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16. Kapitel. Nesthäkchen macht ihr Unrecht gut.

Goldener Frühling war in das Land gezogen. Neue Hoffnungsfreude goß er in die Herzen der Menschen und ganz besonders in die der Jugend. Alles erneute sich draußen in der Natur, sproßte und blühte – wo blieben da schwere oder gar traurige Gedanken? Die blies der Lenzwind übermütig davon.

Auch Klaus und Annemarie fühlten die Macht des Frühlings. Nachdem sie einige Tage gedrückt und still einhergegangen, erwachte allmählich wieder Jugendfrohsinn und Jugendhoffnung. Noch war ja nichts verloren, vielleicht war die Mutter überhaupt schon wieder auf freien Fuß gesetzt, die Briefe blieben ja so lange unterwegs. Wozu den Kopf hängen lassen, wenn noch gar kein Grund dazu war!

Die beängstigende Stille, die mehrere Tage im Braunschen Hause geherrscht, machte allmählich gewohnter Lebhaftigkeit Platz. Klaus schmetterte wieder durch die Wohnung, und Nesthäkchen begann wieder zu singen und zu springen. Nur manchmal blickten die Kinderaugen so nachdenklich drein, daß die liebe Frühlingssonne Mühe hatte, den ungewohnten Ernst darin fortzulachen.

Hans, seit Oktober Unterprimaner, hatte am meisten durch die böse Nachricht gelitten. Ganz still, ganz für sich. Keiner merkte es, wie tief es dem Jungen gegangen. Er nahm sich mit aller Kraft zusammen, um als Ältester der Großmutter in den schweren Tagen eine seelische Stütze zu sein. Nur einmal kam es zum Ausbruch: »Wenn doch Vater erlauben würde, daß ich mich stelle, zwei aus meiner Klasse sind schon im Felde. Wenn ich doch gegen die Engländer ziehen könnte! Jede Träne, die Mutti vergießt, sollten sie mit ihrem Blut bezahlen!« Großmama sah ganz erschrocken auf den Erregten. Was hatte der Krieg aus dem sanften Jungen gemacht!

Zu Ostern war Nesthäkchen als Zweite in die fünfte Klasse versetzt worden. Die Erste war diesmal Ilse Hermann geworden. Annemaries Zensur war vorzüglich ausgefallen, aber sie hatte keine rechte Freude daran. Trotz des Theaterbilletts zu »Wilhelm Tell«, das Großmama ihr und Klaus, der sich auch in diesem ernsten Winterhalbjahr mehr Mühe gegeben, schenkte. Ja, wenn Vatchen und Mutti sich hätten über ihre fleißige »Lotte« freuen können, aber so ...

Nesthäkchen hatte es in diesen Kriegsmonaten bereits gelernt, daß es für jeden galt, Opfer zu bringen. Doch es wollte dem glückverwöhnten kleinen Mädel scheinen, als ob kein anderer so große Opfer zu leisten habe, als es selbst. Von den Mitschülerinnen war doch nur der Vater draußen im Felde, die Mutter hatten sie doch fast alle daheim. Sie aber mußte Vater und Mutter entbehren, und noch um das Leben der letzteren zittern. Denn die Worte von Klaus hatte Annemarie durchaus nicht vergessen. Wie einen Stich fühlte sie dieselben oft durch ihr Herz zucken, manchmal mitten in der Schulstunde.

Meist war dies der Fall, wenn ihr Blick die schwarzlockige Vera streifte. All das Weh, das sie dem armen Mädchen durch ihren unbegründeten Verdacht zugefügt hatte, empfand Doktors Nesthäkchen jetzt selbst, wenn sie an ihre gefangene Mutter dachte. Hatte sie Vera nicht ein gleiches Unrecht getan, wie die Engländer ihrer Mutti? Pfui – und sie war ein deutsches Mädchen, war stolz darauf, es zu sein.

