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8. Kapitel

Auf der Rothenburger Messe

An dem alten Burggemäuer blühte der Flieder. In schweren, süßberauschenden Duftwogen wehte es zu des Ratstöchterleins Auslug empor. Magdas lauschiges Balkonnest hoch oben war jetzt über und über von wildem Wein umrankt. Mit bunten Windenglocken behängen, schaute es gar unternehmungslustig von der verwitterten Stadtmauer auf die Spaziergänger drunten herab.

Aber der jungen Besitzerin war durchaus nicht unternehmungslustig zumute. Seit dem siebzehnten Geburtstag und jener inhaltsschweren Aussprache mit dem Vater ließ das muntere junge Ding das Köpfchen hängen. Wohl erfüllte Magda ihre Pflicht im Hause, aber es war keine rechte Freudigkeit dabei. Selbst auf dem täglichen Spaziergang mit dem Schwesterchen, bei dem sie sonst an Ausgelassenheit mit der Kleinen gewetteifert hatte, war sie still und in sich gekehrt. Und dabei war doch Klein-Trautchen so lieb und drollig und gab sich solche rührende Mühe, die große Schwester fröhlich zu stimmen. Und die Gotteswelt, durch welche die beiden schritten, war so schön, so unsagbar schön in ihrem lenzfreudigen Maienkleid, daß einem jeden beim Anschauen das Herz aufgehen mußte. Sah das Ratstöchterlein, das stets so viel Schönheitssinn und Liebe zur Natur gehegt hatte, denn gar nicht, wie die blauenden Wälder da in der Ferne träumten? Wie leuchtend die roten, spitzen Kirchtürme der vielen in die Matten gestreuten kleinen Weiler sich von dem lichtzarten Himmel abzeichneten, die üppig wuchernde Blumenwildnis aus all den Gräben und Wällen in dem altersgrauen Stadtmauerring?

Ja, daß sie selbst, die alte Stadtmauer, in ihrem graugrünen Patinakleide es nicht verschmähte, sich mit einem Maienstrauß wie ein junger Bursch zu schmücken?

In sich gekehrt, die Augen am Boden haftend, so schritt das Ratstöchterlein meist jetzt seines Weges. Und tat es Klein-Trautchen wirklich mal den Gefallen mit ihr auf die alten Umgänge der Stadt, zu denen allenthalben morsche Treppchen führten, zu klettern, so vergnüglich wie sonst ging es selbst dabei nicht zu.

»Weißt du, Magda, wir wollen am Strafturm vorbeigehen, da hören wir wieder die hübschen Lieder üben,« schlug das Schwesterchen vor.

Aber Magda schüttelte den Kopf. Den Strafturm, den finsteren grauen Gesellen, hatten die lustigen Wandervögel sich zu ihrem Nest erkoren. Aus all den kleinen vergitterten Fensterchen ließen sie brennendrote Geranien und farbenfreudige Nelken hinausflattern, und das düstere Gemäuer, an dem jahrhundertelang erbarmungslos so mancher Seufzer abgeglitten war, hallte jetzt wider von jungen frohen Stimmen und hellem Lachen. Dort wurde beraten, wo die nächste Wanderfahrt hingehen solle, und fröhliche Lieder wurden zur Zupfgeige gemeinschaftlich geübt.

Es war Magda wohl nicht zu verdenken, daß das Herz ihr schwer wurde, wenn sie die Wandervögel so fröhlich da oben zwitschern hörte. Erzählten doch Ursel und Änne mit glänzenden Augen jedesmal, wie herrlich ihre Wanderungen ins liebliche Taubertal und in die felsige Bergwildnis waren.

