Tante voran. Trautchen, die sonst nie beim Kramen fehlen durfte, zog es in Anbetracht der dunklen Kellergewölbe vor, lieber bei Barbara zu bleiben.

In der umfangreichen schweren Truhe hatten die dahingegangenen Jahrhunderte so manches Stück zurückgelassen, das sie selbst überdauert hatte. Magda hing die Laterne an einen Balken und begann energisch in das Reich der Vergangenheit herabzusteigen.

»Blaue Leibröcke mit blanken Knöpfen, Tante Brigitte – da werden sich unsere Ostpreußen ja etwas merkwürdig drin ausnehmen.«

»Schadet nichts – wird zu Knabenhosen zugeschnitten.«

»Hier eine große Miezekatze – ach nein, es ist ein Radmantel« – – –

»Sind auch keine Motten drin?« forschte das Tantchen eifrig.

»Kann ich bei der feenhaften Beleuchtung wirklich nicht erkennen. Was nun? Ein lavendelblauer Unterrock mit schwarzem Samtband.«

»Gibt feine warme Sonntagskleidchen für die Ostpreußenkinder,« entschied Tante Brigitte sogleich sachverständig.

»Jetzt Gänsefedern – Schnallenschuhe – ein verblichenes rosenrotes Strumpfband, das soll Mohrchen haben – ein grünes Wams – au, sieh bloß mal das feine Spitzenjabot – Vatermörder – eine wundervolle alte Gürtelschnalle, die krieg' ich, ja, Tantchen?«

»Meinetwegen, aber lang' doch mal erst die warmen Sachen heraus, Kind, darauf kommt es uns doch an.«

Dem Ratstöchterlein kam es nun freilich weniger auf die warmen Wollsachen an, als auf die wundervollen antiken Dinge, welche die alte Truhe beherbergte. Das müßte Doktor Lindner sehen! Der würde seine helle Freude daran haben.

Kniehosen, Mützen und Röcke förderten Magdas Hände geschäftig zutage. Einen kostbaren mit Pelz verbrämten Mantel. – »Der wird ein Abendmantel für dich, Magdachen, wenn du nächsten Winter dein erstes Ballkleid einweihen sollst,« meinte die Tante lächelnd.

»Ach, Tante Brigitte, erst muß doch der Krieg zu Ende sein. Mir ist jetzt ganz und gar nicht nach Tanzen zumute, wo es solch einen blutigen Tanz draußen setzt.«

»Was hast du denn da?«

»Einen feinen Rembrandthut – und hier einen Dreimaster. Der soll mein neuer Winterhut werden oder willst du ihn etwa haben, Tantchen?« Übermütig stülpte sich Magda den schwarzen Dreispitz auf das goldene Haar. »Sehe ich nicht aus wie Friedrich der Große?«

»Zum Verwechseln ähnlich, Fräulein Magda,« klang es da lachend aus der Dunkelheit des Kellereingangs.

»Himmel, der Herr Doktor! Das ist recht, daß Sie sich wieder mal nach uns umschauen. Aber was werden Sie bloß von uns denken, daß wir den Sonntag so entheiligen?« begrüßte Tante Brigitte erfreut den Gast.

Magda hatte noch kein Wort gefunden. Die Überraschung und Freude, den plötzlich vor sich zu sehen, an den sie vorhin so lebhaft gedacht, band ihr die Zunge. Aber ihre sprechenden Augen grüßten den Freund des Hauses um so herzlicher.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, meine Damen, daß ich es wage, hier so unangemeldet in die Unterwelt herabzusteigen. Trautchen sagte mir, Sie seien im Keller beim Stöbern. Das war doch zu verlockend für einen Geschichtsforscher. Freilich drei Bonbons hat es mich gekostet, bis Fräulein Angsthäschen sich entschloß, mich zu führen. Sie behauptete: es spukt. Na, komm' nur vor, Trautchen, und schau dir den holden Spuk da an,« er schob das sich hinter ihm verkriechende keine Mädchen nach vorn.

»Ach, Magda, siehst du ulkig aus – ist wieder ein Festzug?«

Magda riß errötend den Dreimaster vom Haar.

