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9. Kapitel. Junghelferinnenbund.

Draußen tobte der Krieg in Ost und West weiter. Im Lande aber war man eifrig bemüht, die Wunden, die er schlug, zu heilen und das Elend, das er mit sich brachte, zu lindern. Die begeisterte Jugend beteiligte sich nicht nur an den Liebesgaben für die Truppen und Lazarette, sondern auch an dem schönen Werk der Kriegsfürsorge.

Die Schülerinnen des Schubertschen Lyzeums hatten sich zu einem Junghelferinnenbund zusammengeschlossen. Und die eigentliche Anregung dazu hatte Doktor Brauns Nesthäkchen gegeben, oder vielmehr sein eintägiger Pflegesohn.

Die Geschichte von dem armen kleinen Hindenburg kannte bald die ganze sechste Klasse. Jedes der Kinder hatte ungeheures Interesse für das der Elternliebe beraubte Würmchen.

Als Fräulein Hering in der Handarbeitsstunde, in der man Kniewärmer und Kopfschützer schon zu den Weihnachtspaketen strickte, in ihrer netten Art fragte, was die Schülerinnen nach Beendigung ihrer Strickerei gern arbeiten würden, rief es hier und da: »Jäckchen – Hemdchen – Wickeltücher.«

Das mußte die Lehrerin natürlich in höchstes Erstaunen setzen, denn bisher war in der Klasse nur für die Soldaten gearbeitet worden.

»Ja, was sollen denn unsere Feldgrauen bloß damit?« lachte sie.

»Es soll ja für Annemarie Brauns Ostpreußenkind sein,« rief Hilde Rabe, die dreisteste der Klasse.

Fräulein Hering ließ sich von Annemarie Bericht erstatten. Diese erzählte in ihrer freimütigen Art von der lebendigen Puppe, und daß dieselbe, weil sie der Großmama zuviel Radau gemacht habe, zur Portierfrau gewandert sei. »Aber ich besuche ihn täglich und sehe, wie's ihm geht, die Portierfrau ist sehr gut zu ihm.«

»Fünf Pfennige in die Fremdwortkasse, Hausmeister sagen wir jetzt«, ließen sich patriotische Stimmen vernehmen.

Annemarie Braun kramte errötend fünf einzelne Pfennige aus ihrer Tasche hervor, welche Marlene Ulrich in die von ihr verwaltete Kasse warf. Fräulein Hering aber, deren Mitleid erregt war, meinte nachdenklich: »Es ist hübsch von euch, daß ihr für den kleinen Findling nähen wollt. Aber mit Hemdchen und Jäckchen allein ist es nicht getan. Der Kleine wird noch vieles andere brauchen. Ich mache euch den Vorschlag, daß die sechste Klasse die Sorge für die Erziehung des Kindes, falls die Eltern unbekannt bleiben, übernimmt. Ich selbst will den Vorsitz führen und euch die Anleitung dazu geben. Könnt ihr wohl jeden Monat fünfundzwanzig Pfennige für das arme Ostpreußenkind mitbringen?«

»Ja – natürlich – das können wir sogar von unserem Taschengeld –« riefen die Schülerinnen begeistert durcheinander.

»Da kommt schon eine ganz nette Summe zusammen als Beihilfe der Erziehungskosten des Kindes. So gibt es noch unzählige arme kleine Kinder, welche der Krieg zu Waisen gemacht hat. Ich werde auch in allen anderen Klassen werben. Eine jede Klasse soll die Fürsorge für solch ein kleines Waisenkind übernehmen«, überlegte die menschenfreundliche Lehrerin.

»Wir wollen aber Annemaries Jungen – wir wollen Hindenburg behalten!« baten die Kinder.

»Wen wollt ihr?« Fräulein Hering glaubte, nicht recht gehört zu haben.

»Annemarie hat ihn Hindenburg genannt – – –«

Die Lehrerin lachte von Herzen.

»Wie bist du denn bloß auf diesen Namen gekommen, Annemarie?«

»Es ist der schönste Name, den es gibt«, antwortete die Kleine voller Begeisterung. »Aber jetzt heißt er leider Max oder vielmehr ›Mäxeken‹.«

Nun lachte die ganze Klasse.