Überhaupt die Freundinnen hatten jetzt viel weniger Zeit als sonst für Magda übrig. Ursel wurde vom Vater in der Apotheke tüchtig herangenommen, da sie zum Winter nach München kommen sollte, um regelrecht das Apothekerfach zu studieren. Änne malte wieder eifrig im Freien; nebenbei aber entwarf sie noch bis in die Nacht hinein Tapetenmuster. Da blieb keine Zeit zu Besuchen bei den Freundinnen. Der Sonntagvormittag, den die drei sonst immer gemeinsam zu verbringen pflegten, fiel nun durch die Wandervogelflüge auch aus. Und dabei verlangte das Ratstöchterlein doch grade jetzt mehr als je nach einem öfteren Beieinander mit den Freundinnen. Noch nie hatte Magda so viel freie Zeit gehabt wie augenblicklich. Im Haushalt tat sie nur das, was sie grade mußte, und ihre Bücher mochte sie überhaupt nicht mehr ansehen. Seit Beginn des neuen Lebensjahres hatte sie ihren alten Schreibtisch gemieden, als ob er die Schuld an der Entfremdung zwischen dem Vater und ihr trage. Denn das war es, was dem jungen Mädchen noch besonders am Herzen fraß. Nicht nur die schmerzliche Gewißheit, daß ihr Lebenswäglein, anstatt sie hinaus ins Freie zu tragen, weiter in den ausgefahrenen Geleisen veralteter Anschauungen dahinrollen sollte. Nein – auch der Vater war gegen sie verändert.

Magda war eigentlich immer Vaters Liebling gewesen. Er war stolz auf seine junge Tochter, die sich von Tag zu Tag liebreizender entwickelte. Um so tiefer hatte es ihn wohl getroffen, sie nach seiner Ansicht auf einem Irrwege zu finden. Mit fester Hand, mit seiner ganzen Strenge zwang er sie wieder in die alten Bahnen der Topplerschen Familiengesetze zurück. Wohl sprach er das Alltägliche mit ihr; der unbefangene Zuschauer hätte wohl kaum irgendeine Veränderung der Tochter gegenüber wahrgenommen. Aber Magda selbst empfand es nur zu schmerzhaft, daß das innere Band zwischen ihnen sich gelockert hatte.

Auch Tante Brigitte war nicht wie sonst. Sie beobachtete Magda ängstlich, etwa wie man einen Tobsüchtigen im Auge behält, bei dem in jedem Augenblick ein neuer Anfall zu befürchten steht. Im übrigen ließ sie ihr jetzt wirtschaftlich mehr Freiheit als zuvor. Das Kind mußte sich wohl erst innerlich wieder zurecht finden. Das Gewitter des Hausherrn, das ihr zuerst solch Entsetzen eingeflößt, erschien der Tante jetzt durchaus wohltuend. Das hatte die böse Luft der modernen Anschauungen sicherlich gründlich gereinigt. Und die Hauptsache, daß der Ibsen – für Tante Brigitte der Urquell alles Bösen – fest hinter Schloß und Riegel im Arbeitszimmer des Vaters stand.

So saß das Ratstöchterlein denn so manchen goldenen Maientag untätig auf dem steinernen Hofbänklein unter den tief auf das Goldhaar herabhängenden Goldregendolden. Es lauschte auf das verschlafene Murmeln des rieselnden Brünnleins, auf das Schirpen der Spatzen droben im Lindengeäst und auf das Plaudern Klein-Trautchens mit ihren Puppenkindern.

»Wenn ihr fein brav seid, dürft ihr morgen mit zur Jahrmarktmesse, Kinder,« teilte das kleine Mädchen der dummglotzenden Puppenfamilie flüsternd mit. »Au, da ist es fein, sage ich euch. Buden gibt's auf dem Marktplatz und in den Gassen mit wunderschönen Sachen. Und ein Karussell steht draußen vor der Stadtmauer, da könnt ihr auf einem Schimmel immer im Kreise herum reiten. Und Pfefferkuchenherzen kauft Tante Brigitte mir, und – und –« die zu erwartenden Herrlichkeiten überwältigten Trautchen. Die Worte fehlten ihr für soviel Schönes.

»Morgen beginnt schon die Messe, Trautchen?« fragte Magda, wie aus einem Traum heraus und löste den starren Blick von der weißkerzigen Kastanie, die ihre Zweige über die Mauer in den Patrizierhof hinüberstreckte.

»Jawohl, morgen ist Messe, juchhu! Den Zirkus haben sie schon aufgestellt. Der Direktor von den Kunstreitern hat mir und ein paar andern Buben versprochen, daß wir die Zettel verteilen dürfen. Und die Dame mit dem Vollbart ist auch wieder da. Und das Wachsfigurenkabinett sehe ich mir diesmal bestimmt an. Juchhu!« Aus dem weitgeöffneten Fenster schrie es Werner bei seinen lateinischen Vokabeln.

