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4. Kapitel. Für unsere Vaterlandsverteidiger.

»Viele Hände machen der Arbeit bald ein Ende«, auch in dem Mädchenlyzeum bewahrheitete sich dieses Sprichwort. Schon nach knapp drei Tagen war die Hauptarbeit getan, Aula und Turnhalle vollgestopft mit allem, was sich sonst auf sämtliche Schulräume verteilt hatte. Eine mächtige Küche wurde angebaut, Badeeinrichtungen geschaffen und fünfhundert Betten aufgestellt.

Die Werktätigkeit der Schülerinnen aber begann jetzt erst eigentlich. Jede erhielt einen gedruckten Aufruf:

»An die Schülerinnen des Schubertschen Mädchenlyzeums zu Berlin.

In diesen schweren Tagen soll auch euch Gelegenheit gegeben werden, euch zum Wohle des Vaterlandes zu betätigen.

Das Lehrerkollegium hat beschlossen, zwei Hilfsabteilungen im Dienste des Roten Kreuzes zu gründen:

1. Eine Strick- und Nähabteilung (Vorsitzende Fräulein Hering). In dieser sollen wollene Strümpfe, Handschuhe, Bettwäsche usw. für unsere Truppen angefertigt werden. Die Arbeiten werden unter Leitung der Lehrerinnen eingerichtet, und dann so weit als möglich zu Hause vollendet. Zur Unterweisung stellt Herr Direktor Schubert vorläufig seine Dienstwohnung zur Verfügung.

Versammlung der hierzu bereiten Schülerinnen Montag, den 10. August, nachmittags 4 Uhr, auf dem Schulhofe.

2. Eine Verpflegungsabteilung wird eingerichtet. (Vorsitzende Fräulein Neubert.)

Durchziehenden Truppen sollen Erfrischungen gereicht werden.

Diese vaterländische Betätigung im Dienste des Roten Kreuzes erfordert viel Geld. Es ergeht daher an alle Schülerinnen der Aufruf. Geldbeiträge zu spenden, dieselben durch ihre Vertrauensschülerinnen zu sammeln und an den Direktor abzuliefern.

Opfert dem Vaterlande!«

Doktors Nesthäkchen erhielt von Margot diesen Aufruf zugesandt, trotzdem es selbst eine der von der Klasse erwählten Vertrauensschülerinnen, die für die Versendung der Zettel Sorge zu tragen hatten, war. Aber sie war doch nicht schlechter als die andern – wenn die ihren Aufruf mit der Post bekamen, wollte Annemarie ihn auch so haben. Darum sandten die törichten kleinen Mädel sich gegenseitig ihre Zettel zu.

In tiefem Nachdenken saß Annemarie vor dem ihren, trotzdem der Inhalt ihr bereits genügend bekannt war. Es war wirklich eine schwierige Überlegung. Sollte sie sich zur Handarbeits- oder zur Verpflegungsabteilung melden? Oder am Ende zu allen beiden?

Für Handarbeiten hatte der Wildfang eigentlich herzlich wenig übrig. Nesthäkchen quälte sich immer noch mit ihrem ersten Pulswärmer zu Hause herum. »Verpflegung«, das klang doch viel schöner. Dabei dachte man gleich an leckere Schinken und lange Würste – und am Ende durfte sie selbst am Bahnhof Butterbrote und Kaffee an die durchkommenden Truppen verteilen wie Bruder Hans. Klaus, mit dem sie die Sache besprach, riet ihr, aus seinem ewig hungrigen Gymnasiastenmagen heraus, zur Verpflegungsstation. Aber der wußte doch nicht, wie gern sie Fräulein Hering hatte, welche die Näh- und Stricknachmittage leitete. Während Fräulein Neubert, die der Verpflegungsabteilung vorstand, als streng in der ganzen Schule bekannt war.

Großmama, die klügste von allen, mußte den Ausschlag geben.