»Wie nennen wir denn unsere neue Vereinigung nun, einen Namen muß unser Bund doch haben?« überlegte Fräulein Hering mit ihren Schülerinnen gemeinsam.

»Ostpreußenbund – Wickelkinderklub – Deutsche Mädel-Helferinnen – Deutsche Erziehungsgesellschaft –« so regneten die Vorschläge auf Fräulein Hering herunter.

Aber Fräulein Hering fand die Namen nicht recht geeignet.

»Wir wollen uns ›Junghelferinnenbund‹ nennen«, schlug sie vor. Und dabei blieb es.

Der »Junghelferinnenbund« nahm es mit seiner Aufgabe kolossal ernst. Eine jede bettelte daheim der Mutter an Kleinkinderwäsche ab, was sie nur erhielt. Und da die meisten keine so kleinen Geschwister mehr hatten, kam eine stattliche Zahl von Hemdchen, Jäckchen, Mützchen, Windeln und Steckkissen zusammen. Der kleine Ostpreußenflüchtling hätte danach eine Kinderaussteuer gehabt wie ein kleiner Prinz.

Dagegen aber erhob Fräulein Hering, die verständige Vorsitzende des Junghelferinnenbundes, aus verschiedenen Gründen Einspruch. Erstens hatte man die Pflicht, das Kind von Anfang an einfach und bescheiden zu erziehen. Zweitens gab es noch so unendlich viele ebenso hilfsbedürftige kleine Menschenkinder. Und drittens sollten ihre jungen Schülerinnen selbst für den kleinen Pflegling die Hände regen und ihren Fleiß ihm zugute kommen lassen. Das war entschieden wertvoller für die Entwicklung der jungen Seelen, als wenn gleich alles in Hülle und Fülle vorhanden war.

So erhielt der kleine »Max«, wie er jetzt endgültig hieß, nur einen Teil der Wäsche. Das übrige ging in die Findelhäuser, in die Kleinkinderkrippen und vor allem an das Ostpreußenkomitee, wo es so unendlich viel Not zu lindern gab.

Eine Handarbeitsstunde in der Woche gehörte dem Junghelferinnenbund. Die zweite nach wie vor der Verfertigung von Liebesgaben für die tapferen Krieger. Denn die durften keinesfalls zu kurz kommen.

Doktors Nesthäkchen war, was Handfertigkeit anbelangte, ein ziemlich ungeschicktes, kleines Mädel. Es wurde dem Wildfang alles viel schwerer als der weiblichen Margot, die jedes Ding ganz besonders zierlich und sauber ausführte. Aber Annemarie gab sich rührende Mühe, es der Freundin möglichst gleich zu tun. Nicht aus Ehrgeiz – nein, es war ja für »unsere Krieger«.

Wenn sie trotzdem öfters Schiffbruch mit ihren Wollerzeugnissen erlitt, so lag das sicherlich nicht an ihrem Eifer, nur an ihrer – Huschligkeit. Das erste Paar warmer Handschuhe, das Nesthäkchen zustande brachte, hatte zusammen nur neun Finger. Einen hatte es vergessen. Aber Annemarie hatte sofort einen Trost bei der Hand: »Es gibt sicherlich Soldaten, denen ein Finger abgeschossen worden ist. Die wollen doch auch Handschuhe tragen. Und ihr arbeitet bloß immer für die Gesunden!« So wies sie die Neckereien der Freundinnen mit Gemütsruhe ab.

Die Einlegesohlen, welche die Kinder mit einer Zwischensohle von Zeitungspapier für den Winterfeldzug gegen Rußland verfertigten, da sie besonders gut wärmten, zeigten bei Annemarie Braun Berg und Tal. Selbst Fräulein Hering, deren Liebling Annemarie war, konnte sich der Äußerung nicht enthalten: »Der arme Soldat, der auf deinen Sohlen herumlaufen muß, Annemarie! Der bekommt nach dem ersten Marsch Hühneraugen!«

Annemarie lachte mit der Klasse um die Wette, sowas nahm sie durchaus nicht übel.