»Schade!« sagte der Doktor mit ehrlichem Bedauern. »Es war ein wundervolles Bild bei dem Flackerschein der Laterne.«

»Ich kann Ihnen nicht mal die Hand zum Willkommen bieten, Herr Doktor, der Staub der Jahrhunderte hängt daran,« scherzte Magda, endlich ihre Unbefangenheit wiederfindend.

»Für einen Historiker kann es doch nichts Schöneres geben.« Der Doktor schüttelte herzlich die schmale Mädchenhand. »Gute Nachricht von Heinz?«

»Ja, feine. Er kann es gar nicht mehr erwarten, ins Feld zu kommen.«

»Und unsereins muß zuschauen! Na, vielleicht kommt die Stunde auch noch für mich. Aber sie schaffen's ja schließlich auch so.«

»Wenn's nur nicht gar so viele Feinde wären, deren Deutschland sich zu erwehren hat,« seufzte die alte Tante.

»Viel Feind – viel Ehr, sagt das Sprichwort,« fiel Magda mit leuchtenden Augen ein. »Dürfen wir in unserer Arbeit fortfahren oder sollen wir den Herrn Doktor ins Empirezimmer zu den blauen Damastmöbeln führen?« Sie lachte schelmisch.

»Fräulein Magda, Sie kennen mich doch schon gut genug, um zu wissen, daß es für mich keinen schöneren Empfangsraum geben kann, als dieser alte Keller mit der vielversprechenden Truhe. Bitte mich sogleich als Gehilfen anzustellen.«

»Aber Ihre schönen weißen Manschetten und der Sonntagsanzug,« erhob die Tante Einspruch.

»Was sind Manschetten und ein Sonntagsanzug solchen Kostbarkeiten gegenüber. Warten Sie, Fräulein Magda, ich reiche Ihnen zu.«

Wenn Tante Brigitte jetzt noch auf eine reiche Ausbeute für ihre Ostpreußen gehofft hatte, so irrte sie sich gründlich. Der Doktor war in seinem Forschungstrieb so egoistisch, vor allem nach den auf dem Grunde der Truhe ruhenden dicken Lederfolianten zu greifen.

»Das ist ja wundervoll – Aufzeichnungen aus dem Dreißigjährigen Krieg, als Gustav Adolf hier sein Lager aufgeschlagen hatte. Sehen Sie doch bloß, Fräulein Magda,« rief er begeistert.

Fräulein Magda teilte die Begeisterung durchaus – weniger das Tantchen.

»Sind keine Tuchhosen mehr drin?« warf es höchst prosaisch ein.

»Hosen?« Der Doktor machte ein Gesicht, als höre er dieses Wort zum erstenmal in seinem Leben.

Das Ratstöchterlein lachte ausgelassen.

»Tantchen, Herr Doktor Lindner befindet sich doch augenblicklich im Jahre 1632 draußen auf dem Brühl, wo Gustav Adolf seinen Lagerplatz errichtet hat, da kannst du wirklich kein Interesse für deine Tuchhosen von ihm verlangen. Aber warte, ich werde die praktische Seite der Forschungen vertreten. Hier sind noch einige Kleidungsstücke und – Herrgott, was ist das?« sie schrie laut auf. Ein lebendiges Etwas hatte plötzlich aus dem einen Hosenbein mit kühnem Sprunge das Weite gesucht.

»Es spukt – ein Geist!« Trautchen brüllte wie am Spieße.

Auch Tante Brigitte packte entsetzt den Arm des neben ihr blätternden Historikers.

»Der Geist ist ja bloß ein Mäuslein, meine Damen,« beruhigte der sie belustigt. »Eine harmlose Maus, die hoffentlich ihren Hunger nicht an diesen wertvollen Dokumenten gestillt hat. Trautchen, du kannst ruhig wieder die Hände von den Augen nehmen. Na, Fräulein Magda, wie ist's? Wagen Sie sich wieder in die Tiefen des Mittelalters hinab oder spukt es Ihnen dort zu sehr?« neckte der Doktor.

Das Ratstöchterlein hatte bereits mit energischer Hand wieder in die jetzt fast geleerte Truhe hineingegriffen. Trautchen aber war nicht länger zum Bleiben in dem unheimlichen Keller zu bewegen.

