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10. Kapitel. Vera.

Es regnete von morgens bis abends, tagelang, unaufhörlich. Echter, rechter Novemberregen. Die Straßen Berlins lagen blankgewaschen da, die Menschen hasteten, so schnell wie möglich wieder unter Dach zu kommen. Aber das Regengrau vermochte die siegesfreudige Stimmung der Bevölkerung nicht davonzuspülen. Keiner dachte an sich, wenn er bis auf die Haut durchnäßt heimkam, nur an die draußen.

»Unsere armen Soldaten im Schützengraben!« so seufzte fast ein jeder, wenn er in das ungemütliche Wetter hinausblickte. Und legte man sich des Abends in sein warmes Bett, während der Regen gegen das Fensterblech trommelte, dann gönnte man es sich nicht, daß man es so gut hatte, während die tapferen Verteidiger in den feuchten Erdhöhlen lagen.

Selbst Doktors Nesthäkchen kamen jetzt solche Gedanken, wenn sie sich in ihrer hübschen Kinderstube abends zur Ruhe legte. Es dachte dabei nicht nur an seinen Vater und an Onkel Heinrich, sondern an die vielen Tausende, die draußen freudig alle Entbehrungen auf sich nahmen.

Nesthäkchen war in diesen grauen Regentagen mit seinem Frohsinn wieder mal der Sonnenschein des Hauses. Wie notwendig brauchte Großmama denselben. Woran lag es nur, daß ihre Tochter Elsbeth nicht schrieb? Es kamen doch Briefe aus England herüber, bekannte Familien hatten welche erhalten. Warum schrieb nur sie nicht? Auch die Abreise war in den ersten Tagen nach Ausbruch des Krieges deutschen Frauen noch gestattet worden. Aus welchem Grunde war sie dort geblieben, wo es sie in dieser Zeit doch sicher doppelt heimgetrieben? Großmama zerbrach sich ihren alten, weißhaarigen Kopf und auch die Kinder ihren jungen. Nur daß es bei der Jugend nicht so nachhaltig war wie beim Alter.

Annemarie hatte auch jetzt eine große Menge anderes zu denken. Ihre Schule war aufs neue verlegt worden. Diesmal nach dem Norden der Stadt. Das war für die meisten Schülerinnen, wie für die Lehrer, die im Westen Berlins wohnten, recht unbequem. Aber fürs Vaterland stand man sogar gern eine Stunde früher auf. Soviel Zeit mußte auf den weiten Schulweg gerechnet werden.

Ganz dunkel war es des Morgens noch, wenn die beiden Freundinnen Margot und Annemarie sich auf den Schulweg machten. Hin und wieder brannten an den trüben Regentagen sogar noch die Gaslaternen auf der Straße. Eigentlich hätten sie eine halbe Stunde später aufbrechen können, denn sie bekamen von Hause jede zwanzig Pfennige zur Hin- und Rückfahrt mit der elektrischen Bahn. Doch die beiden kleinen Mädchen zogen es vor, bei dem schauderhaften Regenwetter zu Fuß zu gehen – die gesparten Groschen aber wanderten in die Schulkasse für die Weihnachtslazarettbescherung.

Fräulein mußte es natürlich auffallen, daß Annemarie zeitiger als notwendig von Hause fortging, und daß sie so spät heimkam. Auch daß ihr Lodenmantel triefte, war merkwürdig, da sie eigentlich die ganze Strecke fahren konnte.

Natürlich forschte Fräulein der Ursache nach, und die ehrliche Annemarie erzählte wahrheitsgemäß, wo ihre Fahrgroschen blieben.

»Aber nicht wahr, liebes Fräulein, du verbietest es mir nicht? Unsere Krieger ertragen mehr als das bißchen Regen für uns.«

Fräulein war nicht ihrer Meinung. »Ihr könnt euch auf den Tod erkälten, Annemiechen, wenn ihr mit feuchten Strümpfen und in den nassen Sachen den ganzen Vormittag in der Schule sitzt. Es genügt, wenn ihr bei trockenem Wetter den Groschen für die Verwundeten spart.« Dabei blieb es, trotz Nesthäkchens Bitten. Auch Margots Mutter hatte zum Glück die feuchten Wanderungen untersagt, so machten die Freundinnen nach wie vor den Schulweg gemeinsam.