»Großmuttchen, wozu soll ich mich melden? Stricken muß ich doch eigentlich schon bei dir genug. Margot geht ja zu den Stricknachmittagen und meine andern Freundinnen auch. Aber ich denke mir die Verpflegung viel feiner, das macht bestimmt mehr Spaß!« Nesthäkchen sah die alte Dame erwartungsvoll an.

»Herzchen, weißt du wirklich nicht, wozu ich dir raten werde?« Großmama lächelte ihr liebes Lächeln.

Annemarie kniff ein Auge ein, das tat sie öfters, wenn sie etwas Schalkhaftes dachte.

»Natürlich weiß ich es, alte Damen sind doch immer für Stricken und Nähen. Klaus ist nun wieder mehr fürs Essen. Und du hast doch gesagt, es ist ganz gleich, wie man seinem Vaterlande nützt, Großmuttchen, wenn man nur überhaupt etwas tut.«

Großmama wies mit dem Finger schweigend auf eine Zeile des Aufrufs.

»Opfert dem Vaterlande«, las Nesthäkchen.

»Jawohl, das will ich ja auch gern tun, Großmuttchen. Ich werde an Vater schreiben, ob ich mein Sparkassenbuch geben darf. Und – und vielleicht hast du graue Wolle oder Leinewand übrig, die dürfen wir auch mitbringen, und Hanne wird mir gewiß eine Wurst schenken.«

Stolz sah die Kleine die Großmama an – mehr konnte sie doch nicht opfern.

Aber Großmama schüttelte den Kopf.

»Nein, Kind, mit Geld und Waren allein ist es nicht getan. Opfern heißt, etwas hingeben, was einem schwer wird. Unsere Zeit und unsere Arbeit sollen wir dem Vaterlande opfern. Nicht, was dir Spaß macht, sollst du tun, sondern das, was am nutzbringendsten für unsere Krieger ist. Nun, Herzchen, wozu wirst du dich melden?«

»Das muß ich mir erst noch überlegen, Großmuttchen.« Annemarie zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Essen ist doch eigentlich mindestens so notwendig wie Kleidung für unsere Feldgrauen. Aber weißt du, Großmuttchen, ich werde mich für beide Abteilungen melden.«

»Das hat keinen Wert, Annemiechen. Lieber eine Sache ganz tun, als mehrere Dinge nur halb.«

Annemarie wurde ihrer Überlegung enthoben. Denn Margot, die herüberkam, um gemeinsam mit der Freundin eine Liste für die Sammlung aufzusetzen, teilte ihr mit, daß zu der Verpflegungsabteilung überhaupt nur die großen Schülerinnen der ersten und zweiten Klasse zugelassen wurden.

So fand sich auch Annemarie Braun mit mehreren hundert anderen Schülerinnen am nächsten Tage im Schulhof zur Liebesarbeit ein.

Die Mädchen wurden in zwanzig Gruppen geteilt, die abwechselnd an verschiedenen Tagen der Woche zusammenkamen. Mehrere Lehrer und Lehrerinnen stellten ihre Wohnung für die Strick- und Nähnachmittage zur Verfügung.

Wie froh war Annemarie, daß sie sich daran beteiligt hatte, denn die Stricktage gehörten bald zu den schönsten in der Woche.

Die kecken Berliner Spatzen, die den Garten des Herrn Direktors als ihr Privateigentum betrachteten, konnten sich jetzt nicht genug verwundern. Da tauchten täglich in den sonnigen Augusttagen zwischen Bäumen und Buschwerk blonde und dunkle Mädchenköpfe auf, wohl an hundert Stück, alle eifrig über die Arbeit geneigt.

Was wurde dort nicht alles von den fleißigen Mädchenhänden fabriziert. Vor allem graue Strümpfe, denn »barfuß können unsere Soldaten nicht bis Paris und Petersburg marschieren!« scherzte Fräulein Hering. Mit solchen Worten spornte sie die Kinder immer wieder zu neuem Eifer an.