»Ich will wieder nach oben – ich möchte zu Bärbchen – Bärbchen ist so allein,« herzbrechend weinte und schluchzte das furchtsame Dingelchen.

»Ei, Trautchen, so geh' doch und mach' uns hier kein Konzert,« beruhigte sie Magda.

»Nein – in dem langen Gang und auf der Kellertreppe ist es so finster; du oder das Tantchen, einer muß mitkommen. Allein gehe ich nicht, wo es so arg spukt,« beharrte das kleine Fräulein.

»Also wir werden mit Trautchen nach oben gehen.« Die alte Tante hatte nun auch genug von dem ungemütlichen Kellerraum. Und die Foliantenforschungen des Historikers ermüdeten und langweilten sie. »Wollsachen für die Ostpreußen sind ja wohl nicht mehr da. Barbara kann all das Kleiderzeug heraufholen. Sie kommen doch mit, Herr Doktor?«

»Ach, bloß noch fünf Minuten, gnädige Frau, wenn es erlaubt ist. Nur einen Blick möchte ich noch in die Pergamentrollen und losen Papiere tun. Vielleicht finden wir auch noch etwas dabei für Ihre Familienchronik, Fräulein Magda. Wir kommen gleich nach,« bat der Doktor, eifrig beim Zitterschein der Laterne die Dokumente und Schriftstücke, die Magda ihm zureichte, durchsehend.

Tante Brigitte stand zaudernd. Ganz unschicklich war es doch, ein junges Mädchen mit einem Herrn, wenn er auch noch so gelehrt war, hier im Keller allein zu lassen. Wo blieb da die Moral des ehrwürdigen alten Topplerhauses! Aber der Doktor schien das gar nicht zu empfinden. Der hatte überhaupt nur Sinn für seine verstaubten Papiere. Und Trautchen riß und zerrte, noch immer heulend, an der Tante gehütetem schwarzseidenen Sonntagskleid und bat himmelhoch, doch bloß aus dem gruseligen Keller zu kommen.

»Magda, leuchte uns mal bis zur Kellertreppe, ich schicke dann sogleich Barbara her.« Tante Brigitte war froh, diesen Ausweg vor ihrem Gewissen gefunden zu haben.

Aber Barbara sprang heute auch nicht mehr, als ob sie siebzehn Jahre alt wäre. Die drehte sich in aller Gemütsruhe und ihre Knödel, die sie grade unter den Händen hatte, nicht weniger gemächlich. Die mußte erst sämtliche Töpfe und Pfannen vom Feuer rücken, daß auch nichts anbrannte. Zu dem alten Gerümpel da unten war immer noch Zeit. Bei ihrer Schwerhörigkeit hatte sie natürlich nicht begriffen, daß Tante Brigitte ihr die Ehrenrolle eines Anstandsbaubaus zugedacht.

Dem Ratstöchterlein und dem jungen Historiker wurde die Zeit nicht lang. In begeistertem Forschungstriebe hatte der Doktor nur Augen für die vergilbten Blätter und nicht für seine goldhaarige Assistentin, die sie ihm zureichte. Tante Brigitte konnte ganz ruhig sein – die Moral des alten Patrizierhauses stand so fest wie nur je.

»Halt – Fräulein Magda – ein wichtiger Fund für Sie! Hier ist soeben ein Blatt herausgeflattert, das mir für Ihre Familienchronik von Bedeutung scheint. Wenn mich nicht alles trügt, stammt es sogar von der Hand Ihrer Vorfahrin Magdalena Hirsching. Es ist eine zierliche Damenhandschrift – freilich, arg verlöscht. Warten Sie, gleich werde ich es zu entziffern versuchen,« erregt trat der Doktor unter die Laterne.

Magda sprang in nicht weniger großer Erregung auf und versuchte dem Doktor über die Schulter zu lugen. Sollte endlich, endlich ihre Wißbegierde erfüllt werden und sie etwas Näheres über das Leben derjenigen erfahren, deren Namen sie trug?

Es war ein abgerissenes Blatt, vergilbt und zerknittert. Aber die scharfen Augen des Geschichtsforschers waren es gewohnt, noch unleserlichere Dokumente zu entziffern.