Nicht nur die Gegend und das Gebäude, es hatte sich auch vieles andere in der Schule geändert. Von den jüngeren Lehrern waren jetzt fast alle einberufen, überall wurden Lehrerinnen statt ihrer angestellt. Zwei der Lehrer waren bereits gefallen, das hatten die Schulkinder tief empfunden. Da war wohl keins, das ein ganz reines Gewissen besaß, daß es nicht mal Unsinn in den Stunden getrieben oder die Lehrer nicht zufriedengestellt hatte. Wie gern hätte man jetzt, da es zu spät war, gut gemacht.

Aber auch der Schülerinnenkreis hatte manche Veränderung erfahren. Ostpreußenkinder, die mit ihren Eltern die Heimat verlassen mußten, waren eingeschult worden, manche auf Monate, manche nur auf Wochen. Aus Deutsch-Rußland und Polen waren viele deutsche Familien ausgewiesen oder geflüchtet, die ihre Kinder nun in Berlin in die Schule schickten.

Auch in die sechste Klasse war ein kleines Mädchen aus Czernowitz eingeschult worden. Es hieß Vera Burkhard und sprach, trotzdem der Vater Deutscher war, fast nur Polnisch. Ein bildhübsches Kind war es, mit langen, schwarzen Locken, zartem Gesichtchen und ängstlichen, blauen Augen. Das arme Ding kam sich ganz verlassen unter all den fremden Kindern vor. Von ihrer Sprache verstand es nur das Wenigste. Auch was die Lehrerinnen in der Stunde sagten, vermochte die kleine Vera nicht zu erfassen. Meistens saß sie gelangweilt während des Unterrichtes dabei, oder sie trieb inzwischen etwas anderes. Statt mitzuschreiben, malte sie Püppchen und Tiere auf ihr Löschblatt. Die Lehrerinnen konnten sie nicht mal tadeln, denn die Kleine verstand sie ja nicht.

Am schlimmsten aber erging es der kleinen Fremden in den Zwischenpausen. Wenn die andern Schülerinnen zusammen kicherten und lachten, wenn sie innig umschlungen oder zur langen Reihe eingehakt auf dem Schulhof auf und ab spazierten, dann stand Vera mit sehnsüchtigen Augen irgendwo allein in einer Ecke. Keins ging mit ihr von all den vielen Mädchen, keins forderte sie auf, an den lustigen Spielen im Hof teilzunehmen.

Wie kam es denn bloß, daß die kleine Vera so vereinsamt war, daß sich alle Kinder geflissentlich von ihr zurückhielten? Sie hatten doch sonst weiche, warme Herzen, die empfänglich waren für fremdes Unglück. Und Vera war doch eine kleine Heimatlose wie all die anderen, die vor den russischen Kosaken geflüchtet!

Gleich am ersten Tage war es gewesen. Da hatten Margot und Annemarie das fremde, kleine Mädchen, mit dem sie Mitleid hatten, aufgefordert, mit ihnen in der Pause zu gehen. Die Verständigung war auf die einfachste Art und Weise erfolgt. Von einer Seite hatte Annemarie, von der andern Margot den Arm der schwarzlockigen Vera durch den ihren gezogen, und dann hatten sie sich gegenseitig angelacht. Auch weiter wäre alles gut gegangen. Margot strich über das nette, grünschottische Kleid der neuen Freundin, zum Zeichen, daß es ihr gefiel, und Annemarie steckte ihr die Hälfte von der Schokolade, welche die gute Großmama ihr in die Frühstücksbüchse gelegt hatte, in den Mund. Dann sprachen die beiden Freundinnen Deutsch und Vera Polnisch. Natürlich verstanden sie sich nicht. Das war aber auch gar nicht nötig. Denn sie lachten sich halbtot über das Kauderwelsch.

Da kamen zwei große Mädchen aus der ersten Klasse, die ihr Haar schon aufgesteckt trugen, vorbei.

»Pfui, die gehen ja mit unseren Feinden Arm in Arm«, sagten sie ganz laut, als sie die fremde Sprache der Kleinen vernahmen.