»Mach' gut, es ist nie zu spät zum Gutmachen!« flüsterte in Annemarie die Stimme, die oft unbequem ist, aber immer den richtigen Weg weist. Dann hatte Annemarie wohl auch den besten Willen dazu, aber – es war so schwer! Die Kleine schreckte davor zurück, vor den Schulkameradinnen einzugestehen, daß sie unrecht gehandelt hatte.

Und doch war Vera diejenige in der Klasse, bei der selbst Annemarie anerkennen mußte, daß diese es noch schlechter habe als sie selbst. Zu ihr waren doch alle lieb und freundlich. Vera aber war gemieden und ausgestoßen. Keine Mutter, keine Heimat – nein wirklich, im Vergleich mit Vera konnte sie noch ganz zufrieden sein.

Auch daß die »Polnische« sich nicht die Spur rachsüchtig benommen, mußte Annemarie zugeben. Kein Wort war von ihr über Annemarie Brauns Jungenanzug in der Schule verlautet. Nur dagestanden hatte die Vera am nächsten Tage, nachdem Annemarie im Hause ihrer Tante die Wollsachen abgeholt, und hatte sie mit ihren großen Augen halb fragend, halb bittend angesehen. Als wollte sie sagen: »Was habe ich dir nur getan, daß du mich nicht magst?«

Aber Annemarie, die ihre Freundin Margot umschlungen hatte, war zu sehr mit sich selbst und ihrem eigenen Kummer um die Mutter beschäftigt. Die hatte keinen Blick für die bekümmerte Vera.

Je mehr Tage vergingen, um so unmöglicher erschien es Annemarie, ihr Benehmen gegen Vera plötzlich zu ändern. Was hätte diese selbst wohl davon gedacht! Ordentlich froh war sie, als die Osterferien begannen; nun wurde sie durch den Anblick des schwarzhaarigen Mädels doch nicht täglich an ihre Schlechtigkeit erinnert.

Nesthäkchens zwölfter Geburtstag fiel in die Ferien. Die gute Großmama hatte, trotzdem ihr gar nicht nach fröhlichen Feiern zumute war, erlaubt, daß Annemarie sich ihre vier besten Schulfreundinnen zur Geburtstagsschokolade einladen durfte. Das Kind sollte den festlichen Tag so heiter als irgend möglich begehen. Den Kurt hatte Annemarie ebenfalls dazu gebeten. Einen Augenblick hatte sie geschwankt, einen ganz kleinen nur, ob sie nicht auch Vera auffordern sollte. Hier war eine Gelegenheit, ihr Unrecht gut zu machen. Das fühlte sie deutlich. Mit einem Schlage würde Veras Stellung in der Klasse verbessert sein, wenn es hieß, Annemarie Braun habe sie eingeladen. Und wie würden die blauen Augen, die immer so traurig blickten, aufleuchten!

Gleich darauf hatte Annemarie aber diesen Gedanken als ganz unmöglich von der Hand gewiesen. Nein, was würden wohl ihre Freundinnen für Gesichter dazu machen. Und um ihr Vergnügtsein war es auch geschehen, wenn Vera dabei war. Sie würden sich sicherlich durch ihre Anwesenheit alle bedrückt fühlen. So ließ Annemarie den günstigen Augenblick ungenützt verstreichen.

Der 9. April brachte dem Geburtstagskind als schönstes Geschenk ein an Fräulein Annemarie Braun gerichtetes Schreiben aus England. Mutti war wieder frei! Die Engländer hatten, da nicht das geringste Belastungsmaterial, außer dieser einen unvorsichtigen Äußerung, vorlag, die Gefangene aus der Haft entlassen. Allerdings mußte sie sich regelmäßig jede Woche auf der Polizei melden, und – nun kam das weniger Schöne – sie durfte England in absehbarer Zeit nicht verlassen. Aber Annemarie und alle übrigen Familienmitglieder waren trotzdem wie aufgebunden. Mochte die Mutter ruhig noch in England bleiben – ewig konnte der Krieg ja nicht währen – wenn nur ihr Leben gesichert war! Wenn sie nur nicht mehr in der Gefangenschaft schmachtete!