»Sintemal der Herre mich, Magdalena Hirsching, verehelichte Topplerin, von langer Buß- und Wallfahrt wieder gnädiglich heimgeführet, fand ich allhier zu Rothenburg uff der Tauber zwar des Hauses Thüre geöffnet, aber das Herze meines gestrengen Eheherrn Heinrich Toppler feste verschlossen. Auch in das Herze meiner Kinder fand ich keine Einkehr, alldieweil man die Mutter da herauszureißen gewußt. Eine Fremde bin und bleibe ich in diesen Mauern, allwie ich es mein Lebtag hier gewest. Möge der Herre sich erbarmen und mich balde heimfinden lassen ins letzte Kämmerlein, allwohin mein müdes Herze sich sehnet. Denen aber gnädiglich verzeihen – – –« hier war das Blatt abgerissen.

Der Doktor blickte ernst auf die junge Magda Toppler, dem blühenden Ebenbild der längst Dahingegangenen, die soeben zu ihnen aus diesen Zeilen gesprochen. Die samtdunklen Mädchenaugen schimmerten feucht, ein glänzender Tropfen hing an den seidenweichen Wimpern.

»Sie muß schweres Herzeleid erduldet haben,« sagte er leise.

»Jetzt weiß ich es, warum man hier so wenig von der Ahnfrau Magdalena spricht. Eine Fremde war sie stets in diesem Hause. Das welsche Blut, das Tante Brigitte so verabscheuungswürdig findet, hat sie wohl hinausgetrieben, die Ärmste! Ach, ich weiß es ja, wie diese mitleidslosen Mauern einengen und drücken können!« Das Ratstöchterlein rief es leidenschaftlich.

»Ruhig, Fräulein Magda – ruhig – mögen Sie es nie erfahren, das Herzeleid, das Ihre Ahne gequält hat.« Beschwichtigend legte der Doktor der erregten Magda die Hand auf die Schulter.

In diesem Augenblick leuchtete aus dem Dunkel des Kellerganges Barbaras weiße Schürze und Haube. Es war der alten Dienerin wohl nicht zu verdenken, daß sie, als sie die beiden da so im gelblichen Laternenschein beieinanderstehen sah, doch wohl die Empfindung hatte, ob sie sich nicht etwas mehr hätte beeilen sollen. Sicher spann sich da was an! Na, sie konnte schweigen, schweigen wie das Grab. Jedenfalls aber beschloß sie, dem Doktor zu Ehren, heute ein Glas von den köstlichen eingelegten Pfirsichen, die eigentlich bis zum Geburtstag des Hausherrn stehenbleiben sollten, aufzumachen.

Hätte sie in ihrer Schwerhörigkeit allerdings verstanden, was die beiden miteinander verhandelten, dann wäre das Pfirsichglas wohl kaum herausgerückt worden.

»Es ist ein Fragment, Fräulein Magda. Mit Sicherheit läßt sich annehmen, daß es zu einem umfangreicheren Tagebuch gehört. Doch wo mögen jene Blätter hingekommen sein? Existieren sie noch, oder hat die Zeit sie vertilgt? Wer kann es wissen! Die Truhe ist jedenfalls ganz leer?«

»Kein Blättlein mehr drin – aber warten Sie, Herr Doktor, ich kehre heute nach Tisch noch mal in meinem alten Schreibtisch das Unterste zu oberst.« In greifbarer Deutlichkeit stand der Traum der verflossenen Nacht plötzlich wieder vor Magdas Blick: Die Ahnfrau Magdalena, wie sie tränenden Auges auf den Schreibtisch wies.

Ach Unsinn – wurde sie auch schon solche abergläubische Sibylle, wie die Barbara es war? Zogen die alten Mauern selbst sie aufgeklärten jungen Menschen in ihren Bann? Sie schämte sich heimlich vor dem Doktor.

»Recht so, der Schreibtisch sieht mir verheißungsvoll aus, der birgt am Ende noch was in seinen Tiefen,« stimmte der Doktor bei, während sie der mit Trachten der Vorzeit beladenen Barbara voranschritten.