Ihren Kniewärmer hatte sie oben und unten zusammengehäkelt, damit er nur recht schön warm sein sollte. Wenn die deutschen Soldaten auch überall vorwärtsstürmten und vor keinem Hindernis zurückschreckten, das sollte ihnen doch wohl schwer werden, sich zu Nesthäkchens Kniewärmern den Eingang zu erkämpfen. Da hieß es denn auftrennen und besser machen. Das tat das kleine Fräulein höchst ungern.

Für den Kopfschützer aber, den sie Onkel Heinrich sandte, bekam sie eine Feldpostkarte mit einem drolligen Gedicht. In diesem dankte Onkel Heinrich ihr innig, daß sie doch immerhin noch soviel Platz in dem Kopfschützer gelassen habe, daß er nicht ganz erstickt sei. Nur das Gehirn sei ihm auf einer Seite etwas eingedrückt worden. Das Gedicht, das Annemarie der jubelnden Klasse vorlas, schloß:

»Sollt's ein Kopfschützer auch sein,
ich trag' ihn als Strumpf am Bein.«

Dagegen schrieb Vater, den sie mit einer Leibbinde beglückt hatte, ob sein Nesthäkchen ihn für ein Nilpferd gehalten habe. Die Leibbinde sei von so gewaltigen Dimensionen, daß er sein ganzes Lazarett da noch mit hineinwickeln könne. Aber sonst waren Vaters Zeilen eigentlich nicht sehr vergnügt. Ihm selbst ging es trotz aller Anstrengung und all dem Traurigen, was er zu sehen bekam, ganz gut. Aber er machte sich heftige Sorgen um seine Frau, von der immer noch jede Nachricht ausstand.

Jeden Morgen lief Annemarie, meist barfuß und im Nachthemd, wie sie aus dem Bette sprang, an die Eingangstür, sobald sie die Briefschaften durch die Türklappe fallen hörte – stets umsonst. Kein Brief von Mutti war dabei, auch Großmamas Schreiben über Holland war bisher unbeantwortet geblieben.

Nesthäkchen gab ihrem Vatchen eine übermütige Schilderung ihrer Erlebnisse als »Wickelkindmutter«, um ihn froher zu stimmen. Sie erzählte ihm von dem Junghelferinnenbund, den sie in der Schule gegründet, und daß jetzt die ganze Klasse Mutterstelle bei dem kleinen Flüchtling vertrete.

Wie jubelte Annemarie, als der gute Vater ihr zwanzig Mark sandte, als Grundlage für die Kasse des Junghelferinnenbundes. Sie selbst war als ehemalige Pflegemutter zu dem Ehrenamt gewählt worden, diese Erziehungskasse zu verwalten und die Beiträge jeden Ersten des Monats einzusammeln. Das einzige Unangenehme dabei war, daß sie dabei sorgfältig über alle Beträge Buch führen mußte. Ohne Fräuleins Hilfe wäre Huschellieschen wohl niemals damit zustandegekommen.

Der Kinderwagen mit dem lustig strampelnden Mäxchen stand in der warmen Oktobersonne auf der Straße, als Annemarie und Margot heute in die Schule gingen. Da mußte natürlich haltgemacht werden.

»Margot, er hat mich eben bestimmt angelacht, er kennt mich schon.« Annemarie war überglücklich.

Freundin Margot, die peinlich pünktliche, hörte nicht mehr. Die lief schon voraus, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Annemarie aber konnte sich von ihrem kleinen Pflegling nicht so schnell trennen. Als sie sich endlich zum Weitergehen entschloß, holte sie Margot, trotzdem sie lange Schritte machte, nicht mehr ein.

Himmel – da schlug die Uhr schon drei, der Nachmittagsunterricht hatte bereits begonnen. Fräulein Drehmann würde mit Recht ärgerlich sein und ihre Entschuldigung, daß sie sich mit dem Pflegekind des Junghelferinnenbundes versäumt habe, nicht gelten lassen. Noch dazu schrieb man ja Klassenaufsatz!

Annemarie begann zu rennen. Ohne rechts und links zu blicken, lief sie in das rote Schulhaus, jagte die Treppe hinauf und öffnete die Tür zur sechsten Klasse.

Entsetzt prallte sie zurück.