Jetzt erst hatte das Geburtstagskind richtige Freude an den Geschenken, mit denen jeder einzelne im Hause das allgemein beliebte Nesthäkchen bedacht hatte.

Zwar hatte Annemarie nur um Geld gebeten, um dafür Liebesgaben ins Feld senden zu können, aber Großmama hatte dem Enkelchen selbst Liebesgaben aufgebaut. Wenn auch im bescheidenen Maße, wie es der Zeit entsprach.

Nur daß die Glückwunschkarte vom Vater ausgeblieben war, schmerzte Annemarie. Er hatte jetzt als Arzt Schützengrabendienst, da mochte sich sein Schreiben wohl verspätet haben.

Aber von Gerda Eberhard, ihrer Breslauer Freundin aus dem Kinderheim, kam ein lieber Brief. Wie nett von der Gerda, daß sie an ihren Geburtstag gedacht hatte. Ihr Vater, der Hauptmann war, lag verwundet im Lazarett. Da wollte Annemarie ganz froh sein, wenn von ihrem Vater der Geburtstagsbrief auch unpünktlich ankam. Die Hauptsache, daß Vater gesund war.

Tante Albertinchen erschien heute zu Tisch. Ihre fleißigen Finger hatten für das Lieblingsnichtchen eine wunderhübsche Bluse gestickt. Auch ein Herr, einen Blumenstrauß in der Hand, stellte sich vormittags zur Besuchszeit ein – in Windelhöschen und im ersten, von den Junghelferinnen selbst fabrizierten kurzen Kleidchen. Annemaries Junge benahm sich heute, dem Geburtstag seiner kleinen Pflegemutter zu Ehren, höchst manierlich. Er schrie nicht, lachte sie an und erzählte lange Mordsgeschichten, die kein Mensch verstehen konnte. »Rackerlatein« nannte Großmama seine Sprache. Nur von dem Blumensträußchen wollte sich das jetzt dreiviertel Jahre alte Mäxchen durchaus nicht trennen.

Die Nachmittagsschokolade verlief höchst vergnügt. Der Riesenkriegskuchen, den Hanne gebacken, fand dankbare Abnehmer. Das war ein Lachen und Schwatzen, Kichern und Tuscheln, daß selbst die alten Damen dabei wieder jung wurden und an den fröhlichen Gesellschaftsspielen teilnahmen. Auch Klaus ärgerte die Mädels heute ausnahmsweise nicht; er verzichtete selbst auf das Vergnügen, Puck auf die furchtsame Margot zu Hetzen. Die Anwesenheit des netten, bescheidenen Kurts wirkte höchst wohltuend auf den wilden Jungen.

Beim Pfänderauslösen wurden für jedes Pfand schwere Strafen erdacht, wie »Steine karren«, einen Ring mit dem Munde aus einem Berg Mehl herausgraben und andere lustige Dinge mehr. Als wieder ein Pfand hochgehalten wurde, mit der Frage: »Was soll der tun, dessen Pfand ich hab' in meiner Hand?« rief plötzlich Marianne lachend: »Mit der ›Polnischen‹ in der nächsten Zwischenpause gehen!« Es war Annemaries rote Haarschleife, welche diese, nicht weniger rot, in Empfang nahm.

»Nein – nein – sag' was anderes, das ist doch gar nichts Richtiges«, wehrte sie sich energisch. Aber alles Sträuben half dem Geburtstagskind nichts. Ausgelassen blieb die Freundin bei ihrem Richterspruch.

»Bis zum ersten Schultag ist ja noch lange hin«, tröstete sich Annemarie und ließ sich ihre Geburtstagslaune dadurch nicht verderben. Aber es war doch gut, daß sie Vera nicht eingeladen hatte.