Das Mittagsessen war vorüber, Barbaras Extrapfirsiche mit der gebührenden Bewunderung und von Tante Brigittes Seite mit verwundertem Kopfschütteln begrüßt worden. Die Kinder, Trautchen, Mizi und Werner, der heute von seinem Bauern Sonntagsurlaub hatte, begleiteten den Vater in die Rebhänge, wo man allmählich mit der Weinlese beginnen mußte. Die Trauben standen heuer besonders gut.

Der Sonntagsgast hatte sich bis zum Kaffee beurlaubt, um im Ortsmuseum einige Studien zu machen. So konnte Magda sich mit Muße einer sorgfältigen Durchforschung ihres alten Schreibsekretärs hingeben. Still war's im Haus. Nur das patriotische Lorchen schrie ab und zu »Hurra«.

Mit Gründlichkeit zog Magda Kasten um Kasten, Fach um Fach auf. Der alte Schreibtisch hatte viele Schubladen, aber eine jede war leer. Nichts – nichts, soviel das Ratstöchterlein auch suchte. Entmutigt ließ Magda die Arme sinken und starrte zu dem geschnitzten Löwenkopf empor. Ja, wenn der hätte reden können! Der hätte am Ende Aufschluß zu geben gewußt über den Verbleib der Tagebuchblätter ihrer Ahnfrau Magdalena. Sollte doch der Schreibtisch aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges stammen.

Wie höhnisch er auf sie herabblinzelte, der Löwenkopf! Was hatte er denn da in seinem linken Auge? War das die Pupille? Nein, das war ja ein winziger Knopf. Zum erstenmal nahm Magda ihn heute wahr. Erregt kletterte sie auf den Stuhl. Das mußte sie näher untersuchen. Ihre Finger berührten den merkwürdigen Knopf – er gab nach, und – – – da sprang ein Türchen unterhalb des Löwenkopfes auf, so kunstvoll eingefügt, daß es sich für gewöhnlich nicht von der hellen Holzfläche abhob.

Vor Schreck wäre das Ratstöchterlein beinahe vom Stuhle gepurzelt.

Das Geheimfach – von dem Doktor Lindner halb scherzhaft neulich gesprochen.

Magda hatte die Empfindung, als ob sie ein Heiligtum entweihte, als sie jetzt in atemloser Erregung in das verborgene Fach griff.

Einen altertümlichen Haarkamm, eine wundervolle durchbrochene Goldarbeit mit Edelsteinen besetzt, förderte sie als erstes zutage. Sicher hatte man den hier vor der plündernden Soldateska des dreißigjährigen Krieges versteckt. Ein Silbergürtel mit daranhängendem Spiegelchen folgte. Schon leer? Nein, noch ein Büchlein, der grüne Seidendeckel zerschlissen. Mit bebenden Fingern schlug das junge Mädchen es auf: Die vergilbten Blätter zeigten dieselbe feine, zum Teil verlöschte Damenhandschrift wie das Blatt, das sie heute in der Truhe gefunden.

Keinen Zweifel – sie hielt das Tagebuch der Magdalena Hirsching in Händen.

Ganz blaß war Magda bei dieser Entdeckung geworden. Alles Blut strömte ihr zum Herzen. Und dann saß das goldhaarige Ratstöchterlein nach fast dreihundert Jahren vor demselben Schreibtisch, an dem eine, die ebensolches Goldhaar und ebensolche schwarzen Samtaugen gehabt, diese Zeilen einst geschrieben, und entzifferte sie herzklopfend.

Leise knisterten die vergilbten Blätter. Seite um Seite schlug Magda um. Da las sie, wie Magdalena Hirsching als Sechzehnjährige im Nonnenkloster zu Padua, der Heimatsstadt ihrer Mutter, bei den frommen Schwestern Lesen, Schreiben und feine Nadelarbeit gelernt. Wie ihr Herz dort in dem schönen Italia für einen jungen feurigen Künstler, der ein Bild von ihr gemalt und sich in ihre Schönheit verliebt, erwacht sei, und daß sie sich ihm versprochen. In einem Jahr wollte er seiner jungen Braut über die hohen Schneeberge nach Deutschland folgen und sie von ihrem Vater zum Ehegemahl erbitten. Welch jubelnde Glückseligkeit sprach aus jeder dieser Zeilen.