Statt der über die Aufsatzhefte geneigten Mädchenköpfe sahen sie lachende Soldatenaugen an. Überall auf Bänken und Tischen hockten Feldgraue, putzten ihre Stiefel, bürsteten ihr Zeug und sangen dazu Vaterlandslieder.

Aber beim Anblick des bestürzten Blondkopfes verstummten dieselben. »Na, Fräuleinchen, willst du uns helfen?« schallte es ihr lachend entgegen.

Annemarie faßte sich an die Stirn. Hatte sie sich verlaufen, war sie in die unweit von der Volksschule gelegene Kaserne geraten? Nein, dort hing ja noch die Landkarte von Afrika, die sie gestern benutzt hatten.

»Wo sind denn bloß die Schülerinnen alle hingekommen, und wieso sind denn jetzt Soldaten hier?« Doktors sonst so schlaues Nesthäkchen fand sich heute durchaus nicht zurecht.

»Wir sind eure neuen Lehrer, wir sollen die kleinen Mädchen im Exerzieren eindrillen«, lachte ein Witzbold. Die anderen lachten mit. Einem aber, einem braven, älteren Landwehrmann, der selbst Kinder zu Hause hatte, tat das verdutzte kleine Mädel leid.

»Nee, Mäuschen, laß dir nichts weismachen. Die Schule ist Hals über Kopf zur Kaserne umgewandelt worden, weil nicht genügend Unterkunft war. Nu werden wir statt eurer hier fleißig sein ...«

»Ja – aber – wo sind denn bloß die andern?« Annemarie fing beinahe an zu weinen.

Die Leute zuckten die Achseln. »Wahrscheinlich wieder nach Haus gegangen. Ihr seid ja schon klug genug, Kinder – ach was, im Krieg braucht man überhaupt nichts zu lernen« – so scherzten sie durcheinander.

Doch der sonst so lustigen Annemarie war es heute ganz und gar nicht spaßig zumute. Das kam davon, daß sie sich so verweilt hatte. Aber wenn die Kinder nach Hause geschickt worden wären, hätte sie dieselben doch treffen müssen. Margot, die den gleichen Schulweg hatte, doch ganz bestimmt. Die Tränen, die das kleine Mädchen mit Gewalt zurückhielt, begannen jetzt doch zu fließen. Das Taschentuch mußte in Tätigkeit gesetzt werden. Wo nun hin?

Ringsum Soldaten. Aus allen Klassen, auf allen Korridoren klangen ihre Lieder. Unten im Hof, wo sich die Kinder sonst in den Pausen ergingen, wuschen sie am Brunnen ihre Drelljacken. Zögernd stand Doktors Nesthäkchen am Eingangstor. Sollte es einfach die Schule schwänzen und heimgehen? Bei all ihrem Übermut war Annemarie eine fleißige Schülerin, das brachte sie nicht fertig.

Langsam schlenderte sie der Ecke zu. Dort lag das Gymnasium der Brüder. Die waren längst aus der Schule.

Nanu – aus dem Schulhof klangen ja Stimmen, das summte und surrte doch genau so wie in der Zwischenstunde bei ihnen in der Schule. Dabei war doch heute Mittwoch, da hatten die Jungen keinen Nachmittagsunterricht. Neugierig versuchte das kleine Mädchen durch die geöffnete Haustür einen Blick in den Schulhof zu werfen.

Ja – waren denn das nicht blaue, rote und weiße Mädchenkleider, die da durch die Spalte schimmerten?

Annemarie pirschte sich aufgeregt näher heran.

Da fühlte sie sich plötzlich an ihrem Zöpfchen gepackt.

»Na, wer ergeht sich denn hier draußen, anstatt drin im Hof, wie es die Schulordnung vorschreibt?« Das war die heisere Stimme des alten Herrn Professor Herwig, der den Herrn Direktor vertrat.

Annemarie erschien seine wenig melodische Stimme wie Engelsgesang.

»Ach, Herr Professor, können Sie mir nicht sagen, wo unsere Schule hingekommen ist? Ich kann sie gar nicht finden, in allen Klassen sind Soldaten!« sagte Annemarie mit tiefem Knicks.

»Wo die Schule hingekommen ist?« – der Herr Professor lachte. »Das nenne ich aber in der Tat den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ja, hörst du denn nicht den Lärm der Zwischenstunde?« Der alte Herr machte eine Bewegung nach dem Hof hin.