Eigentlich war das aber gar nicht nötig. Denn jedes hatte den Ehrgeiz, möglichst viel für die Vaterlandsverteidiger zu schaffen. Ein edler Wettbewerb begann zwischen den Schülerinnen, wer wohl am schnellsten mit seiner Arbeit fertig wurde. Eine schielte auf den Strumpf der anderen, ob die auch bloß noch nicht weiter war mit Abnehmen, als sie selbst. Die Stricknadeln klapperten unaufhörlich, und die Mundwerke der kleinen Fräulein klapperten fast noch unaufhörlicher – auch hierbei gab es einen edlen Wettstreit.

Es war merkwürdig, mit welcher Freude Doktors Nesthäkchen, das dem Stricken von jeher nicht sehr hold gewesen, hier an ihrem langen Strumpf schaffte. Es schaffte wirklich – Großmama traute manchmal ihren Augen nicht, wie Annemaries Strumpf an dem Stricknachmittage wuchs. Ja, mit den lustigen Altersgenossinnen um die Wette arbeiten, das war ein anderes Ding, als zu Hause allein. Da gab sich Annemarie grenzenlose Mühe, um nicht zurückzubleiben, ob ihr auch oft in den heißen Tagen der Schweiß von der Stirn perlte. Fräulein Hering sollte sie doch loben, und Großmamas Bewunderung des Abends, wenn sie heimkam, tat auch recht wohl. Auch zu Hause ließ Nesthäkchens Fleiß nicht nach, Großmama mußte jetzt sogar noch dagegen steuern, damit das Kind auch zum Spazierengehen kam. Margot, Marianne, Ilse und Marlene sollten durchaus nicht früher mit ihrem Strumpf fertig werden, als sie selbst. Die fünf Freundinnen hatten ihren Platz stets unter dem großen Nußbaum und piepsten da durcheinander wie die Spatzen droben. Jedoch noch etwas viel Schöneres gab es, als das Schwatzen bei der Arbeit. Das war das gemeinsame Singen. Die sangesfrohen Kehlen der Kinder wurden nicht müde. Vaterlands- und Soldatenlieder schallten jetzt zu allen Stunden durch den Garten des Herrn Direktors. Davor mußten die unmusikalischen Sperlinge die Schnäbel halten.

Oben aber über die unmittelbar an den Garten grenzende Eisenbahnbrücke rollte Militärzug auf Militärzug nach Ost und West mit begeistert herunterwinkenden feldgrauen Soldaten. Immer aufs neue stürmisch begrüßt von der fleißigen Mädchenschar.

Was war das jetzt für ein Leben in dem sonst so stillen Garten des Herrn Direktors. Und flatterte gar noch ein Extrablatt mit einer Siegesnachricht herein, dann war des Jubelns kein Ende.

Unvergeßliche Tage, diese herrlichen Augusttage des ersten siegreichen Vordringens der deutschen Truppen, der großen opferfreudigen Begeisterung der Daheimgebliebenen! Jedem der jungen Kinder, die da für das Vaterland schafften, gruben sie sich unauslöschlich für das ganze Leben in die Seele.

Selbst Klaus, der es geradezu als eine Bosheit des Schicksals empfand, daß sein Gymnasium nicht auch zu Lazarettzwecken ausersehen worden und die Ferien dadurch verlängert wurden, söhnte sich allmählich mit seinem Geschick aus. Denn viel wurde in diesen Augusttagen in keiner Schule Deutschlands gelernt. Wenigstens keine Bücherweisheit. Aber anderes lehrten die Lehrer ihre jungen Schüler: Begeisterte Liebe zum Vaterlande, grenzenlose Opferfreudigkeit für die draußen Kämpfenden. Den erhebenden Stolz, ein deutscher Knabe oder ein deutsches Mädchen zu sein, und die gleichzeitig daraus erwachsende Pflicht, trotz der Jugend seinen Platz in dieser schweren Zeit voll auszufüllen