Leider mußten die Freundinnen schon um sieben Uhr aufbrechen. In der Kriegszeit fanden die Kinderbesuche ohne Abendbrot statt, da jede Familie nur gerade für sich genügend Brot hatte. Und bei Brauns war es diese Woche besonders knapp. Denn Klaus hatte, als er ein Brot holen sollte, es für notwendiger erachtet, auf der Straße an einem Jungenkriegsspiel, Deutsche gegen Engländer, teilzunehmen. Nur seiner Feindschaft gegen England war es zuzuschreiben, daß die beiden Brotkarten sich nachher nirgends finden lassen wollten. Und daß er mit blauen Flecken, aber ohne Brot, heimkehren mußte. Zur Strafe sollte er die Woche über abends keine Stullen erhalten. Doch Großmama und Fräulein drückten ein Auge zu, wenn Hans oder Annemarie dem ewig Hungrigen von ihren Schnitten heimlich zuschoben. Denn unglücklicherweise herrschte in dieser Woche auch gerade große Kartoffelknappheit in Berlin.

Mit vielen Dankworten und Küssen verabschiedeten sich die Freundinnen. Klaus begleitete Kurt nach Hause.

Da klingelte es.

Hatte eins der Mädel am Ende etwas vergessen? Annemarie stürzte zur Tür.

Nein, es war keine der Freundinnen. In dem schon dämmrigen Treppenflur stand ein fremder, bärtiger Offizier. Gewiß ein Patient, der sich verspätet hatte.

Annemarie knickste höflich. »Mein Vater ist im Felde, aber wenn Sie zu seinem Vertreter gehen wollen – – –«

Wildes Freudengeheul von Puck unterbrach Nesthäkchens wohlgesetzte Rede. Und jetzt ein Lachen, das ihr alles Blut zum Herzen trieb. Sie sah schärfer hin ... und »Vater – Vatichen – mein liebes Vatchen!« Da hing die Annemarie an dem Halse des »Patienten« und streichelte und küßte unter Freudentränen sein durch den Bart verändertes, braungebranntes Gesicht.

»Ist meine Lotte wirklich dümmer als der Puck, kennt ihren eigenen Vater nicht mehr!« Doktor Braun ließ sein Töchterchen nicht aus dem Arm. Auch während die andern alle sich freudig um ihn drängten, gab er seine Lotte nicht frei. Es war ja sein Kleinstes, sein Nesthäkchen – wenn es ihm auch jetzt schon bis zur Schulter reichte, wenn es auch heute bereits zwölf Jahre alt wurde.

Und Annemarie selbst, das große Mädel, saß auf Vaters Knie, wie es früher das kleine Nesthäkchen getan. Sie erdrückte ihn fast mit ihren stürmischen Liebkosungen. All die Sehnsucht, die Annemarie während der langen Kriegsmonate nach den fernen Eltern empfunden, löste sich in unaussprechlicher Zärtlichkeit gegen den auf Urlaub heimgekehrten Vater.

Wohl fehlte eine, aber der heutige Brief der Mutter ließ die Lücke weniger schmerzlich empfinden, goß dankbares Sich-ins-Unabänderliche-Fügen in die Seelen der ihrigen.

Was wurde das noch für ein schöner Geburtstag! Nesthäkchen war nicht ins Bett zu bringen. Fast bis Mitternacht saß sie auf Vaters Knie, während Klaus und Hans dem von dem gewaltigen Ringen in der Champagne Berichtenden die Worte förmlich von den Lippen lasen.

»So wenig wie es ihnen trotz der gewaltigen Vorbereitungen gelungen ist, diesmal unsere Reihen zu durchbrechen, wird es ihnen auch fernerhin glücken. Wir halten durch, draußen wie drinnen!« schloß der Vater mit erhebendem Ernst.