»Hier sind wir jetzt?« Annemarie hätte in ihrer Seligkeit, am Ziel ihrer Irrfahrt angelangt zu sein, den alten Professor am liebsten umarmt.

»Auf ein paar Tage sind wir hier einquartiert, bis wir anderswo ein Obdach finden«, scherzte Professor Herwig, der das Glück deutlich aus den blauen Kinderaugen leuchten sah. »Aber sage mal,« setzte er ernst werdend hinzu, »wie kommt denn das, daß du nicht mit den andern hierher geführt worden bist – warst du von einer Stunde dispensiert?«

Wenn sie jetzt »ja« sagte, dann war die ganze peinliche Angelegenheit erledigt. Einen Moment schwankte Doktors Nesthäkchen, nur einen einzigen.

»Ich bin zu spät gekommen«, sagte es dann leise – Annemarie war ein ehrliches Kind.

»Siehst du, so bestraft sich das Versäumnis selbst«, sie kam noch glimpflich, ohne Strafpredigt davon.

Aber das Zuspätkommen sollte sich noch viel mehr strafen.

»Wie werden die Jungs sich wundern, daß ich jetzt auch in ihr Gymnasium gehe«, dachte Annemarie voll Stolz, als sie den Schulhof betrat.

Mit lautem Hallo wurde sie von ihren vier Freundinnen in Empfang genommen. Das gab des Lachens kein Ende, als sie in ihrer drolligen Art erzählte, daß sie den Soldaten einen Besuch abgestattet. Die anderen Schülerinnen hatten die Klassenräume gar nicht mehr betreten. Sie waren im Hof versammelt und dann in das benachbarte Gymnasium geführt worden. Die gute Margot war schon vor Aufregung vergangen, was nur aus Annemarie geworden.

Diese berichtete, wie niedlich der kleine Max noch gewesen, und daß er ganz hell aufgejauchzt habe.

»Er hat aber auch allen Grund, sich zu freuen, der kleine Bengel – mein Bruder Hans sagt, er wäre bereits ein Krösus. Vater hat uns nämlich einen Zwanzigmarkschein für unsere Junghelferinnenkasse gestiftet. Ich habe sie gleich mitgebracht, da Beträge über zehn Mark doch stets an Fräulein Hering abgeliefert werden sollen – da sind sie!« Großartig griff Annemarie in die Tasche ihres Kleides, um den Freundinnen den Schatz zu weisen.

Plötzlich wurde sie ganz blaß. Sie zog die Hand leer zurück.

»Mein Portemonnaie – mein kleines Muschelportemonnaie aus Wittdün, wo kann es bloß hin sein?« Fassungslos begann sie noch einmal in der Tasche zu suchen. »Ich habe es doch bestimmt noch gehabt, wie ich zur Schule ging. Beim Rennen fühlte ich es immer gegen mein Knie schlagen – – –« wieder begann das aufgeregte Suchen.

Mit entsetzten Augen standen die Freundinnen ringsum.

»Kehr' doch deine Tasche mal um, Annemarie«, riet Ilse Hermann.

Da kam ein zerdrücktes Taschentuch heraus, ein Kreisel, zwei Stücken Zucker, mehrere Bleistiftenden und ein winziger Gummiball – kein Muschelportemonnaie.

Doktors Nesthäkchen begann laut zu heulen. Schülerinnen aus allen Klassen sammelten sich neugierig um das schluchzende Kind.

»Wenn der Unterricht zu Ende ist, gehen wir noch mal in die Volksschule, vielleicht hast du's auf dem Wege verloren«, redete ihr die praktische Marlene gut zu. Während Margot einem solchen ungeheuren Verlust gegenüber kein Wort des Trostes fand.

»Ich hab' es sicher verloren, als ich mein Taschentuch dort in der Klasse herauszog«, jammerte das arme Ding. »Ach, was mache ich denn nun – es ist doch gar nicht mein Geld, es gehört doch dem Junghelferinnenbund!«

»Wenn du es noch nicht abgeliefert hattest und es von deinem Vater war, gehört es eigentlich noch dir«, überlegte Marianne. Allen tat die arme Annemarie schrecklich leid.