Und nun ein paar Monate später. Magdalena ist wieder daheim in Rothenburg. Aber sie bangt sich nach dem sonnigen Süden und nach ihrem schwarzlockigen Künstler, von dem ihr nur ihr eigenes ovales Bildchen geblieben.

»Das Bild unten über dem Ripssofa!« durchfuhr es Magda. War das der Zauber, den jenes Bildchen stets auf sie ausgeübt? Ahnte man, daß die Liebe den Pinsel geführt?

Die Schrecken der Belagerung Rothenburgs durch Tillys Heere schildern jetzt die feinen Schriftzüge bis zu dem Augenblick, da der Grausame ihrem Flehen Gehör gibt und den hochwohllöblichen Rat begnadigt.

»Machen alle gar viel Rühmens davon und war doch nur eine natürliche Tat, zu der mein Herze mich trieb,« so schrieb die junge Heldin, die man heute feierte, selbst voller Bescheidenheit.

Nun kamen einige arg verlöschte Seiten. Waren Tränen darauf gefallen? Heinrich Toppler, dem reichen Patriziersohn, hat es das holdselige Ratskellermeisterkind angetan. Er wirbt um sie. Und der Vater weiß das Glück und die Ehre, die seiner Tochter geschieht, wohl zu würdigen. Trotz Magdalenas Flehens, trotz ihrer Tränen und ihres Bekenntnisses, daß ihr Herz einem andern gehöre, wird sie dem vornehmen Topplersohn anverlobt und muß ihm als sein Ehegemahl folgen.

»Das Haus ist arg groß und fürnehm, in seinen schweren Mauern bin ich lebendigen Leibes begraben,« klagt die junge Frau bald darauf. Und dann weiter: »Mein gestrenger Eheherr wünscht ein demütiglich, gehorsames Ehegesponst. Oh, nimmer werde ich also. Mein welsches Blut treibt mich zur Gegenred, anstatt feinsänftiglich zu schweigen, wenn er zornig ist. Das welsche Blut läßt mein Herze in diesem Hause nimmermehr eine Bleibe finden. Es sehnet sich nach Italiens blauem Himmel und – – – möge der Herre im Himmel mir meine Sünde verzeihen.«

Das erste Kind, ein kleiner Heinrich, ist geboren. Und trotzdem wird die junge reiche Topplerin, die von so vielen beneidet, ihres Lebens nicht froh. »An den scharfkantigen Mauern allhier stoße ich mir Kopf und Herze wund.«

Ganz still saß die junge Enkelin der Magdalena Hirsching. Wie oft hatte sie ganz Ähnliches in dem gleichen Hause empfunden!

»Mein Herre und Ehegemahl ist aufgebracht, alldieweil ich lesen und schreiben gelernet hab, was nicht ehrsame Sitt ist für ein frommes Eheweib. Die Bücher meiner lieben Nonnen zu Padua hat er verbrennet und sie Satanszeug benamset. Dieses Büchelein aber, mein ein und alles, halte ich wohl verborgen für seine Augen.«

Immer näher fühlte sich Magda der Schreiberin dieser Blätter, immer mehr empfand sie die Gleichheit ihres Schicksals. Ward nicht auch ihr noch jetzt nach fast drei Jahrhunderten geistige Betätigung in diesen starren Mauern verargt und untersagt?

Das Büchlein ging nun zu Ende. Es erzählte nur noch von den vergeblichen inneren Kämpfen der Schreiberin, zwischen ihrer Sehnsucht und ihrer Pflicht.

»Also habe ich mit mir gerungen und bin zu dem Entschluß kommen, gen Rom zum heiligen Vater zu pilgern und dort Buß zu tun für meine Sünde. Vielleicht löset er den Fluch des Blutes und lasset mich gesunden. Kehre ich aber nicht wieder heim, so möge mein Herre und Ehegemahl mir verzeihen und meine Kinder ihrer Mutter in Lieb – – –« weiter vermochte Magda nicht zu lesen. Die letzten Worte waren völlig verlöscht, zeigten deutlich Tränenspuren. Und ihr selbst hing es wie ein feuchter Schleier vor den Blicken – glänzende Tropfen der jungen Enkelin fielen auf die Tagebuchblätter der Ahne.