Annemarie ließ erschreckt Veras Arm los. Gehörte diese wirklich zu Deutschlands Feinden? In Annemaries Köpfchen war ebensowenig Ordnung, wie öfters in ihren Schubladen. Russen und Polen waren darin lustig durcheinandergewirbelt, sie vermochte sie nicht auseinanderzuhalten. Nein, daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte! Wie schämte sich Annemarie, daß sie so ehrvergessend gewesen und mit der Polnisch sprechenden Vera Arm in Arm gegangen. Ein deutsches Mädchen war so wenig patriotisch!

Zum Glück war die Zwischenpause gerade zu Ende, so daß Vera vorläufig nichts von den verwandelten Gefühlen ihrer neuen Freundin ahnte.

»Sie ist doch polnisch und nicht russisch!« hatte Margot einzuwenden gewagt, als Annemarie, über und über errötend, ihr zuflüsterte, daß sie nie mehr mit der Vera Burkhard gehen dürften, da es ein Verrat am Vaterlande wäre!

»Das ist ja ganz dasselbe – spricht sie Deutsch? Na also! Alles, was nicht Deutsch spricht, gehört zu unseren Feinden«, stellte das dumme, kleine Mädel fest.

Margot wußte zwar als gute Schülerin ganz genau, daß Polen nicht dasselbe war wie Rußland. Aber sie war in ihrer sanften Art gewöhnt, sich der lebhaften Freundin unterzuordnen. Und Vera sprach doch wirklich nicht Deutsch!

Das war aber noch nicht alles. In der nächsten Stunde ging heimlich unter dem Tisch ein Zettel von Hand zu Hand. Nur zu der kleinen Fremden kam er nicht. Darauf stand: »Wer mit Vera Burkhard in den Pausen geht oder überhaupt mit ihr spricht, verrät sein Vaterland!«

Das wollte keine. Jedes der Kinder wollte so patriotisch wie nur irgend möglich sein. Trotzdem sich die meisten zu der hübschen, fremdartigen Vera hingezogen fühlten – denn alles Neue zieht Kinder an – nahmen sie sich fest vor, sie links liegen zu lassen. Kam doch der Zettel von Annemarie Braun, die stets tonangebend in der Klasse war. Und außerdem war sie Vertrauensschülerin und Kassiererin des Junghelferinnenbundes – nein, Annemaries Zettel mußte Folge geleistet werden, wenn man nicht vor der ganzen Klasse als Vaterlandsverräterin gelten wollte.

So wagten auch die, welche Mitleid mit dem verlassenen, kleinen Mädchen hatten, es nicht, freundlich gegen dasselbe zu sein. Vera war plötzlich ausgestoßen aus der Klassengemeinschaft.

Die, welche das alles verursacht hatte, Doktors Nesthäkchen, ahnte gar nicht, was für ein Unrecht es damit getan. Im Gegenteil – Annemarie war noch äußerst stolz darauf, ihre Klasse vor einem Vaterlandsverrat errettet zu haben.

In der nächsten großen Pause, nachdem jener verhängnisvolle Zettel die Runde gemacht hatte, stellte sich Vera mit freundschaftlicher Selbstverständlichkeit wieder bei Margot und Annemarie ein. Ihnen aus ihren schönen, tiefblauen Augen zulächelnd, wollte sie, wie in der vorigen Pause, ihren Arm in den der neuen Freundinnen schieben.

Margot ließ es in ihrer bescheidenen Art mit puterrotem Gesicht über sich ergehen, sie wagte keine Abweisung. Die temperamentvolle Annemarie aber riß sich mit blitzenden Augen los und rief so laut, daß es die ganze Klasse hören konnte: »Mit dir gehen wir nicht, du alte Feindin!«

Damit zog sie auch Margot schnell fort.

Diejenige, an welche die häßlichen Worte sich richteten, war die einzige, die sie nicht verstanden hatte! Aber daß das blonde, kleine Mädchen nichts Freundliches gesagt, das hatte Vera aus dem Ton der Stimme herausgehört. Auch die Art, wie sich Annemarie von ihr losgemacht, war so verletzend gewesen, daß jeder die Abweisung verstehen konnte, auch wenn er nicht Deutsch sprach. Dazu kamen die spöttischen Mienen der andern Kinder, denen Annemarie es deutlich gezeigt hatte, wie man sich seiner »Feinde« erwehren mußte.