»Ach, Vater, wenn ich doch helfen dürfte, laß mich doch mit hinaus! Zwei Jungen aus meiner Klasse sind schon seit Oktober dabei. Und aus der Oberprima ist sogar schon einer gefallen!« Hans hatte heiße Backen und blitzende Augen.

»Nein, mein Sohn, nicht mal das letztere kann mich umstimmen. Du bist mir noch nicht kräftig genug. Soll mein Junge etwa vor dem Feinde schlapp werden? Das wäre doch eine Schande, was? Frag' in einem Jahr wieder nach – Gott gebe, daß wir dann längst siegreichen Frieden haben – und bis dahin tu' deine Pflicht daheim, wie du sie bisher geleistet.«

Schweren Herzens mußte sich Hans fügen – Großmama atmete auf.

»Schläft meine Lotte?« Vater hob den blonden Kopf seiner Jüngsten zu sich empor. Nein, mit großen Augen lauschte sie und genoß ganz still dabei das Glück, ihre Wange wieder an Vaters Brust schmiegen zu können.

»Nun heißt es aber ins Bett, Kinder. Morgen ist auch noch ein Tag. Nur ein Gruß und Glückwunsch muß ich dir noch bestellen, Lotte, von Schwester Lenchen.« Vater erhob sich.

»Schwester Lenchen – wer ist denn das?« verwunderte sich Annemarie.

»Lotte, ich glaube doch, du schläfst schon mit offenen Augen«, lachte der Vater sie aus. »Erst kennt meine dumme Lotte den eigenen Vater nicht und jetzt nicht mal die Tante Lenchen aus Wittdün, die ein ganzes Jahr lang für sie gesorgt hat.«

»Ach, Tante Lenchen! Ist sie in deinem Lazarett, Vater?« Annemarie, die schon ein wenig schläfrig gewesen, wurde plötzlich wieder ganz munter.

»Nein, Kind, aber sie pflegt in einem Etappenlazarett, in dem Onkel Heinrich liegt. Er ist verwundet, gottlob nur leicht. Ich habe meine Reise unterbrochen und ihn aufgesucht. Da stellte sich mir seine Pflegerin, als sie hörte, wer ich sei, als eine mütterliche Freundin von meinem Nesthäkchen vor. Ja, Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber Menschen!«

»Onkel Heinrich hat doch bisher immer in Rußland gestanden, wie kommt der plötzlich nach dem Westen?« fragte Hans ganz erstaunt.

»Es sind kolossal viel Truppen wegen der großen französischen Offensive vom Osten nach Westen geworfen worden. Onkel Heinrich ist durch Berlin gekommen. Aber er konnte euch nicht benachrichtigen, da die Truppenverschiebungen geheim gehalten werden. Er mußte es sich sogar versagen, seine Frau und Kinder nach Breslau kommen zu lassen. Aber nun gute Nacht – ach, ihr wißt ja gar nicht, was das für ein Gefühl ist, sich wieder daheim im eigenen Bett strecken zu können.«

Am nächsten Morgen wehte es schwarz-weiß-rot von Doktor Brauns Balkon in die Frühlingsluft. Die Umwohnenden und Vorübergehenden horchten erwartungsvoll auf Extrablätter oder Glockengeläut, die einen Sieg verkünden sollten – nichts dergleichen. Ja, warum flaggte man da oben denn bloß? Die Leute zerbrachen sich den Kopf. Keiner kam auf die richtige Lösung, daß ein glückseliges Kinderherz seinem Jubel über die Heimkehr des Vaters aus dem Felde durch das höchste, was es kannte, Ausdruck gab – durch Freudengeflatter der Siegesfahne.

Mit unsagbarem Stolz schritt Nesthäkchen nicht mehr an der Hand, nein, jetzt schon am Arm des Vaters durch die Straßen Berlins. Nicht einen Schritt ließ Annemarie ihn allein gehen. Sie und Puck – wie sein Schatten folgten die zwei ihm getreulich.