Was war es da bloß, daß Doktors Nesthäkchen, eine der begeistertsten in diesen Augusttagen, oft des Abends ihr Kopfkissen vor dem Einschlafen mit Tränen netzte? War doch am Tage die lustigste und ausgelassenste von all ihren Freundinnen, sang und sprang durchs Haus wie ein Wiesel, so daß kein Mensch merkte, daß irgend etwas die Kinderseele bedrückte.

Nein, keiner ahnte etwas von Nesthäkchens Kummer. Nur der Mond, Annemaries alter, guter Freund, der Jahr für Jahr allabendlich ihr im Bett durch die Kinderstubenfenster liebkosend mit seinen Silberfingern die Wangen streichelte, wußte Bescheid.

Nesthäkchen bangte sich nach dem Gutenachtkuß ihrer Mutti!

In den ersten Tagen nach ihrem Heimkommen hatte es Annemarie gar nicht so arg empfunden, daß die Mutter nicht da war. Die Kriegsbegeisterung, von der alle gepackt wurden, war stärker als jedes sonstige Gefühl, ließ kaum ein anderes daneben aufkommen. Da war das Wiedersehen mit Vater und zugleich der baldige Abschied von ihm. Die Brüder waren Annemarie wieder neu, und vor allem war Großmama zu ihnen gezogen, an der die Kleine voll Liebe hing. Und Mutti mußte ja jeden Tag wiederkommen. sie hatte sich gewiß nur verspätet, so hoffte ihr Nesthäkchen von Tag zu Tag. Aber Tag für Tag verging, und keine Mutti kam zurück.

Annemarie, die das Jahr über im Kinderheim kaum Sehnsucht nach Hause empfunden, begann sich jetzt daheim nach der Mutter zu bangen. Am Tage nicht, da stürmte zu viel Neues auf sie ein. Da wurden ihre Gedanken anderweitig in Anspruch genommen. Nur des Abends fehlte ihr die Mutti. Zwar kam Großmama getreulich an ihr Bett und küßte das Enkelchen zärtlich. Aber die sagte: »Gute Nacht, mein Liebling«, oder auch »mein Herzchen«. Mutti aber pflegte ebenso wie Vater »meine Lotte« zu ihr zu sagen. Wie sehnte sich Nesthäkchen nach diesen beiden Worten, dem Kosenamen aus ihrer Kleinkinderzeit. Denn wenn Vater auch in seinen Karten an die Großmama »seine Lotte« grüßen ließ, das war doch ganz anders, als wenn Mutti sie dabei in ihre Arme nahm.

Mutti gab gar keine Nachricht. Nicht eine Zeile kam von ihr, so oft Annemarie auch schon an sie geschrieben hatte. Ja, hatte die Mutter sie in England bei den Feinden denn ganz vergessen?

Zuerst hatte Annemarie die Großmama gefragt und bestürmt. warum Mutti denn gar nichts mehr von ihnen wissen wollte. Aber als sie merkte, daß Großmama jedesmal dadurch traurig wurde, ja, daß sie sogar Tränen in den Augen hatte, fragte Nesthäkchen nicht mehr. Denn es wollte die gute Großmama nicht betrüben.

Dafür wandte sich Annemarie aber um so angelegentlicher an die Brüder. Hans, der Große, beruhigte das kleine Mädchen. Vielleicht blieben alle Briefe an der Grenze liegen und wurden überhaupt nicht in das feindliche Land hineingelassen. Das war eine sehr verständige Auskunft des Obersekundaners.

Klaus aber, in dessen Kopf der Krieg sämtliche Räubergeschichten, die er jemals gelesen, wieder aufgewirbelt hatte, wirkte weniger beruhigend auf das Schwesterchen.