So stand die arme Vera von nun an einsam und verlassen in allen Pausen abseits von der fröhlichen Gemeinschaft der andern. Mit sehnsüchtigen Augen blickte sie auf das muntere Treiben, auf die lustigen Spiele, von denen man sie ausschloß.

Sie zerbrach sich den Kopf, was sie der hübschen Annemarie, die ihr von all den Kindern am besten gefiel, bloß zuleide getan habe, daß sie plötzlich so unfreundlich zu ihr war. Vielleicht hatte sie irgend etwas mißverstanden, da sie doch nur so wenig Deutsch konnte. Auf jeden Fall wollte sie es noch mal versuchen, sie freundlicher zu stimmen.

Als Vera einige Tage darauf von ihrer Tante, bei der sie jetzt wohnte, einen besonders schönen Apfel mit in die Schule brachte, faßte sie schweren Herzens den Entschluß, sich von demselben zu trennen und ihn Annemarie zu schenken. Sicher würde sie dann wieder mit ihr gut werden.

»Da,« sagte sie, als Annemarie Braun an ihr vorüberging und mit ihrem Blick ein Loch in die Luft bohrte, nur um Vera nicht sehen zu müssen, »da – biete, nemmen Sie«, soviel hatte die Kleine inzwischen schon von der deutschen Sprache gelernt. Damit hielt Vera ihr den herrlichen, rotbackigen Apfel an den Mund.

Aber Annemarie stieß ihn so unsanft zur Seite, daß er der Kinderhand entsprang und unter den Klassenschrank rollte.

»Von dir nehme ich nichts geschenkt!« rief sie verächtlich.

Vera schossen die Tränen in die Augen, während sie sich bückte, um ihren Apfel aufzuheben. Die prächtige Frucht, über die sie sich so gefreut, schmeckte ihr jetzt gar nicht.

»Ich gehe nicht mehr in die Schule«, erklärte Vera zu Hause bei der Tante nach dieser schroffen Abweisung weinend. Trotzdem sie Deutsch sprechen sollte, gebrauchte sie, wenn sie erregt war, nur die polnische Sprache. Ihr Vater war meist auf Reisen gewesen, und die Dienstboten, denen Vera überlassen war, sprachen nur Polnisch.

Die Tante, eine Schwester ihres Vaters, verstand Polnisch. Sie war vor ihrer Verheiratung viel in Czernowitz im Hause ihres Bruders gewesen, da Veras Mutter, eine Polin, früh gestorben war. »Warum denn nur, Herzchen?« fragte sie ganz erstaunt.

»Die Kinder sind so häßlich zu mir – keins will mit mir gehen – ich will wieder nach Czernowitz zu meinen Freundinnen!« weinte die Kleine schmerzlich.

»Sprich Deutsch, Vera!« mahnte die Tante. »Wenn du stets nur Polnisch redest, verstehen dich die Kinder in der Schule nicht. Dann ist es erklärlich, daß sie nicht mit dir gehen mögen. Je schneller du Deutsch lernst, um so rascher wirst du dich mit ihnen anfreunden.« So tröstete die Tante.

War das wirklich nur der einzige Grund? Aber Annemarie und Margot waren doch in der ersten Pause, wo sie sich ebensowenig verständigt hatten, so nett mit ihr gewesen.

Auch ihr Vater, der als Freiwilliger gegen die Russen bei Augustow kämpfte, antwortete seinem Töchterchen auf ihren Klagebrief, sie müsse möglichst schnell die Sprache der Kinder erlernen, dann würde es sicherlich besser mit dem Verkehr werden. Nun gab sich Vera grenzenlose Mühe, sich die schwere deutsche Sprache zu eigen zu machen.

»Ist es nicht unrecht von uns, daß wir uns so abscheulich gegen Vera Burkhard benehmen?« sagte eines Tages Ilse Hermann zu ihrer Freundin Marlene Ulrich zweifelnd. »Sie kann doch eigentlich nichts dafür, daß ihre Mutter Polin war! Und ihr Vater soll ja Deutscher sein!«

Auch Marlene hatte schon Ähnliches gedacht. »Wollen wir sie auffordern, mit uns zu gehen?«

»Nee, dann ist Annemarie mit uns schuß, und alle Kinder halten uns für unpatriotisch!« Die gute Regung in den Herzen der beiden kleinen Mädchen wurde durch falsche Scham wieder erstickt.