»Vormittags darf ich mit Tante Brigitte zur Messe, und nachmittags geht Bärbchen mit mir. Die kauft sich da Schürzen, weil die selbstgewebten viel besser halten, sagt sie, und Schuhe. Und würfeln läßt sie mich, und Weißwürschtl kriege ich, hat sie mir versprochen – au fein!« Trautchen tanzte jubelnd, in jedem Arm ein Puppenkind, um die maigrüne Hoflinde.

Mit merkwürdiger Empfindung sah Magda die Vorfreude der jüngeren Geschwister. Sie tat ihr förmlich weh. Wie hatte sie selbst in jedem andern Jahre sich auf die Messe gefreut. Tagelang vorher hatte sie mit den Freundinnen dazu verabredet. Und diesmal ließ sie alles so gleichgültig. Ursel und Änne, die würden wohl kaum Zeit haben. Ihr stand der Sinn überhaupt nicht nach solchem lauten Treiben, sie blieb still daheim.

Tante Brigitte saß am nächsten Tage vom frühen Morgen an auf ihrem Fensterplatz vor dem indiskreten Spion. Das ganze Jahr über gab es nicht soviel für sie zu sehen wie am heutigen Messetag. Geputzte Rothenburgerinnen wogten die Gassen auf und ab; zu all den vielen Toren strömten die Bauern mit Weib, Kind und Gesind. Leichte Wägelchen holperten über das Pflaster aus den umliegenden Dorfschaften, schwere Karren dazwischen. Die Peitschen knallten.

Ja, sogar eine Reihe Buden am Markt zeigte der kunstvoll eingebaute Spion der Tante. Sobald er aber in seinem runden Steinrahmen die runde Gestalt der Frau Bürgermeisterin aufwies, trennte sich auch Tante Brigitte von ihrem interessanten Platz. Denn das war das Zeichen, daß jetzt die Damen der Stadthonoratioren die Messe zu besuchen hatten.

In ihrem schweren Schwarzseidenen mit der antiken Spitzenmantille darüber, das hüpfende Trautchen an der Hand, so schritt Tante Brigitte würdevoll zwischen den alten Giebelhäusern die Herrengasse hinab. Peter, mit einer lila Atlasschleife in dem schwarzen Wollhaar, genau so würdevoll hinterdrein. Er verschmähte es heute sogar, die Spatzen vom Straßendamm aufzuscheuchen. Denn er wußte genau, was einem Hunde aus dem alten Patrizierhause Toppler anstand. Seine Herrin und er, sie beide mußten jetzt das vornehme Geschlecht vertreten.

Sehr kurzweilig war für Trautchen dieser Umgang durch die Budenreihen eigentlich nicht. Nirgends blieb das Tantchen stehen. Trotz allen Zupfens der bettelnden Kinderhände, schritt Tante Brigitte unentwegt an den tausenderlei Herrlichkeiten, bei denen Trautchen nur zu gern geweilt hätte, vorüber. Stehenbleiben oder gar Einkäufe machen, gehörte nicht zum guten Ton. Das Feilschen überließ man den Bauern, die mit klingernden Talern in den Hosentaschen von Stand zu Stand zogen. Unentwegt, hierhin und dorthin würdevoll grüßend, so wanderte die alte Dame durch das lärmende Gewühl, wie sie das nun schon die vielen, vielen Jahre ihres langen Lebens getan. Über den Kapellenplatz mit seinem alten Röhrenbrunnen, an dem die Bauern ihre Gäule tränkten, vorüber, vorbei am Bratwurstglöckle, aus dessen Weinstube schon zu dieser frühen Tagesstunde wüster Lärm der Zecher klang. Wenn die Uhr an dem weißen Turm auf die elfte Stunde rückte, ging es durch die Georgengasse zurück, ungeachtet allen Bittens des kleinen Mädchens. Denn so hatte es Tante Brigitte immer gehandhabt.