»Paß auf, Annemie, Mutti ist bestimmt von unsern Feinden gefangen genommen worden. Am Ende haben die Engländer sie in ein finsteres Schloßverlies gesperrt, wo sie nicht mal Wasser und Brot kriegt. Aber wenn ich groß bin, Annemarie, dann reise ich nach England und befreie Mutti. Dann wirst du sie gar nicht mehr wiedererkennen, denn sie hat bestimmt weiße Haare vor Gram bekommen.«

Nesthäkchen machte entsetzte Augen. Hans aber lachte: »Schwindele doch der Kleinen nichts vor, Junge! Mutter ist sicherlich bei Onkel und Tante auf ihrem Landsitz und läßt sich das englische Roastbeef da schmecken.«

»Und wenn sie nicht mal Wasser und Brot in ihrem Felsverlies bekäme, dann wäre sie ja längst verhungert, bis du groß bist, Klaus«, fiel Annemarie ein.

Aber die Schauermär von Klaus hatte doch Eindruck auf die Kleine gemacht. Beim Abendbrot legte sie plötzlich die Gabel hin. Der Happen würgte sie im Halse. Trotzdem es ihr Leibgericht gab, Kartoffelpuffer mit Kompott.

»Herzchen, fehlt dir was?« forschte Großmama sofort ängstlich.

»Nee – nee – ich kann bloß nicht mehr essen«, Nesthäkchen begann plötzlich grundlos zu weinen.

Das war bei dem lustigen Ding fast ebenso merkwürdig wie die Appetitlosigkeit. Mit Recht machte sich Großmama Gedanken. Sie forschte und drang in das Kind, bekam aber keine andere Antwort als: »Mir ist ganz gut zumute, ich kann aber nicht mehr essen.«

Großmama, welche es mit der Verantwortung für die Enkelkinder in Abwesenheit der Eltern sehr ernst nahm, entschloß sich, an den Arzt, dem Vertreter ihres Schwiegersohnes, zu telephonieren und ihn zu bitten, möglichst noch am selben Abend nach dem Kinde zu sehen.

Der Arzt kam denn auch und wurde von der Großmama an Annemaries Bett geführt, denn das kleine Mädchen war bereits schlafen gegangen. Da versteckte sich ein tränenüberströmtes Gesichtchen in den Kissen.

»Herr Doktor, das Kind ist bestimmt krank, sicherlich hat es irgendwo Schmerzen. Warum sollte es denn sonst weinen! Es ist solch ein heiteres, kleines Mädel.« Die Großmama war ganz blaß vor Aufregung.

»Das wollen wir gleich feststellen. Na, nun sage mir mal, wo es dir weh tut, mein Kind.« Nesthäkchen, das Zeit ihres Lebens gewöhnt war, nur vom Vater behandelt zu werden, wenn es krank war, schüttelte den Blondkopf. Es schämte sich, daß der fremde Herr Doktor sah, daß es geweint hatte.

Der begann inzwischen eingehend zu untersuchen. Aber soviel er auch klopfte, horchte und befühlte, er konnte beim besten Willen nichts finden. Das kleine Mädchen war kerngesund.

»Welche Anzeichen haben Sie denn für die Krankheit, gnädige Frau?«

»Das Kind wollte nicht essen und hat geweint.«

»Hat sie gefiebert oder sich übergeben?«

Großmama schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht der Fall gewesen.

»Ich rate, die Kleine jedenfalls morgen im Bett zu lassen, vielleicht entwickelt sich irgendeine Kinderkrankheit. Leichte Kost, dreimal täglich Temperatur messen und vor Erkältung in acht nehmen«, verordnete der Arzt.