Wie lange das Ratstöchterlein so regungslos gesessen, auf das Büchlein in ihren Fingern und rückwärts in die Vergangenheit auf das Leben der Ahnfrau Magdalena gestarrt hatte, wußte sie nicht. Trautchens helle Stimme riß sie erst aus ihrer Versunkenheit empor.

»Magda, du sollst kommen, wir wollen im Topplerschlößchen Kaffee trinken,« rief das Kind von unten herauf.

Da fuhr das Ratstöchterlein mit der Hand über die schwimmenden Augen, schloß die Kostbarkeiten wieder in das geheime Fach, und dabei schien es ihr, als ob der geschnitzte Löwenkopf jetzt befriedigt dreinschaue, ja sogar, als ob er ihr mit dem Knopfauge verschmitzt zulächle. Nur das dünne Büchlein behielt sie zurück und barg es in ihrer weißseidenen Bluse. Das mußte sie dem Doktor zeigen.

Vorläufig aber wollte sich durchaus keine Gelegenheit dazu finden. Die beiden Herren waren schon vorangegangen. Magda folgte mit Tante Brigitte und den Kindern. Von ihrem kostbaren Fund sprach sie nicht. Erst zum Geburtstag des Vaters wollte sie ihn offenbaren.

Durch blutrote Rebhänge, aus deren Purpur goldene Trauben lachten, schlängelte sich die Straße hinab zum Topplerschlößchen, dem ehemaligen Sommersitz der reichen Patrizierfamilie. Jetzt war es als Wirtschaftshof verpachtet. Aber der Pächter rechnete es sich zur höchsten Ehre an, wenn der Ratsherr Toppler und seine Familie bei ihm den Kaffee einnahmen.

Auch heute rückte er sogleich geschäftig einen Tisch in den Schatten des alten Nußbaumes, während seine Frau ihre besten goldgeränderten Tassen herausgab und einen »Extrastarken« kochte.

Der Doktor bewunderte inzwischen den originellen Bau des Schlößchens.

»Mit seinen überhängenden Geschossen und den vielen Schießscharten sieht es einem großen Taubenschlag gleich,« meinte er.

»König Wenzel hat es nicht verschmäht, einst unter diesem Dache zu wohnen,« berichtete der Ratsherr stolz. »Man nennt es deshalb auch Kaiserstuhl.«

Seine junge Tochter, die sonst bei derartigen Erzählungen sich mit begeisterter Lebhaftigkeit zu beteiligen pflegte, saß heute teilnahmslos daneben. Nicht einmal der »Extrastarke« der Frau Pächterin vermochte ihre Zunge zu lösen. Den andern mußte schließlich ihre ungewöhnliche Schweigsamkeit auffallen.

»Was ist dir, Kind, hast du Weltschmerz? Hättest heute nach Tisch lieber bei der Weinlese helfen sollen, anstatt im Zimmer zu hocken,« sagte der Vater unzufrieden.

»Bist du nicht wohl, Magdachen? Du siehst so blaß aus. Hast du dich auch nicht im Spital angesteckt? Gewiß strengst du dich dort bei der Pflege zu sehr an.« Das Tantchen war schon wieder voller Angst.

»Ach, es ist doch nichts,« wehrte Magda errötend ab und versuchte, sich zusammenzunehmen. Aber immer wieder mußte sie denken, wie dereinst die junge Frau Magdalena wohl hier unter dem gleichen Nußbaum gesessen, und wie ihre dunklen Augen sehnsuchtsvoll an jenen blauenden Bergen gen Süden gehangen.

Der einzige, der den Grund von Magdas Nachdenklichkeit ahnte, fragte nicht. Nur seine klaren grauen Augen hatten es getan. Da hatte der goldflimmernde Mädchenkopf unmerklich genickt.

»Ich würde gern noch einen kleinen Abstecher zur Engelsburg hinauf machen,« der Doktor erhob sich. »Der Blick von dort bei untergehender Sonne auf das Stadtbild ist prachtvoll. Schließen sich die Herrschaften an?«

Tante Brigitte hatte reichlich genug vom Spazierengehen. Auch der Ratsherr war kein Freund vom Steigen. Aber die Kinder kamen sofort aus den Ställen herbei, um mitzuwandern. Magda beteiligte sich ebenfalls, durchschaute sie doch den Plan des Doktors, ihr Gelegenheit zu geben, sich auszusprechen.