Ja, ein besonderes Vergnügen mochte es wohl nicht für Trautchen sein, so ängstlich fest an der Hand geführt zu werden. Damit sie nur nicht verloren ginge. Gerade von den ulkigsten Schaubuden mit ihren freilich nicht immer feinen Anlockungsplakaten schnell weitergezogen zu werden. Denn ach, Tante Brigitte mußte seufzend die Wahrnehmung machen, daß die schlimme neue Zeit selbst auf die von altersher in Rothenburgs Mauern abgehaltene Messe schon ihre verderblichen Einflüsse ausübte. Von Jahr zu Jahr mußte sie häufiger die Augen züchtig von den in krassen Farben an den Budeneingängen prangenden Balletteusen und Seiltänzerinnen abwenden.

Nachdem Trautchen ihr großes Pfefferkuchenherz, der einzige Einkauf, zu dem Tante Brigitte sich herbeiließ, erhalten hatte, war der Messebesuch für die alte Dame beendet. Sie konnte nun wieder in aller Gemütsruhe durch ihren Spion, ohne sich stoßen und drängen zu müssen, das Treiben beobachten. Trautchen aber tröstete sich, daß dies nur ein kleiner Vorgeschmack war, und das eigentliche Vergnügen erst am Nachmittag mit Barbara losging.

Es gab wohl kaum eins von den Jahrhunderte alten Häusern in Rothenburg, dessen Bewohner heute an diesem sonnengoldenen Maiennachmittage daheim blieben. Höchstens die Kranken und Tante Brigitte, die ja das Vergnügen viel bequemer genießen konnte.

Nur das Ratstöchterlein saß einsam auf seinem winzigen Luginsland hoch über der Stadtmauer, schaute den ziehenden Wolken nach und lauschte dem Rauschen der Tauber. Niemals war sich Magda so verlassen vorgekommen wie an diesem menschenbevölkerten Tage, der dem stillen Rothenburg ein ganz anderes Gepräge aufdrückte. Schritte und Stimmen der sich ergehenden Spaziergänger klangen vom Burgplatz zu ihr empor.

Das muntere Geplauder und Lachen da drunten tat ihr im Ohre weh. Denn eigentlich – wäre sie doch nur allzu gern auch dabei gewesen. Herrgott, sie war doch eben erst siebzehn Jahre alt, und die Freuden des Lebens sollten doch erst für sie kommen.

Tritte auf der Treppe. Gewiß Trautchen oder Werner, die sie abzuholen kamen. Ob sie mitgehen sollte?

Da steckte die Ursel Mergentheimer den braunen Kopf zur Tür hinein, und über der kleineren Freundin erschien Ännes dunkler Scheitel.

»Hat sie sich doch wahr- und wahrhaftig an diesem schönen Maitage wie ein Maulwurf in ihren Bau eingegraben,« lachte die Ursel. »Flink, Magda, wirf dich in den feinsten Staat und komm mit auf die Messe. Ich habe von meinem Vater den ganzen Nachmittag Urlaub, und die Änne habe ich auch schon von ihrer Pinselei aufgescheucht. Fix – fix – das soll heute mal wieder ein quietschfideler Nachmittag werden.«

Wo blieben da alle Unlustgefühle Magdas soviel sprühender Lebensfreude gegenüber?

Im Umsehen hatte sie das zartfarbige Blümchenkleid, das ihr mit seinem feinen Spitzenfichu so gut stand, übergeworfen, den großen Florentiner mit dem Kornblumenkranz auf das Goldhaar gedrückt. Wie der Wind ging es die Korkenziehertreppe hinab.

»Tante Brigitte, ich gehe mit meinen Freundinnen auf die Messe.« Lange hatte des Ratstöchterleins Stimme nicht so hell durch das alte Haus geklungen.

Zu dreien untergeärmelt, mischten sie sich in das Gewühl. Das war jetzt am Nachmittag noch erheblich gestiegen. Breite Ketten von Bauernburschen, die bunte Nelke hinterm Ohr, und drallen Dirnen in malerischer Landestracht, die kleinen Finger ineinandergehakt, kamen ihnen entgegen. Lachend und kreischend sperrten sie die engen Gassen. Der »Eisenhut«, das »Goldene Lamm« und das Gasthaus »Zum Hirschen« hatten Tische und Stühle auf die Straße hinausschaffen müssen; der Innenraum reichte nicht aus für all die frohen Zecher. Mit Weib und Kind, mit Knecht und Magd saßen die Bauern großspurig beim köstlichen Tauberwein. Einen Schoppen »Schiller« nach dem andern mußte die erhitzte Sephi herbeischaffen. Vor den Buden drängten sich die Schaulustigen. Besonders die »Dame mit dem Vollbart« erfreute sich großen Zulaufs. Zwischen den Bürgern und der Landbevölkerung sah man braune Samtjoppen, buntwehende Schlipse, über die Ohren gekämmte Frauenscheitel. Das waren die Malfräulein und die Herren Maler, die hier ihre Studien machten. Die rotbraunen Ziegelschuppen der alten Giebeldächer blickten nicht einmal allzu verwundert auf das aus seinem Schlaf erwachte Rothenburg herab. So war es anno dazumal im Mittelalter, zur Blütezeit der einst freien Reichsstadt, oft genug hier hergegangen.