»Nee – nee – mir gehört es nicht – es gehört dem kleinen Ostpreußenmax!« begehrte Nesthäkchens Rechtlichkeitsgefühl auf. »Und nun habe ich das arme Würmchen, das weder Eltern noch Heimat hat, auch noch um sein erstes Vermögen gebracht!«

Mitten hinein in all den Jammer, alle die Ratschläge und all das Suchen gellte die Schulglocke, die zur Stunde rief.

»Bitte doch Fräulein Drehmann, ob du nicht erst dein Portemonnaie suchen darfst«, schlug Marianne vor.

»Wir schreiben doch jetzt Klassenaufsatz – die Stunden sind verlegt worden, weil zuviel Zeit mit dem Umzug verloren ging.« Es erschien der gewissenhaften Margot undenkbar, den Klassenaufsatz zu versäumen.

Auch Annemarie wies den Vorschlag von sich. Weniger aus Gewissenhaftigkeit, als um Fräulein Drehmann nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß sie zu spät zur Schule gekommen und die erste Stunde versäumt hatte.

Wo waren die stolzen Gefühle hin, mit denen Nesthäkchen das Gymnasium der Brüder betreten! Ganz geknickt schob sie sich hinter den Freundinnen her in die ihnen angewiesene Klasse.

Fräulein Drehmann schien in dem Tumult, den die Auswanderung der Schülerinnen mit sich gebracht hatte, Annemaries Fehlen in der ersten Stunde nicht beachtet zu haben. Sie begann sogleich mit dem Klassenaufsatz.

»Welche Opfer fordert der Krieg von uns Kindern?« hieß das Thema. In der ersten Viertelstunde besprach Fräulein Drehmann mit den Schülerinnen, die erst seit kurzem Aufsätze schrieben, den Inhalt der Arbeit. Sie ließ sich von ihnen selbst sagen, welche Opfer in den ersten Kriegsmonaten an sie herangetreten. Dann mußten die Kinder das Durchsprochene in netten Worten niederschreiben. Nicht mehr als höchstens vier Seiten durften es werden.

Konnte man es Annemarie verdenken, daß das eine Opfer, die zwanzig Mark, welches heute von ihr gefordert worden, ihre Gedanken derart in Anspruch nahm, daß sie vor Trauer darüber keinen einzigen Satz zu bilden vermochte? Sie verbarg das Gesicht hinter dem blonden Köpfchen der vor ihr sitzenden Ilse und befeuchtete ihr Heft anstatt mit Tinte, mit ihren Tränen.

»Du mußt doch anfangen, Annemarie,« wisperte ihr Margot zu. Auch Marlene puffte sie von der anderen Seite aufmunternd mit dem Ellenbogen.

Fräulein Drehmann wurde aufmerksam.

»Na, was haben denn die drei da oben in der Ecke? Jede hat streng für sich zu arbeiten. Ei, Annemarie, du weinst? Kommst du nicht mit dem Aufsatz zurecht, du hast doch schon ganz niedliche Arbeiten geschrieben?«

Die Lehrerin trat zur ersten Bank. Da sah sie mit Staunen, daß Annemaries Seite noch gänzlich unbeschrieben war.

»Ja, Annemarie, was soll denn das heißen, warum beteiligst du dich denn nicht?«

Annemarie vermochte nicht zu antworten, die Tränen würgten sie in der Kehle.

Marlene Ulrich gab die nötige Auskunft.

»Das kommt davon, wenn Kinder soviel Geld bei sich tragen, zwanzig Mark nimmt man doch nicht mit zur Schule«, Fräulein Drehmann war sehr ärgerlich.

»Ich wollte das Geld ja für den Junghelferinnenbund abliefern. Vater hatte es unserer Kasse geschenkt«, brachte Annemarie mühsam hervor.

»Mit Tränen machst du's nicht besser, Annemarie, da versäumst du im Gegenteil noch die augenblickliche Pflicht – sammle jetzt deine Gedanken und beginne den Aufsatz«, gebot Fräulein Drehmann.