Das wurde Nesthäkchen aber nun doch zu bunt. Im Bett sollte sie bleiben, wo sie ganz gesund war! Nicht zur Strickstunde zu ihrem lieben Fräulein Hering gehen? Jawoll, daß Margot und ihre anderen Freundinnen mit ihrem Strumpf früher fertig wurden als sie! Und morgen sollte ja auch Fräulein kommen, die sie von der Bahn abholen wollte. Da sollte sie im Bett liegen? Nein, lieber besiegte sie ihre Scheu und sagte, weshalb sie geweint hatte.

»Ich bin ja nicht ein bißchen krank, Herr Doktor, ich hab' ja bloß nicht gegessen, weil – weil –« nun stockte Annemarie doch.

»Na, weshalb denn, mein Kind?« half der Arzt ihr aufmunternd ein.

»Weil – weil meine Mutti in England hungern muß und nicht mal Wasser und Brot hat«, kam es plötzlich wieder jämmerlich schluchzend heraus.

»Woher weißt du denn das, Herzchen, ist denn Nachricht gekommen?« Nun mußte die arme Großmama sich wieder um die ferne Tochter aufregen.

»Nee – Klaus hat es gesagt.«

Großmama atmete erleichtert auf.

»Klaus ist ein dummer Junge, daß er dir so etwas vorredet, und du bist ein ebenso dummes, kleines Mädchen, es zu glauben. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Doktor, daß ich Sie bei Ihrer vielen Arbeit umsonst herbemüht habe«, der alten Dame war die Sache recht peinlich.

Aber der Arzt beruhigte sie lachend.

»Ich freue mich, daß es umsonst gewesen ist, und daß das Töchterchen meines lieben Kollegen ganz gesund ist. Nun mache dir nur weiter keine Sorgen um die Mutter, mein Kind. So arg behandeln die Engländer Damen doch nicht, selbst wenn sie einer feindlichen Nation angehören. Grüße deinen Vater, wenn du an ihn schreibst, und sollte dir dein Bruder Klaus wieder mal derartiges erzählen, dann glaube ihm nur die Hälfte davon.« Der nette Herr Doktor nickte ihr noch einmal freundlich zu und verabschiedete sich von der Großmama.

So wurde Annemaries Strumpf am nächsten Tage fertig. Zwar fand Marianne, daß er mehr für Elefantenbeine als für Soldatenfüße geeignet wäre, aber die war sicher nur neidisch, daß sie noch nicht so weit war.

Annemarie aber stand gegen Abend mit Klaus auf dem Bahnhof, um ihr liebes Fräulein, das so viele Jahre für sie gesorgt, zu empfangen.

Fräulein kannte Nesthäkchen kaum wieder. Nein, war das Mädel in dem einen Jahr gewachsen, es war ja nicht viel kleiner als sie selbst. Und kräftig und rosig war das damals so blasse Dingelchen geworden, eine wahre Freude.

Aber zu Hause hatte Fräulein noch viel mehr Gelegenheit, über die Veränderung zu staunen, die mit Doktors Nesthäkchen vorgegangen. Wie ordentlich es im Kinderzimmer aussah, in dem Fräulein immer hatte nachräumen müssen. Und die Schubladen und Schränke, die Fräulein gleich ansehen mußte, waren ebenfalls schön aufgeräumt. Natürlich hatte Annemarie zum Empfang Großreinemachen in den nicht immer so schön aussehenden Kästen abgehalten.

Aber auch zum Haustöchterchen hatte sich Nesthäkchen in den letzten Wochen herausgebildet. Großmama war schon alt, die sollte nicht viel tun. Und die Hanne sorgte wohl für Essen und Trinken, aber daß ein Tisch hübscher aussah, wenn eine Blumenvase darauf stand, das wußte sie nicht. Annemarie aber hatte das im Kinderheim gelernt. Auch die Fußbank brachte sie für die Großmama herbei und fegte nach dem Essen die Krümel von dem Tisch, ohne daß man es sie erst hieß.