Annemarie Braun trieb es am schlimmsten mit ihrer Feindschaft gegen die »Polnische«. Diesen Spitznamen hatten die bösen Mädel Vera angehängt. Sie fühlte die Verpflichtung, den andern mit »gutem Beispiel« voranzugehen.

Heute regnete es vom Himmel, was nur herunter wollte. Annemarie hatte keinen Schirm. Jeden Tag vergaß sie in ihrer Unbedachtsamkeit irgendwas anderes. Mal den Federkasten oder ein Heft, mal das Frühstück oder die Gummischuhe. Heute war es zur Abwechslung der Regenschirm. Sie hatte es zwar gleich morgens früh unten auf der Straße gemerkt, aber war in ihrer Sorglosigkeit nicht noch mal umgekehrt. Sie ging ja mit Margot Thielen, die hatte sicher einen Schirm, die vergaß nichts. Die nahm sie gern mit unter ihr Regendach, das war auch viel gemütlicher.

Nun mußte sich Margot aber unglücklicherweise gerade heute von der Schule aus mit ihrer Mutter treffen, die für ihr Töchterchen einen Wintermantel besorgen wollte.

»Bis mittags kann es lange aufhören zu regnen«, tröstete sich Annemarie.

Es hörte aber nicht auf, im Gegenteil, es regnete »kleine Schusterjungs«, wie der Berliner zu sagen pflegt.

Selbst Doktors Nesthäkchen, dem solche kleine Dusche nichts weiter auszumachen pflegte, war das ein bißchen zu toll. Es lief, so schnell es nur konnte, möglichst an den Hausmauern entlang, an denen die Balkone etwas Schutz gaben, zur Bahnhaltestelle.

Da hörte sie einen eiligen Schritt hinter sich, es hörte sich an, als ob jemand sie einholen wollte.

Annemarie wandte den Kopf. Ein Schulkind kam mit einem Regenschirm hinter ihr hergejagt. Der Schirm verbarg das Gesicht der Betreffenden. Annemarie blieb jedenfalls stehen und ließ das Mädchen näher kommen. Vielleicht war es aus ihrer Klasse, oder sie kannte es, daß sie es bitten konnte, sie bis zur Haltestelle mit unter ihren Schirm zu nehmen.

Der eilig laufende Regenschirm kam heran – ein zartgerötetes, feines Gesichtchen, von feuchten, schwarzen Locken umrahmt, ward unter braunem Ledersüdwester sichtbar – es war die »Polnische«.

Annemarie drehte ihr stracks den Rücken und hastete weiter in dem Regengepladder. Was fiel denn der ein, ihr nachzulaufen?

Trotz Annemaries Eile blieb ihr Vera dicht auf den Fersen, jetzt hatte sie den triefenden Blondkopf erreicht, nun lief sie dicht neben ihm her.

»Komm biete unterr meine Schirrm«, Vera hatte in kurzer Zeit durch ihren Fleiß erstaunliche Fortschritte im Deutschen gemacht. Nur das schnarrende Rr konnte sie sich nicht abgewöhnen. Deswegen wurde sie von den Mitschülerinnen oft verlacht.

Solche Dreistigkeit! Annemaries Augen blitzten vor Empörung.

»Mit dir gehe ich nicht unter einen Schirm, du – Polnische!« Da hatte sie doch tatsächlich dem armen Kind den Spitznamen an den Kopf geworfen.

Vera hatte zum Glück trotz ihrer Fortschritte im Deutschen die ganze Verachtung, die in diesen Worten lag, nicht begriffen. Nur soviel hatte sie verstanden, daß Annemarie Braun nicht mit ihr zusammen unter dem Schirm gehen wollte.

»Nemmen du ihm – ich haben Gummimantel, nicht werden serr naß«, damit hielt das gutherzige, kleine Mädel ihrer Feindin den eigenen Regenschirm hin.

Das Blut schoß Doktors Nesthäkchen ins Gesicht. Aber das war nicht mehr die Röte der Empörung, das war peinlichstes Schamgefühl. Zum erstenmal kam Annemarie ihre ganze Schlechtigkeit der »Polnischen« gegenüber zum Bewußtsein. Und zum Lohn dafür bot ihr Vera ihren eigenen Regenschirm an, wollte sie statt ihrer bei dem furchtbaren Regen naß werden!