Ach, das war leichter gesagt, als getan. Annemarie Braun pflegte sonst besonders im Aufsatz zu glänzen. Sie hatte eine lebhafte Phantasie, einen frischen Ton, und ihre Schreibweise war durch die regelmäßigen Briefe aus dem Kinderheim nach Hause ganz flott geworden. Heute aber wollte es gar nicht gehen. Annemarie druckste und druckste. Dabei hatte der Krieg von ihr doch schon mehr Opfer gefordert als von den andern Kindern, die allenfalls den Vater oder einen großen Bruder im Felde hatten. Sie aber hatte er von beiden Eltern getrennt – auch ihre Mutti war weit, weit fort ... Annemaries Gedanken lösten sich von dem kleinen Muschelportemonnaie und blieben bei Mutti haften. Da begann die Feder plötzlich über das Papier zu jagen, ohne Pause lief sie. All ihre Sehnsucht nach der Mutter, das größte Opfer, das der Krieg ihr bisher auferlegt, schrieb sich Annemarie von der Seele.

Margot, die sich jeden Satz zehnmal überlegte, und ihn dann womöglich wieder ausstrich, sah ganz erstaunt auf Annemaries unaufhörlich kritzelnde Feder. Lächelte sie jetzt nicht sogar unter Tränen – ja, Annemarie beschrieb gerade, wie sie vor einiger Zeit alle ihren Schlaf dem kleinen ostpreußischen Schreihals hatten opfern müssen – das war doch auch ein Opfer, das der Krieg ihr auferlegt hatte. Von dem kleinen Max zu den verlorenen zwanzig Mark war nur ein kleiner Schritt, mit ihrem heutigen schmerzlichen Opfer schloß sie den Aufsatz. Da war sie doch tatsächlich noch eher fertig geworden als die meisten.

»Brav, Annemarie,« lobte Fräulein Drehmann, »daß du dich bemüht hast, deine Gedanken auf die Pflicht zu richten. Nun werde ich dich beurlauben, damit du nochmals in der früheren Schule Nachforschungen anstellst.«

Annemarie knickste dankbar, stülpte die Matrosenmütze auf und stattete den Soldaten ihren zweiten Besuch ab. Die meisten machten gerade auf dem Hofe Laufübungen. Neugierig sah alles auf den puterroten kleinen Eindringling.

Der Unteroffizier fragte sie ziemlich barsch, was sie noch hier zu suchen habe.

»Mein Portemonnaie – mein kleines Muschelportemonnaie mit zwanzig Mark«, stieß die Kleine, die doch so leicht nicht einzuschüchtern war, ganz ängstlich hervor.

Da wurde die Miene des Unteroffiziers freundlicher.

»Leute, hat einer von euch ein Portemonnaie mit zwanzig Märkern gefunden?«

Keiner von all den vielen Soldaten. Nur der ältere Landwehrmann, der vorher schon so nett zu ihr gewesen, trat vor.

»Melde gehorsamst, daß die Kleine in der Klasse, in der wir einquartiert sind, vorhin gewesen ist und ihr Taschentuch herausgezogen hat; vielleicht ist es ihr dabei entfallen.«

»Gehen Sie mit, Müller, und suchen Sie mal nach«, befahl der Unteroffizier.

Annemarie atmete auf. Sie machte dem Herrn Unteroffizier ihren schönsten Knicks und trabte hinter dem netten Landwehrmann her.

Die Tische und Bänke waren bereits aus der Klasse herausgeräumt, Matratzenlager aufgeschlagen. Soviel die beiden auch suchten, das kleine Muschelportemonnaie blieb unsichtbar.

Schweren Herzens mußte Doktors Nesthäkchen sich entschließen, den Heimweg wieder anzutreten. Unterwegs nahm Annemarie sich vor, Großmama zu bitten, den Verlust dem Junghelferinnenbund aus der eigenen Sparkasse ersetzen zu dürfen. Das würde ihr Gewissen dem kleinen Flüchtling gegenüber entlasten.

Aber als Annemarie heimkam, lag mitten auf ihrem Kinderstubentisch das gesuchte und so heißbeweinte Muschelportemonnaie aus Wittdün mit den verlorengeglaubten zwanzig Mark für den Junghelferinnenbund. Das vergeßliche kleine Fräulein hatte es überhaupt nicht eingesteckt.


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