Noch eins fiel dem zurückkehrenden Fräulein erfreulicherweise auf – das gute Einvernehmen mit Bruder Klaus. Der große Weltkrieg hatte den Krieg, der stets früher in der Kinderstube zwischen den beiden getobt, ganz beendet. Frieden herrschte mitten im Kriege bei Doktor Brauns Sprößlingen.

Am erstaunlichsten aber war Fräulein, als Annemarie ihr voll Künstlerstolz ihren ersten, selbstgestrickten Strumpf zeigte. Soviel Ausdauer hatte sie dem Wildfang niemals zugetraut. Ja, was der Krieg alles zuwege brachte!

»Wenn ich den zweiten Strumpf fertig habe, dann häkele ich Ohrenklappen für unsere Soldaten, und Leibbinden stricken wir und Kopfschützer. Wir haben nämlich gar keine Schule, Fräulein, bloß Handarbeit bei Fräulein Hering, weil aus unserer Schule ein Lazarett gemacht ist. Und die Großen haben eine Verpflegungsabteilung eingerichtet. Beim Herrn Direktor kochen sie Suppen, und da schmieren und belegen sie auch Stullen für die Soldaten. Und mein Taschengeld, Fräulein, das tue ich alles in unsere Büchse fürs Rote Kreuz. Margot, Ilse und ich, wir sind zu Vertrauensschülerinnen von unserer Klasse gewählt worden, wir sammeln immer alles Geld ein. Und auch Speck und Wurst und Wolle: Großmama und Hanne haben mir auch schon eine Menge geschenkt.«

»Ei, Annemiechen, da muß ich wohl auch etwas stiften«, das gute Fräulein holte aus ihrem Koffer sogleich mehrere Pakete Strickwolle, die sie der beglückten Annemarie für ihre Sammlung überreichte.

»Danke – danke tausendmal, mein geliebtes, goldenes Fräulein. Nun habe ich bloß noch eine einzige Bitte, aber die kann ich nur ins Ohr sagen.«

»Was mag denn das bloß sein?«

»Ich möchte so schrecklich gern wie früher ›du‹ zu Ihnen sagen, Fräulein«, flüsterte Nesthäkchen.

»Aber das ist doch ganz selbstverständlich, Annemie«, lachte Fräulein. Sie hatte es noch gar nicht gemerkt, daß die Kleine eine direkte Anrede bisher vermieden hatte.

Nun erst war Annemaries Freude über Fräuleins Rückkunft ohne jede Einschränkung, denn es hatte ihr doch viel Kopfzerbrechen gemacht, ob Fräulein das vertrauliche Du von früher auch nicht übelnehmen würde. Jetzt würde ihr des Abends auch nicht mehr nach Mutti so bange sein, da Fräulein bei ihr im Zimmer schlief.

Eigentlich waren alle im Hause recht froh über Fräuleins Wiederkehr. Großmama fühlte ein Teil der schweren Verantwortung für die Kinder schwinden, und Hanne dachte: »Wenn die Russen doch nach Berlin kommen sollten, ist wenigstens ein handfestes Frauenzimmer mehr im Hause zur Verteidigung.«

Auch Hans sah in ihr die Erfüllung aller seiner Wünsche, wie abgerissene Knöpfe und geplatzte Nähte, mit denen er Großmama nicht immer kommen mochte. Nur Klaus und Puck blickten trübe in die Zukunft. Beide waren während der Kriegswochen ihre eigenen Wege gegangen. Die von Puck führten zu sämtlichen Sofas der Wohnung, auf denen er es sich in Abwesenheit der Besitzer bequem gemacht hatte. Großmama konnte nicht immer hinterher und ihn herunterjagen. Aber Fräulein würde ihn sicherlich auf den Trab bringen. Ähnliches dachte auch Klaus, der sich nur zu gern auf der Straße herumgetrieben hatte. Alle beide sahen in Fräuleins Erscheinen das Ende ihrer goldenen Freiheit.


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