Fürs erste aber nahmen die kleinen Herrschaften den »Onkel Doktor« noch ganz in Anspruch. Erst als man droben auf den von wildem Gestrüpp überwucherten Resten des ehemaligen Burgaltans Halt machte, gingen die drei auf Entdeckungsreisen aus. Magda hatte bereits auf dem Wege ihren Schatz hervorgezogen. Jetzt reichte sie dem Doktor das grüne Büchlein dar.

»Hier ist das Tagebuch der Magdalena Hirsching, Herr Doktor. Der alte Schreibtisch beherbergt in der Tat ein Geheimfach. Auch ein kostbarer Haarkamm und ein Silbergürtel sind darin verborgen,« berichtete sie mit unterdrückter Erregung.

»In der Tat?« Lebhaft griff der Historiker nach dem Büchlein. Dann ließen sie sich beide auf einer samtmoosigen Rasenbank nieder und studierten gemeinsam die feinen Schriftzüge.

»Ein höchst interessanter und wertvoller Fund,« sagte der Doktor schließlich, als er die letzte Seite umgeschlagen. »Aber Sie, liebes Fräulein Magda, dürfen sich dadurch nicht so erregen lassen. Ganz bleich sind Sie. Das Schicksal der Magdalena Hirsching gehört der Vergangenheit an. Die blutvergießende Gegenwart zeitigt heute soviele schwere Einzelschicksale – man kann nur mit der Gesamtheit fühlen.«

»Ach, wenn ich bloß den Druck von der Seele hätte, daß mein eigenes Schicksal dem Magdalena Hirschings gleicht. Haben die mitleidslosen Mauern unseres Hauses nicht auch ihren Jugenddrang eingeengt? Hat die starre Überlieferung der Toppler mein geistiges Streben nicht gradeso wie das ihrige ertöten wollen? Aber das ist es nicht allein,« die Stimme des jungen Mädchens ward noch leiser. »Das welsche Blut ist es, das mir Angst macht. Tante Brigitte sagt, ich hätte es geerbt, auch in meinen Adern flösse es. Und wenn es mir und andern nun ebenso zum Unglück wird, wie einst der Urahne – – –«

»Nein, Fräulein Magda, nein!« Mit warmer Herzlichkeit ergriff der Doktor beide Hände des neben ihm sitzenden Mädchens, das ihm mit rührendem Vertrauen sein Seelenleid klagte. »Sie haben Topplersche Seßhaftigkeit und Willensstärke in sich, die meistert das unruhige Blut der Ahne. Sie lieben das Alte, trotz Ihres Wunsches, sich als moderner Mensch zu betätigen. Wo Ihnen auch immer Ihr Platz in der Welt angewiesen sein wird, Sie werden ihn ausfüllen, andere glücklich machen und dadurch selbst das Glück finden.« Voll überzeugender Innigkeit klangen die Worte.

»Ja, meinen Sie das wirklich?« Kindlich gläubig sahen die dunklen Sterne in die klaren grauen Augen des Mannes. Aber was sie zum erstenmal darin lasen, war so überwältigend, so blendend, daß es sich plötzlich wie ein blutroter Nebel vor Magdas Blicken senkte. Sie mußte die Lider vor diesem jähen Glanze schließen.

Still, ganz still saß der Gelehrte neben ihr. Längst hatte er das Herz des goldhaarigen Ratstöchterleins erforscht; wie ein offenes Buch lag es vor ihm. Aber noch war Magda zu jung, um einen ernsten Schritt fürs Leben bewußt zu tun. Noch galt es, das Erwachen eines jungen Herzens zu schonen, damit es zum starken Gefühl ausreifen konnte, das Gewähr für die Zukunft bot. Noch hieß es schweigen. So saß der gelehrte Mann denn, schwieg und ahnte nicht, daß sein Blick verraten, was sein Mund verschloß.

Vor ihnen hob sich der zackige Mauerkranz des vieltürmigen Rothenburgs vom lichtgrünen Abendhimmel. In den Fenstern der alten Giebelhäuser brannte und loderte der Kuß der scheidenden Sonne.


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