Stumm schüttelte Annemarie den Blondkopf, sie brachte kein Wort, weder ein freundliches, noch ein unfreundliches über die Lippen. Dann lief sie, was sie nur konnte, davon zur Haltestelle.

Vera folgte langsam mit wehem Herzen.

Als die Elektrische endlich kam, war auch Vera am Halteplatz angelangt. Sie wohnte ebenfalls in Charlottenburg und fuhr täglich die weite Strecke.

Annemarie und Margot hatten es stets einzurichten gewußt, daß sie nie dieselbe Bahn mit der »Polnischen« benutzten. Heute stieg Vera hinter Annemarie ein.

Diese machte ein bitterböses Gesicht. Das galt aber eigentlich gar nicht Vera, sondern entsprang dem quälenden Gefühl, daß ihre Feindin, gegen die sie die ganze Klasse aufgehetzt, tausendmal besser war als sie selbst.

Die Bahn war überfüllt.

»Geht bis hinten an die Tür, Kinder«, sagte die Schaffnerin.

An Stelle der im Felde weilenden Männer taten jetzt fast in allen Bahnen Frauen den Dienst.

Da standen nun die beiden Feindinnen dicht nebeneinander in der überfüllten Bahn. Bei jeder Biegung, bei jedem Schleudern des Wagens flogen sie aneinander – beiden gleich unangenehm.

Annemarie hatte ihr Fahrgeld bezahlt. Auch Vera zog ihr Geldtäschchen hervor.

»Ich – ich haben nurr fünf Pfenniger«, stotterte sie, ängstlich in ihrem Täschchen herumsuchend – mußte sie nun aussteigen?

»Deine kleine Schulfreundin kann ja mal für dich auslegen«, meinte die Schaffnerin.

Vera sah Annemarie mit ihren schönen Augen bittend an.

Aber die kleine »Freundin« tat, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Unentwegt blickte sie zur Seite durch die bespritzte Scheibe, durch die man vor lauter Regengrau nichts sah.

Dabei spiegelte sich in Annemaries offenem Kindergesicht ein lebhafter Kampf wider. Sie hatte genügend Geld bei sich, sollte sie Vera, die ihr den eigenen Regenschirm geben wollte, nicht die fehlenden fünf Pfennige leihen? Wollte sie wirklich zulassen, daß sie bei dem scheußlichen Wetter aussteigen und zu Fuß gehen mußte?

Aber der »Polnischen« zu Hilfe kommen – nein, das durfte kein deutsches Mädchen tun! Das Gute in Annemaries Herzen, das beinahe schon die Oberhand gewonnen, verkroch sich wieder vor ihrer falschen Vaterlandsliebe.

»Hier ist das Geld für das kleine Mädchen«, eine freundliche Dame legte die fünf Pfennige zu.

»Danke serr«, mit zuckender Lippe flüsterte es Vera, während eine große Träne an ihren langen Wimpern blinkte.

Da machte die Elektrische eine unvermutete Wendung, die stehenden Fahrgäste bekamen einen starken Ruck. Annemarie wurde auf Vera geschleudert. Ob sie wollte oder nicht, in dem Bestreben, nicht zu fallen, klammerte sie sich mit beiden Händen an Veras Arm.

Nein, war das schrecklich! Die kleine Blonde brachte nicht einmal ein »Entschuldige« über die Lippen. Sie hastete aus der Bahn zu kommen, trotzdem die Haltestelle, die ihrer Wohnung zunächst lag, noch gar nicht erreicht war. Lieber wurde Annemarie bis auf die Haut naß, als daß sie noch länger neben der Feindin stand.

Merkwürdig – Doktors Nesthäkchen war heute gar nicht so von Herzen vergnügt wie sonst. Still und bedrückt ging es umher. Ihr häßliches Verhalten gegen Vera ließ keine Fröhlichkeit bei Annemarie aufkommen. Hatte sie recht gehandelt? Zum erstenmal wurde sie an sich selbst zweifelhaft. Und war doch immer so stolz auf ihre Vaterlandsliebe gewesen, welche die Feindin von jeder Gemeinschaft ausschloß.