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Der Doktor und Magda vor dem »Goldenen Lamm«

Magda war wie ausgetauscht. Ihre blaß gewordenen Wangen bekamen Farbe. Sie war ja so glücklich, daß sie wieder mit den Frohen fröhlich sein konnte.

Am Rand des Herterichbrunnens gewahrte sie die umfangreiche Tollhaube Barbaras, die dort auf offener Straße die neuen Schuhe probierte. Daneben stand Trautchen, selig an ihrem Weißwürschtl lutschend. Jubelnd eilte sie auf Magda zu, und nur durch zehn Pfennig zum Kasperletheater konnte diese sich von dem Schwesterchen, das sich durchaus an ihren Rock hängen wollte, loskaufen.

Lachend schoben sich die Freundinnen durch all das Drängen der Schaulustigen. Ihnen zu Häupten quer über dem Marktplatz waren Seile ausgespannt, und unter dem Beifall der Menge balancierten Seiltänzer halsbrecherisch da oben zwischen den treppenartigen Giebelzacken.

»Kinder, heute müssen wir irgend etwas ganz Besonderes unternehmen; mir ist heute so lustig zumute, als hätte ich ein ganzes Faß Tauberwein allein ausgetrunken,« rief die Ursel. »Wollen wir Karussell fahren?«

»Meinetwegen – ich bin heute auch wie losgebunden. Die hochwohllöblichen Honoratioren, die daran Anstoß nehmen könnten, haben die Messe ja schon am Vormittag beglückt,« gab Magda übermütig zurück.

»Na, und ich habe gottlob nicht nach solchem Bedenken zu fragen.« Auch Änne bestieg gleich den beiden andern eines der auf- und niederschaukelnden Holzpferdchen. Zwischen schnalzenden Bauernburschen und ihren quiekenden Schönen, zwischen juchzenden Kindern und einer ohrenbetäubenden blechernen Musik flogen die Freundinnen lachend im Kreise herum. Und Magda war es dabei, als ob das Schwere, das sie seit Tagen bedrückt, mit davonflog.

Sie sah nicht die spitze Nase der Frau Bezirksvorsteher Haberstroh, mißbilligend ob solcher Ungehörigkeit, die blaue Maienluft durchbohren. Strahlend wie in seligen Kindertagen stiegen die Freundinnen von ihren Rößlein.

»Was nun? Zirkus oder Wahrsagerin?« Ursel war unerschöpflich.

»Erst müssen wir uns über unsere Zukunft aufklären lassen,« lachte Änne. »Ich habe schon immer gewünscht, mal den Schleier ein wenig zu heben und zu sehen, ob ich wohl eine berühmte Malerin werde.«

»Mich gelüstet's eigentlich gar nicht so sehr danach, die Zukunft zu erfahren,« meinte Magda, wieder ernst werdend. »Was kann sie mir jetzt wohl noch bringen?

»Spricht das Mädel nicht wirklich, als ob es siebzig Jahre statt siebzehn alt ist,« ereiferte sich die Ursel. »Man merkt, daß wir solange nicht beisammen gewesen sind, bist schon zur reinen Tranlampe geworden. Also rein in unsere rosenrote Zukunft!« Sie hob mit kecker Hand den feuerroten Vorhang einer kleinen Bude, die das verheißungsvolle Schild trug: »Ein Blick in die Zukunft von Frau Aurora Honigseim.«

Frau Aurora Honigseim, die weissagende Pythia, saß nicht auf einem Dreifuß, wie einstens in Delphi, sondern in einem wurmstichigen alten Ledersessel und verzehrte grade ein großes Käsebrot. Nachdem sie diese Tätigkeit vollbracht, sah sie unsere Drei aufmerksam an.