Sogar in die Klinik des Vaters, in der sie vor Jahren wochenlang an Scharlach gelegen, begleitete sie ihn. Dieselbe war inzwischen in ein Lazarett verwandelt. Von Bett zu Bett schritt Annemarie und verteilte Apfelsinen, Schokolade und Zigarren. Selbst die Verwundeten, die heftige Schmerzen duldeten, lächelten beim Anblick des glückstrahlenden, reizenden Blondkopfs.

Ach, daß die dumme Schule wieder beginnen mußte! Sonst hatte sich Annemarie stets auf eine neue Klasse gefreut. Aber diesmal sah sie dem Schulanfang mit wenig freudigen Gefühlen entgegen. Zwei Vormittage und ein ganzer Nachmittag gingen ihr von Vaters knapp bemessenem Urlaub durch die Schule verloren. In drei Tagen mußte er schon wieder fort.

Und dann gab es noch etwas, was dem kleinen Mädchen im Gedanken an die Schule höchst unbehaglich war. Wie, wenn Marianne Davis noch an die alberne Geschichte mit dem Pfänderauslösen dachte und irgendeine scherzhafte Bemerkung machte, daß sie mit der ›Polnischen‹ in der Pause gehen sollte. Es war ihr nur peinlich vor Vera, die es vielleicht merken konnte. Denn sie dachte ja gar nicht daran, mit der zu gehen. Nein, ganz bestimmt nicht!

Annemarie bat den Vater so lange, bis dieser ihr den Gefallen tat, sie zur Schule zu begleiten. Es war nicht nur der Wunsch, noch soviel wie möglich mit ihm zusammen zu sein, es war auch ein kleines Teilchen Eitelkeit dabei. Die Schulkinder sollten ihren Vater, auf den sie so stolz war, mit seinem Eisernen Kreuz sehen, vor allem die polnische Vera.

Aber das schwarzlockige Mädchen, das sonst oft auf der andern Seite gleichen Schritt mit Annemarie und Margot hielt, und sehnsüchtig zu den Freundinnen herüberblickte, war heute leider nicht zu sehen.

»Mein Vater ist auf Urlaub gekommen, wenn ihr schnell ans Fenster geht, könnt ihr ihn noch sehen, er hat mich zur Schule begleitet.« Mit diesen Worten betrat Annemarie Braun, lebhaft wie immer, die neue Klasse.

Nanu, die Mädel waren ja so ruhig und machten so komische Gesichter. Manche liefen zwar ans Fenster, aber die meisten steckten tuschelnd die Köpfe zusammen oder sahen scheu nach links.

Annemarie folgte der Richtung ihrer Blicke.

Da saß auf der vorletzten Bank ein blasses Kind in düsteren Trauerkleidern. Schwarze Locken fielen auf das schwarze Kleid – Vera.

Annemaries noch eben so fröhlich schlagendes Herz krampfte sich bei diesem Anblick schmerzlich zusammen. War Veras Onkel oder Tante gestorben? Es drängte sie, zu dem stillen bleichen Mädchen hinzueilen und sie zu trösten, aber ehe sie noch das letzte Restchen falscher Scham in sich besiegt hatte, betrat bereits Herr Doktor Winter, der neue Ordinarius, die fünfte Klasse.

Es fand heute noch kein Unterricht statt. Der Lehrer nahm nur die Namen seiner Schülerinnen auf, gab den Stundenplan und teilte die für das neue Schuljahr anzuschaffenden Bücher mit.

»Annemarie Braun – Beruf des Vaters?«

»Oberstabsarzt«, freudig stolz klang es.

Nachdem Annemarie Braun noch verschiedene andere Fragen beantwortet, folgte ihr unmittelbar nach dem Alphabet Vera Burkhard.

»Beruf des Vaters?«

»Papa ist – tot.« Vera schlug plötzlich aufschluchzend beide Hände vor das blasse Gesicht.