Ob sie sich bei Großmama Rat in ihrer Bedrängnis holte? Ach, Großmamas warmherziges Wesen würde es gar nicht begreifen, daß man so schlecht zu einem anderen Kinde sein konnte. Nein, vor Großmamas gütigen, klaren Augen schämte sie sich.

Und Fräulein? Die würde ihr sicherlich auch unrecht geben, Annemarie fühlte es deutlich.

Wenn doch Mutti da gewesen wäre! Mutti würde sie verstehen und ihr helfen! Nesthäkchens Sehnsucht nach der fernen Mutter war noch niemals so stark gewesen wie an dem heutigen Tage.

Hans hatte Pfadfinderdienst. Aber Klaus steckte nebenan im Zimmer Fähnchen auf die große Kriegskarte. Er verfolgte jede Änderung in der Front mit einem Eifer, den er niemals seinen Schulbüchern gegenüber zeigte.

»Kläuschen,« Annemarie legte dem Bruder die Hand auf die Schulter, »du, ich muß mal was mit dir besprechen.«

Klaus ließ sich nicht stören, sein schwarz-weiß-rotes Fähnchen nach Ypern heranzuschieben.

»Haste was ausgefressen?« fragte er gleichmütig.

»Nee, das heißt, ich weiß nicht!«

Klaus sah sie ziemlich geringschätzig an. Na, das wußte er immer, wenn er was ausgefressen hatte.

»Ich habe dir doch von der ›Polnischen‹ in unserer Schule erzählt?« begann die Schwester wieder.

»Jawoll« – Klaus wurde aufmerksam. »Habt ihr sie vertobakt?«

»Nee, aber ich bin so gemein zu ihr. Heute hat sie mir ihren Regenschirm angeboten, und – und ich – ich habe nicht mal die fünf Pfennige in der Elektrischen für sie ausgelegt.« Annemarie wurde in Erinnerung daran wieder rot.

»Haste ganz recht getan – unsere Feinde sind gegen uns auch gemein, dann müssen wir es auch gegen sie sein!« Da hatte sich Nesthäkchen einen schlechten Ratgeber ausgesucht.

»Übrigens, Annemie, am Ende ist die überhaupt eine russische Spionin!« Klaus hatte nämlich augenblicklich die Spionenkrankheit. Jeden etwas fremdländisch aussehenden Menschen hielt er für einen Spion. Neulich hatte es ihm sogar eine Ohrfeige eingetragen, weil er einen Polizisten auf einen mit einem Amerikaner englisch sprechenden Herrn aufmerksam gemacht hatte. Der hatte sich, nachdem er sich ausgewiesen, zu Klaus umgedreht und ihm handgreiflich klar gemacht, daß dies eine echte deutsche Backpfeife war, die er ihm verabfolgte. »So, mein Junge, du wirst sobald nicht wieder jemand mit deinem Spionenverdacht lästig fallen!«

Aber Klaus war durch eine Ohrfeige noch lange nicht kuriert. Auch jetzt stand es bombenfest bei ihm, daß Annemaries »Polnische« eine Spionin sei.

Ob Klaus recht hatte? Dann war sie ja noch gar nicht abstoßend genug gegen Vera gewesen. Spione sind ehrlose Menschen, die für Geld Landesverrat üben, das hatte Hans ihr erst neulich erklärt. Und so eine sollte Vera sein? Das Bild des lieblichen, kleinen Mädchens tauchte vor Annemarie auf – nein, das war doch nicht denkbar! Aber stand jetzt nicht in allen Bahnen: »Soldaten! Vorsicht bei Gesprächen! Spionengefahr!«? Dann mußte es auch welche in Berlin geben. Warum sollte die polnisch sprechende Vera eigentlich keine sein? Es war ja auch so beruhigend, dies anzunehmen. Die Gewissensbisse, die Nesthäkchen den ganzen Tag wegen ihres häßlichen Benehmens Vera gegenüber gequält hatten, schwiegen im Augenblick.

Am nächsten Tage ging in der sechsten Klasse wiederum ein Zettel während der Geschichtsstunde heimlich unter dem Tisch herum, darauf stand: »Vorsicht bei Gesprächen! Spionengefahr!«

Jede in der Klasse wußte, wer damit gemeint war.


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