»Ei, drei so hübschen jungen Damen wird das Schicksal sicher bald einen reichen Mann bescheren,« eröffnete sie ihr Orakel. Dann pfiff sie einem kleinen Vöglein, das ihr zutraulich auf die Schulter flog.

Die Freundinnen, welche durch die Realistik des Käsebrotes aus allen ihren idealen Zukunftsträumen gerissen worden waren, söhnten sich mit ihrer Pythia wieder etwas aus.

»So, mein Zuckerschnutchen, nun zeige mal, was im Schoße der Zukunft für das kleinste Fräulein ruht,« befahl Frau Aurora dem Vöglein und wies auf ein Schränkchen in der Ecke.

Dort lagen viele weiße Briefumschläge.

Ursel, das kleinste Fräulein, trat mit mühsam zurückgehaltenem Lachen vor. Nicht, ohne vorher den Freundinnen noch zugeflüstert zu haben: »Die scheint sich da in dem Schrank eine kleine Musterkollektion von Ehemännern angelegt zu haben.«

Während die andern kicherten und sich das Taschentuch gegen den Mund stopften, flog »Zuckerschnutchen« zu dem bewußten Schrank, pickte mit dem Schnabel einen Brief heraus und brachte ihn seiner Herrin.

»Hier sehen Sie ihre Zukunft wahr- und wahrhaftig.« Die Pythia überreichte dem jungen Mädchen feierlich den Brief.

Mit unverhohlener Neugier öffnete ihn Ursel. Magda und Änne, nicht weniger begierig, lugten ihr über die Schulter.

Die Photographie einer drallen Bauerndirne ward sichtbar.

»Nanu?« Ursel machte nicht grade ein geistreiches Gesicht. »Soll das etwa unser neues Dienstmädel sein?«

»Aber Zuckerschnutchen!« Frau Aurora Honigseim schüttelte unwillig ihr schön frisiertes Lockenhaupt. »Du bist ja an den falschen Schrank geflogen. Da drüben ist doch der für Damen.«

Jetzt gab es kein Halten mehr bei den Dreien. Sie pruschten alle zu gleicher Zeit lachend heraus. Wenn ihr Zukunftshimmel nur halb so heiter dreinschaute, wie sie augenblicklich, dann konnten sie ganz zufrieden sein.

Zuckerschnutchen hatte inzwischen seinen Fehler gut gemacht und aus dem Schrank für Damen drei Briefe herausgepickt.

Ursel lachte Tränen.

»Kinder, schaut doch bloß mal meine Zukunft an. Der kommt sicher grade von meiner Beerdigung.« Sie wies den Freundinnen das Bild eines feierlich aussehenden älteren Herrn im Gehrock und Zylinderhut. »Seht doch bloß den Bratenrock und die Angströhre – himmelangst kann einem dabei werden.« Sie konnte nicht mehr lachen.

»Hier ist ja auch noch ein Vers dazu.« Magda hielt sich ebenfalls die Seiten vor Lachen. »In der Antike liegt der wahre Wert,« las sie mühsam. »Ursel, das geht auf mich. Zuckerschnutchen hat uns verwechselt. Mit allem Antiken habe ich doch entschieden mehr zu tun als du.«

»Sie will mir meinen schönen Bräutigam abspenstig machen.« Ursel weinte bitterlich. So vergnügt hatte wohl noch keiner bei Frau Aurora Honigseim seinem Schicksal ins Auge geblickt.

Nun zog Änne den Schleier oder vielmehr den Briefumschlag von ihrer Zukunft.

»Ein Soldat« – rief sie begeistert, »ein Wachtmeister mit martialischem Schnauzbart. Jetzt hänge ich die Malerei an den Nagel, Kinder. Als Frau Wachtmeisterin mahle ich nur noch Kaffee. Ach, wie ich ihn schon auf den ersten Blick liebe!«

Kaum vermochte Magda, sich vor Lachen windend, ihr eigenes Schicksal zu ergründen. Nur einen schmalen Streifen Papier barg ihr Briefkuvert. Darauf stand: »Warum in die Ferne schweifen; sieh, das Gute liegt so nah.«

Sie wurde plötzlich ernst. »Fangen sie selbst hier mit derselben Leier an wie daheim,« meinte sie ziemlich betreten.