»Richtig – armes Kind!« Der Lehrer trat teilnehmend zu ihrem Platz und streichelte das weiche schwarze Haar. »Ich hörte bereits, daß dein Vater den Heldentod für unser Vaterland in der Karpathenschlacht erlitten. Du mußt stolz auf deinen Vater sein – wir aber, ich weiß mich da sicher eins mit der ganzen Klasse, wir wollen der armen Vera von Herzen den schweren Verlust tragen helfen.«

Weiter ging es in der Schülerinnenliste. Beschämte Mädchengesichter neigten sich allenthalben tief über den Schultisch. Mitleidig verstohlene Blicke wanderten hier und da zu der blassen Vera.

Auf dem zweiten Platz aber saß ein blondes Mädel, dem rollten die Tränen unaufhaltsam über die blühenden Wangen. Wo blieb Annemaries kleiner eitler Stolz? Wo ihre falsche Scham? Davongespült wurden sie von ihren bitteren Reuetränen. Die, welche sie der Verachtung der ganzen Klasse preisgegeben, die sie als Spionin verschrien, hatte jetzt dem Vaterland das Liebste, was sie noch besessen, dahingegeben. Was wogen all die kleinen Opfer, die sie selbst getragen, gegen dieses gewaltige, schmerzliche?

Als die Schulglocke die Stunde schloß, eilte Annemarie, ohne noch zu überlegen, zur vorletzten Bank. Ungestüm schlang sie ihre Arme um die zusammenzuckende Vera und küßte warmherzig ihre bleiche Wange.

»Kannst du mir verzeihen, Vera, daß ich so schlecht zu dir gewesen bin? So schlecht – du weißt ja gar nicht, wie sehr! Es tut mir ja so schrecklich leid, und ich will alles wieder gut machen. Ich werde dich von nun an sehr lieb haben. Du sollst meine Freundin sein.« Unter Tränen flüsterte es Doktors Nesthäkchen!

Da irrte wie ein Sonnenstrahl ein kaum merkliches Lächeln um den ernsten Kindermund, oder war das Lächeln nur in Veras großen dunkelblauen Augen, die sie dankbar zu Annemarie aufschlug? Still reichte sie der neuen Freundin, die ihr soviel Böses getan, die Hand.

Aber auch die andern drängten sich jetzt herzu. Ebenso wie Annemarie Brauns schlechtes Beispiel die Mitschülerinnen gegen Vera eingenommen, folgten sie jetzt ihrem guten. Jede drückte der armen Vera die Hand, hatte den Wunsch, ihr irgend etwas zu Liebe zu tun, das Häßliche, das man ihr zugefügt, gut zu machen.

Annemarie schnallte ihr die Mappe auf, Margot reichte ihr den schwarzen Hut. Dann nahmen die beiden Freundinnen die so lange Ausgestoßene in die Mitte. Arm in Arm, so schritten sie heimwärts.

Das, was Vera viele Monate ersehnt, um was sie den lieben Gott jeden Abend gebeten, hatte sich erfüllt. Die Kinder behandelten sie nicht mehr abstoßend, alle waren sie nett zu ihr. Und Annemarie, zu der sie sich trotz ihres häßlichen Benehmens am meisten hingezogen gefühlt, war ihre Freundin geworden. Aber wie teuer war das erkauft! Noch vermochte sich Vera nicht über den Wechsel zu freuen.

In der ersten Zwischenpause nach den Ferien erfüllte sich das Pfänderorakel: Annemarie Braun ging innig umschlungen mit der einst so verachteten »Polnischen«.

Als Doktor Braun wieder ins Feld hinaus mußte, hielt sein Nesthäkchen tapfer die fürwitzigen Tränen, die sich durchaus hervordrängen wollten, zurück. Sie dachte an Vera – nein, nicht weinen! Sie hatte nur Grund, dem lieben Gott dankbar zu sein.


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