Ursel aber rief: »Der Zukünftige fehlt ja, der muß nachgeliefert werden.«

»Magda bleibt Junggesellin,« neckte Änne.

»I wo – solch eine hübsche junge Dame,« erhob Frau Aurora Honigseim Einspruch. »Ihr Zukünftiger muß rausgefallen sein – – –«

»Besser, als wenn Magda reinfällt.« Ursel hatte viel Mutterwitz.

Das Ratstöchterlein verzichtete auf eine zweite Auflage von Zuckerschnutchens Wahl. Sie begnügte sich mit ihrem Vers und der vergnügten Viertelstunde, die ihnen die weissagende Pythia bereitet. Soviel hatten sie in einem Jahr nicht gelacht wie bei Frau Aurora Honigseim.

Nachdem sie noch den Zirkus besucht, wo Magda ihren kleinen Bruder Werner traf, der den Pony der Kunstreiterin mit Zucker fütterte, nachdem sie ihn energisch nach Hause an seine Schularbeiten spediert hatte, und nachdem Weißwürschtl, Radi und Salzbrezel, ohne die eine richtige Messe nicht zu denken war, pflichtgemäß verzehrt, machten sich auch die drei Freundinnen auf den Heimweg.

Das Bild hatte sich verändert. Die vielen Buden mit Kleidungsstücken, Eßwaren, Spielzeug und tausenderlei Krimskram begannen schon die Augen zu schließen, die Bäuerlein zur Abfahrt zu rüsten. Hier schleppte einer in einem Paar hoher Schaftstiefel einen Laib Käse und ein paar Flaschen Tauberwein heim. Dort jener mit seinem Weib gar ein neues Waschfaß, in das er den jüngsten plärrenden Sprößling einquartiert hatte. Singende Burschen und Mädel zogen die Gassen entlang. Aus den Gastwirtschaften klang Musik und das Stampfen der tanzenden Paare.

Neugierig lugten die Freundinnen durch die weitoffenstehende Tür. Da hatte auch schon einer der Burschen die runde Ursel um die Taille gefaßt. Lachend drehte sie sich mit ihrem Kavalier nach den Klängen der durcheinanderlärmenden Musikinstrumente. Aber als jetzt ein dreister Bauernbursch auch auf Magda zutrat, um sie zum Tanz zu führen, versteckte sich das Ratstöchterlein schnell hinter Freundin Änne.

»Für hochwohlgeborene Patriziertöchter ist wohl solch ein plebejisches Volksvergnügen nicht?« zog die sie auf und trat selbst mit dem Verschmähten zum Tanze an.

Magda biß sich auf die Lippen. Wirklich, lag der Stolz ihres Geschlechtes, den sie stets lächerlich gefunden, und von dem sie sich ganz frei geglaubt, ihr nicht unbewußt tief im Blute?

Als ein anderer Tänzer jetzt sein Heil bei ihr versuchte, wirbelte auch sie, wenn auch noch immer mit Überwindung, mit dem lieblich nach Stallduft und Haarpomade Duftenden davon.

Diesmal war es der Herr Katasterkontrolleur Kniescheibe, der durch eines der kleinen Fenster das Ratstöchterlein bei dem volkstümlichen Tanzvergnügen erspähte.

Der Herr Katasterkontrolleur war sonst ein sehr verschwiegener Mann. Aber seiner Ehehälfte mußte er es doch erzählen, daß das vornehme Fräulein Toppler es nicht verschmäht habe, mit Bauernburschen zu tanzen.

Frauen pflegen weniger verschwiegen zu sein. So kam es, daß Tante Brigitte bei ihrem nächsten Kaffeekränzchen es mit Schlagsahne und Kuchen zugleich serviert bekam, daß ihre Nichte Magda Toppler, das erwachsene junge Fräulein, bei der Jahrmarktsmesse auf Karussellpferden geritten und sogar mit Bauernburschen getanzt habe.

Das arme Tantchen war ganz zerschmettert von solchen Unsitten der heutigen Jugend. Sie zitterte, daß bloß der Ratsherr davon keinen Wind bekäme. Denn sonst gab es ganz sicher wieder eine Katastrophe.


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